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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Sparsamkeit und Selbsthilfe

übersteigen wird. Wer da noch mit Vertrauen in die Zukunft des Zuckers
sieht, deu soll man als ein Wunderlichen des herrlichen Optimismus in
sechsundneunziggrüdigen Spiritus setzen und das ganze Jahr 1896 darin stehen
lassen. Deutschland, Österreich und Frankreich haben zur Ausfuhr zwischen
März und August dieses Jahres 1300000 Tons; im vorigen Jahre hatten
sie 730000 Tons. Also sind 570000 Tons in diesem Jahre zu viel vor¬
handen. Wohin damit? Der Verbrauch steigert sich nur ganz allmählich;
gegen das vorige Jahr ist er in Deutschland, Österreich, Frankreich, England
und Nordamerika in der Zeit vom 1. September bis 1. Februar nur um
17 000 Tons gestiegen/") Und 730000 Tons haben allein die obengenannten
drei Länder zu viel.

Alle Hoffnung der unglücklichen glücklichen Zuckerbesitzer stützt sich nun
darauf, daß man zur Vernunft kommen und weniger Rüben anbauen werde.
Das hofft der eine, und das hofft der andre. Aber es thut es weder der eine
noch der andre. Die aus dem Westen schelten aus den Osten, und umgekehrt,
und wenn das Jahr herum ist, sitzen wieder alle auf ihren Rüben und salzen
die süße Melasse mit Thränen bittrer Reue. Wo soll da mancher Landpfarrer
den Mut hernehmen, am Erntedankfest seiner Gemeinde Dankgebete für reiche
Ernte vorzubeten?

Warum es die an der Spitze der landwirtschaftlichen Bewegung stehenden
Herren nicht unternehmen, den Beweis dafür zu bringen, daß das ehrliche
Bedenken unsers Kaisers, es könnte den Arbeitern das Brot verteuert werden,
ohne weiteres zu zerstreuen ist, das ist mir unbegreiflich. In Berlin, in Ham¬
burg, in Breslau und überall kann ohne Mühe an der Hand der bestehenden
Vrvtpreise nachgewiesen werden, daß den Landleuten ein wesentlich höherer
Preis für das Getreide gezahlt werden kann, ohne daß das Brot auch nur
um ein Prozent teurer zu werden braucht. Das klingt ganz verwunderlich,
und wenn man die Gründe für eine solche Möglichkeit nicht aufsuchte, könnte
ja ein Kaufmann gar nicht daran glauben. Fürst Bismarck hat die Brotfrage
öfter erörtert, und er hat mit Recht und sicher nicht ohne Beweise behauptet,
daß der Getreidepreis auf den Brvtpreis gar keinen Einfluß habe. Mit andern
Worten: wenn die Bäcker das Mehl geschenkt bekommen, backen sie das Brot
und die Semmel doch nicht größer. Warum nun -- die führenden Herren Kanitz
und Genossen leben doch auch in einer großen Stadt und essen täglich Brot --
weisen sie auf diese merkwürdige Erscheinung nicht hin, oder noch richtiger,
warum nützen sie sie nicht zu ihrem Vorteil aus? Wer heißt es ihnen, auf
dem Wege des Suchens nach bessern Preisen beim Getreidehündler Halt zu
machen? Betreibt man in großem Maßstabe die Herstellung fertiger Fabrikate



*) Und das trotzdem, daß in allen größer" Städten in den letzten Jahren diese infamen,
bloß zur Näscherei verführenden Zmkerzengladen dutzendweise entstanden sind!
Sparsamkeit und Selbsthilfe

übersteigen wird. Wer da noch mit Vertrauen in die Zukunft des Zuckers
sieht, deu soll man als ein Wunderlichen des herrlichen Optimismus in
sechsundneunziggrüdigen Spiritus setzen und das ganze Jahr 1896 darin stehen
lassen. Deutschland, Österreich und Frankreich haben zur Ausfuhr zwischen
März und August dieses Jahres 1300000 Tons; im vorigen Jahre hatten
sie 730000 Tons. Also sind 570000 Tons in diesem Jahre zu viel vor¬
handen. Wohin damit? Der Verbrauch steigert sich nur ganz allmählich;
gegen das vorige Jahr ist er in Deutschland, Österreich, Frankreich, England
und Nordamerika in der Zeit vom 1. September bis 1. Februar nur um
17 000 Tons gestiegen/") Und 730000 Tons haben allein die obengenannten
drei Länder zu viel.

Alle Hoffnung der unglücklichen glücklichen Zuckerbesitzer stützt sich nun
darauf, daß man zur Vernunft kommen und weniger Rüben anbauen werde.
Das hofft der eine, und das hofft der andre. Aber es thut es weder der eine
noch der andre. Die aus dem Westen schelten aus den Osten, und umgekehrt,
und wenn das Jahr herum ist, sitzen wieder alle auf ihren Rüben und salzen
die süße Melasse mit Thränen bittrer Reue. Wo soll da mancher Landpfarrer
den Mut hernehmen, am Erntedankfest seiner Gemeinde Dankgebete für reiche
Ernte vorzubeten?

Warum es die an der Spitze der landwirtschaftlichen Bewegung stehenden
Herren nicht unternehmen, den Beweis dafür zu bringen, daß das ehrliche
Bedenken unsers Kaisers, es könnte den Arbeitern das Brot verteuert werden,
ohne weiteres zu zerstreuen ist, das ist mir unbegreiflich. In Berlin, in Ham¬
burg, in Breslau und überall kann ohne Mühe an der Hand der bestehenden
Vrvtpreise nachgewiesen werden, daß den Landleuten ein wesentlich höherer
Preis für das Getreide gezahlt werden kann, ohne daß das Brot auch nur
um ein Prozent teurer zu werden braucht. Das klingt ganz verwunderlich,
und wenn man die Gründe für eine solche Möglichkeit nicht aufsuchte, könnte
ja ein Kaufmann gar nicht daran glauben. Fürst Bismarck hat die Brotfrage
öfter erörtert, und er hat mit Recht und sicher nicht ohne Beweise behauptet,
daß der Getreidepreis auf den Brvtpreis gar keinen Einfluß habe. Mit andern
Worten: wenn die Bäcker das Mehl geschenkt bekommen, backen sie das Brot
und die Semmel doch nicht größer. Warum nun — die führenden Herren Kanitz
und Genossen leben doch auch in einer großen Stadt und essen täglich Brot —
weisen sie auf diese merkwürdige Erscheinung nicht hin, oder noch richtiger,
warum nützen sie sie nicht zu ihrem Vorteil aus? Wer heißt es ihnen, auf
dem Wege des Suchens nach bessern Preisen beim Getreidehündler Halt zu
machen? Betreibt man in großem Maßstabe die Herstellung fertiger Fabrikate



*) Und das trotzdem, daß in allen größer» Städten in den letzten Jahren diese infamen,
bloß zur Näscherei verführenden Zmkerzengladen dutzendweise entstanden sind!
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/118>, abgerufen am 26.08.2024.