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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Vollkampf, nicht Scheinkampf

nennen pflegt, und den Schichten des Volks, die durch Handarbeit ihren Lebens¬
unterhalt verdienen, hat sich ein stillschweigender Kriegszustand gebildet; denn
auch die Gebildeten sehen ihren geistigen Besitz durch die wüste, gleichmachende
Tyrannei, die die Sozialdemokratie anstrebt, bedroht. Das gegenseitige Wohl¬
wollen der Stände ist im Verschwinden begriffen. Viele beginnen in jedem
Fabrikarbeiter einen Feind zu wittern, der uns unsre geistigen und weltlichen
Güter nehmen will. Der sozialdemokratische Arbeiter aber empfindet keine
Spur eines dankbaren Gefühls für das Gute, das ihm vielfach von feiten der
Besitzenden entgegengebracht wird." So Herr von Boguslawski. Wir glauben,
daß es ein vergeblicher Versuch wäre, gegen eine derartige, vom düstersten
Pessimismus überschattete Anschauung mit Gründen anzukämpfen, denu ein
Auge, das sich so sehr daran gewöhnt hat, durch schwarze Gläser zu sehen,
verschließt sich dem Licht. Das aber wollen wir nicht verschweigen, daß einige
der angeführten Sätze den vollen Beifall der Herren von Stumm und Vorster
finden werden, obschon der letztgenannte bekanntlich über die Stellung der Ge¬
bildeten zu den Forderungen der arbeitenden Klassen eine etwas andre Mei¬
nung hat. Wenn also Herr von Boguslawski mit dem Beifall der genannten
Herren und ihrer Gesinnungsgenossen zufrieden ist, so mag er darüber auit-
tiren, uns scheint sein Verdienst ebenso fraglich wie das eines Arztes, der
zu kuriren beginnt, ehe er die Natur der Krankheit erkannt hat.

Aus diesem Irrtum hinsichtlich des Wesens der sozialen Krankheit, aus
dieser verkehrten Diagnose, die das Anzeichen für das Übel selbst nimmt, er¬
klärt sich die Heilmethode des Verfassers, der von ihm empfohlne Vollkampf.
Für die Durchführung dieses Kampfes weist er auf eine Anzahl von Mitteln
hin, die er selbst in "direkte" und "indirekte" scheidet. Über die ersten können
wir uns kurz fassen. Denn so sehr man mit einigen seiner Vorschläge ein¬
verstanden sein mag -- wir denken dabei namentlich an die Anregung, Frauen
und Minderjährigen die Teilnahme an politischen Vereinen und Versamm¬
lungen zu verbieten --, so muß man doch hinsichtlich der übrigen zu dem
Schluß gelangen, daß an diesem Punkte Herr vou Boguslawski den Frei¬
herrn von Stumm nicht erreicht hat. Am guten Willen wirds freilich nicht
gefehlt haben, denn er leitet den betreffenden Abschnitt seines Buches mit den
nicht mißverständlichen Worten ein: "Vor allen Dingen keine Nadelstiche, denn
diese reizen, ohne zu nützen, sondern Keulenschläge!" Ohne uns zum so und
so vielten male in die Frage nach dem Wert und der Berechtigung einer der¬
artigen "Heilmethode einzulassen, wollen wir uns damit begnügen, zur Cha¬
rakteristik des Vollkampfs einige dieser Keulenschläge aufzuzählen: 1. Verbot
aller sozialdemokratischen Schriften, Zeitungen und Vereine; 2. gesetzliche Be¬
strafung jeder öffentlichen Vcrrufserkläruug; 3. strenge Bestrafung des Kontrakt¬
bruchs und der Aufreizung dazu; 4. Einführung der Verbannung und Ex-
patriirung der Rädelsführer bei sozialdemokratischen Umtrieben; S. Einführung


Vollkampf, nicht Scheinkampf

nennen pflegt, und den Schichten des Volks, die durch Handarbeit ihren Lebens¬
unterhalt verdienen, hat sich ein stillschweigender Kriegszustand gebildet; denn
auch die Gebildeten sehen ihren geistigen Besitz durch die wüste, gleichmachende
Tyrannei, die die Sozialdemokratie anstrebt, bedroht. Das gegenseitige Wohl¬
wollen der Stände ist im Verschwinden begriffen. Viele beginnen in jedem
Fabrikarbeiter einen Feind zu wittern, der uns unsre geistigen und weltlichen
Güter nehmen will. Der sozialdemokratische Arbeiter aber empfindet keine
Spur eines dankbaren Gefühls für das Gute, das ihm vielfach von feiten der
Besitzenden entgegengebracht wird." So Herr von Boguslawski. Wir glauben,
daß es ein vergeblicher Versuch wäre, gegen eine derartige, vom düstersten
Pessimismus überschattete Anschauung mit Gründen anzukämpfen, denu ein
Auge, das sich so sehr daran gewöhnt hat, durch schwarze Gläser zu sehen,
verschließt sich dem Licht. Das aber wollen wir nicht verschweigen, daß einige
der angeführten Sätze den vollen Beifall der Herren von Stumm und Vorster
finden werden, obschon der letztgenannte bekanntlich über die Stellung der Ge¬
bildeten zu den Forderungen der arbeitenden Klassen eine etwas andre Mei¬
nung hat. Wenn also Herr von Boguslawski mit dem Beifall der genannten
Herren und ihrer Gesinnungsgenossen zufrieden ist, so mag er darüber auit-
tiren, uns scheint sein Verdienst ebenso fraglich wie das eines Arztes, der
zu kuriren beginnt, ehe er die Natur der Krankheit erkannt hat.

Aus diesem Irrtum hinsichtlich des Wesens der sozialen Krankheit, aus
dieser verkehrten Diagnose, die das Anzeichen für das Übel selbst nimmt, er¬
klärt sich die Heilmethode des Verfassers, der von ihm empfohlne Vollkampf.
Für die Durchführung dieses Kampfes weist er auf eine Anzahl von Mitteln
hin, die er selbst in „direkte" und „indirekte" scheidet. Über die ersten können
wir uns kurz fassen. Denn so sehr man mit einigen seiner Vorschläge ein¬
verstanden sein mag — wir denken dabei namentlich an die Anregung, Frauen
und Minderjährigen die Teilnahme an politischen Vereinen und Versamm¬
lungen zu verbieten —, so muß man doch hinsichtlich der übrigen zu dem
Schluß gelangen, daß an diesem Punkte Herr vou Boguslawski den Frei¬
herrn von Stumm nicht erreicht hat. Am guten Willen wirds freilich nicht
gefehlt haben, denn er leitet den betreffenden Abschnitt seines Buches mit den
nicht mißverständlichen Worten ein: „Vor allen Dingen keine Nadelstiche, denn
diese reizen, ohne zu nützen, sondern Keulenschläge!" Ohne uns zum so und
so vielten male in die Frage nach dem Wert und der Berechtigung einer der¬
artigen „Heilmethode einzulassen, wollen wir uns damit begnügen, zur Cha¬
rakteristik des Vollkampfs einige dieser Keulenschläge aufzuzählen: 1. Verbot
aller sozialdemokratischen Schriften, Zeitungen und Vereine; 2. gesetzliche Be¬
strafung jeder öffentlichen Vcrrufserkläruug; 3. strenge Bestrafung des Kontrakt¬
bruchs und der Aufreizung dazu; 4. Einführung der Verbannung und Ex-
patriirung der Rädelsführer bei sozialdemokratischen Umtrieben; S. Einführung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/12>, abgerufen am 24.08.2024.