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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Vollkampf, nicht Scheinkampf

dachte sich die Besatzung der Festung rein passiv, auf die sogenannte tote
Verteidigung sich beschränkend, insbesondre auf jeden kräftigen Ausfall ver¬
zichtend.

Als eine solche Festung nun erscheinen dem Verfasser heute der Staat
und die Gesellschaft in Deutschland. Schon habe der Angreifer, die Sozial¬
demokratie, an günstig gelegnen Punkten Batterien errichtet, die nicht nur die
Festungswerke beschossen, sondern ihre Kugeln auch gegen die Stadt selbst und
vor allem gegen hervorragende Gebäude, wie Kirchen, Schulen und Kasernen,
richteten. Das Schlimmste aber sei, daß die Verteidigung, matt und unent¬
schlossen, von jeder wirksamen Gegenmaßregel absehe, während sich unter der
Besatzung und der Einwohnerschaft eine schlaffe Auffassung der Pflichten, und
mehr als das, eine geradezu meuterische Gesinnung verbreite.

Ohne es zu wollen, erinnern wir uns bei dieser Schilderung an das im
vergangnen Jahr erschienene Buch des Geheimen Regierungsrath von Mcissow
"Reform oder Revolution," worin der nächste sozialdemokratische Pulses und
dessen Gelingen in so lebendigen Farben geschildert wurde, daß den Leser eine
Gänsehaut überlaufen mußte. Nun glauben wir nicht fehlzugehen, wenn wir
vermuten, daß Herr von Boguslawski über die geistreichen, aber auch nichts
als geistreichen Einfülle des unter die Kriegsschriftsteller geratnen Geheimrath
herzlich gelacht haben wird, weil er weiß, daß heute und in absehbarer Zeit
jeder gewaltsame Aufstand des vierten Standes in Strömen von Blut erstickt
werden würde. Wenn jedoch Herr von Boguslawski als das letzte und ein¬
zige Bollwerk, das den Staat gegen die sozialdemokratische Sturmflut zu
schützen vermöge, die Armee betrachtet, so zeigt er sich in einem Irrtum be¬
fangen, der in demselben Grunde wurzelt wie der des Herrn von Mcissow.
Der Geheimrat hält die gegenwärtige Lage deshalb für verzweifelt, weil er
die Armee unterschätzt, der General, weil er die übrigen staatserhaltenden
Mächte nicht mit ihrem vollen Wert in Rechnung stellt.

Herr von Boguslawski empfiehlt nun, den Gegner durch einen mit allen
Mitteln geführten Vollkampf zu schlagen, ehe das "letzte" Vollwerk unterwühlt
sei. Daß dieser Zeitpunkt nicht mehr fern sei, sucht er durch eine Beschreibung
des Gegners und seiner Kampfweise, sowie durch einen Blick auf seine Ent¬
wicklung zu zeigen. Zuerst soll uns eine Anzahl von Zitaten belehren, daß
die sozialdemokratische Agitation der siebziger Jahre auf einen gewaltsamen
Umsturz hingearbeitet habe. Ohne darauf einzugehen, ob dieser Beweis ge¬
lungen sei oder nicht, lenken wir die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein Ge¬
ständnis, dem wir am Schluß, in einem Verlornen Eckchen, begegnen. Hier
sagt Herr von Boguslawski: "Zur Charakteristik dieser gesamten Periode nach
dem Kriege darf dann freilich nicht vergessen werden, daß 1872 die sogenannte
Gründerzeit begann, von der aus die chronische Korruption eines großen Teils
der Geschäftswelt datirt, und die sich als wirksamste Bundesgenossin der Sozial-


Vollkampf, nicht Scheinkampf

dachte sich die Besatzung der Festung rein passiv, auf die sogenannte tote
Verteidigung sich beschränkend, insbesondre auf jeden kräftigen Ausfall ver¬
zichtend.

Als eine solche Festung nun erscheinen dem Verfasser heute der Staat
und die Gesellschaft in Deutschland. Schon habe der Angreifer, die Sozial¬
demokratie, an günstig gelegnen Punkten Batterien errichtet, die nicht nur die
Festungswerke beschossen, sondern ihre Kugeln auch gegen die Stadt selbst und
vor allem gegen hervorragende Gebäude, wie Kirchen, Schulen und Kasernen,
richteten. Das Schlimmste aber sei, daß die Verteidigung, matt und unent¬
schlossen, von jeder wirksamen Gegenmaßregel absehe, während sich unter der
Besatzung und der Einwohnerschaft eine schlaffe Auffassung der Pflichten, und
mehr als das, eine geradezu meuterische Gesinnung verbreite.

Ohne es zu wollen, erinnern wir uns bei dieser Schilderung an das im
vergangnen Jahr erschienene Buch des Geheimen Regierungsrath von Mcissow
„Reform oder Revolution," worin der nächste sozialdemokratische Pulses und
dessen Gelingen in so lebendigen Farben geschildert wurde, daß den Leser eine
Gänsehaut überlaufen mußte. Nun glauben wir nicht fehlzugehen, wenn wir
vermuten, daß Herr von Boguslawski über die geistreichen, aber auch nichts
als geistreichen Einfülle des unter die Kriegsschriftsteller geratnen Geheimrath
herzlich gelacht haben wird, weil er weiß, daß heute und in absehbarer Zeit
jeder gewaltsame Aufstand des vierten Standes in Strömen von Blut erstickt
werden würde. Wenn jedoch Herr von Boguslawski als das letzte und ein¬
zige Bollwerk, das den Staat gegen die sozialdemokratische Sturmflut zu
schützen vermöge, die Armee betrachtet, so zeigt er sich in einem Irrtum be¬
fangen, der in demselben Grunde wurzelt wie der des Herrn von Mcissow.
Der Geheimrat hält die gegenwärtige Lage deshalb für verzweifelt, weil er
die Armee unterschätzt, der General, weil er die übrigen staatserhaltenden
Mächte nicht mit ihrem vollen Wert in Rechnung stellt.

Herr von Boguslawski empfiehlt nun, den Gegner durch einen mit allen
Mitteln geführten Vollkampf zu schlagen, ehe das „letzte" Vollwerk unterwühlt
sei. Daß dieser Zeitpunkt nicht mehr fern sei, sucht er durch eine Beschreibung
des Gegners und seiner Kampfweise, sowie durch einen Blick auf seine Ent¬
wicklung zu zeigen. Zuerst soll uns eine Anzahl von Zitaten belehren, daß
die sozialdemokratische Agitation der siebziger Jahre auf einen gewaltsamen
Umsturz hingearbeitet habe. Ohne darauf einzugehen, ob dieser Beweis ge¬
lungen sei oder nicht, lenken wir die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein Ge¬
ständnis, dem wir am Schluß, in einem Verlornen Eckchen, begegnen. Hier
sagt Herr von Boguslawski: „Zur Charakteristik dieser gesamten Periode nach
dem Kriege darf dann freilich nicht vergessen werden, daß 1872 die sogenannte
Gründerzeit begann, von der aus die chronische Korruption eines großen Teils
der Geschäftswelt datirt, und die sich als wirksamste Bundesgenossin der Sozial-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/10>, abgerufen am 22.12.2024.