Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Dogma vom klassischen Altertum

Richtung von neuem in ihrer Herrschaft befestigt wurde. Gesner mit seinem
dem Modernen zugewandten Strebe" erscheint als raru, g.vis; von einer be¬
sondern Pflege der Muttersprache war nicht mehr die Rede, die Reformen
eines Ratichius und Comenius sind allem Anschein nach für immer begraben.
Selbst der nicht abzuleugnende Fortschritt darf nicht überschätzt werden, denn
trotz der Polemik wider die ÄvewreV nnroralivi erhebt sich kein einziger zur
höchsten Freiheit; Winckelmann überragt alle, doch selbst Justi wies auf seine
Schranke hin____ Es fehlt selbst da, wo sich die Anfänge von dem zeigen,
was später Nealphilolvgie genannt wurde, diejenige echte Kritik, welche ihr
Objekt ebenso mit dem Ideale wie mit allen übrigen der gleichen Gattung
vergleicht." Nerrlich mag hiermit im ganzen Recht haben, es ist aber die
gefährlichste aller Vorstellungen, die mit der Erkenntnis der Schranken eines
Geistes, der Mängel eines Werkes zugleich auch dessen Verdienst aufgehoben
glaubt, und mehr als einmal will es uns der leidenschaftlichen Beredsamkeit
des Verfassers gegenüber bedünken, als ob er dieser Vorstellung nicht ener¬
gisch genug Widerstand leistete.

Das zweite Buch des Nerrlichscheu Werkes schließt mit dem Satze: "Winckel-
manns Standpunkt, so hoch er sich über die übrigen erhebt, ist uicht frei von
Einwendungen. An Stelle der anfänglich zur Alleinherrscherin erhabnen Natur
setzt er sofort die Griechen; hinsichtlich ihrer Mustergiltigkeit aber erhalten wir
mehr Behauptungen als Beweise. Er erklärt die Schönheit entweder für un-
erforschlich oder sucht sie in unzureichender Weise zu definiren; auch da endlich,
wo er sich zum einzelnen wendet, vermögen wir ihm uicht zu folgen. Gesetzt
aber auch, der Beweis für die Mustergültigkeit der antiken Plastik sei erbracht,
so folgt daraus nichts (?) für das Lob des Altertums überhaupt. Denn daraus,
daß ein Volk unerreichbare Bildwerke besitzt, ergiebt sich nicht das mindeste
für die übrige Kunst, also auch nicht für die Dichtung. Gesetzt ferner, der
Schluß von der Plastik auf die Kunst sei gerechtfertigt, so blieb doch noch das
Verhältnis der Kunst zu den übrigen Äußerungen deS geistigen Lebens zu
erörtern, selbst wenn aber auch hier die Griechen Mustergiltig.es geschaffen
hätten, würde daraus noch nichts für die Römer folgen." Deutlich genug
geht aus diesen Worten, wie aus hundert andern Stellen des Buches hervor
daß wir, trotz der eifernden Polemik Nerrlichs gegen die lebentöteude, künst¬
lerische Nachahmung der Antike, den Hauptkern seiner Untersuchungen und Er¬
kenntnisse nicht in den ästhetischen Partien des Werkes zu suchen haben. Zwar
würde der feinsinnige Kenner antiker und neuer Dichtung, als der sich Nerrlich
erweist, der kunstbedürftige moderne Mensch, sobald es Ernst werden sollte,
schwere Bedenken tragen, mit Niebuhr "selbst in Moor und Heide unter freien
Bauern, die eine Geschichte haben, vergnügt zu leben und keine Kunst zu ver¬
missen," zwar verrät sich überall, daß ihm die Dichtung so unentbehrlich ist
wie die Lebensluft, aber die eigentliche Leidenschaft seiner streitbaren Darstellung


Das Dogma vom klassischen Altertum

Richtung von neuem in ihrer Herrschaft befestigt wurde. Gesner mit seinem
dem Modernen zugewandten Strebe» erscheint als raru, g.vis; von einer be¬
sondern Pflege der Muttersprache war nicht mehr die Rede, die Reformen
eines Ratichius und Comenius sind allem Anschein nach für immer begraben.
Selbst der nicht abzuleugnende Fortschritt darf nicht überschätzt werden, denn
trotz der Polemik wider die ÄvewreV nnroralivi erhebt sich kein einziger zur
höchsten Freiheit; Winckelmann überragt alle, doch selbst Justi wies auf seine
Schranke hin____ Es fehlt selbst da, wo sich die Anfänge von dem zeigen,
was später Nealphilolvgie genannt wurde, diejenige echte Kritik, welche ihr
Objekt ebenso mit dem Ideale wie mit allen übrigen der gleichen Gattung
vergleicht." Nerrlich mag hiermit im ganzen Recht haben, es ist aber die
gefährlichste aller Vorstellungen, die mit der Erkenntnis der Schranken eines
Geistes, der Mängel eines Werkes zugleich auch dessen Verdienst aufgehoben
glaubt, und mehr als einmal will es uns der leidenschaftlichen Beredsamkeit
des Verfassers gegenüber bedünken, als ob er dieser Vorstellung nicht ener¬
gisch genug Widerstand leistete.

Das zweite Buch des Nerrlichscheu Werkes schließt mit dem Satze: „Winckel-
manns Standpunkt, so hoch er sich über die übrigen erhebt, ist uicht frei von
Einwendungen. An Stelle der anfänglich zur Alleinherrscherin erhabnen Natur
setzt er sofort die Griechen; hinsichtlich ihrer Mustergiltigkeit aber erhalten wir
mehr Behauptungen als Beweise. Er erklärt die Schönheit entweder für un-
erforschlich oder sucht sie in unzureichender Weise zu definiren; auch da endlich,
wo er sich zum einzelnen wendet, vermögen wir ihm uicht zu folgen. Gesetzt
aber auch, der Beweis für die Mustergültigkeit der antiken Plastik sei erbracht,
so folgt daraus nichts (?) für das Lob des Altertums überhaupt. Denn daraus,
daß ein Volk unerreichbare Bildwerke besitzt, ergiebt sich nicht das mindeste
für die übrige Kunst, also auch nicht für die Dichtung. Gesetzt ferner, der
Schluß von der Plastik auf die Kunst sei gerechtfertigt, so blieb doch noch das
Verhältnis der Kunst zu den übrigen Äußerungen deS geistigen Lebens zu
erörtern, selbst wenn aber auch hier die Griechen Mustergiltig.es geschaffen
hätten, würde daraus noch nichts für die Römer folgen." Deutlich genug
geht aus diesen Worten, wie aus hundert andern Stellen des Buches hervor
daß wir, trotz der eifernden Polemik Nerrlichs gegen die lebentöteude, künst¬
lerische Nachahmung der Antike, den Hauptkern seiner Untersuchungen und Er¬
kenntnisse nicht in den ästhetischen Partien des Werkes zu suchen haben. Zwar
würde der feinsinnige Kenner antiker und neuer Dichtung, als der sich Nerrlich
erweist, der kunstbedürftige moderne Mensch, sobald es Ernst werden sollte,
schwere Bedenken tragen, mit Niebuhr „selbst in Moor und Heide unter freien
Bauern, die eine Geschichte haben, vergnügt zu leben und keine Kunst zu ver¬
missen," zwar verrät sich überall, daß ihm die Dichtung so unentbehrlich ist
wie die Lebensluft, aber die eigentliche Leidenschaft seiner streitbaren Darstellung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0083" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219085"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Dogma vom klassischen Altertum</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_245" prev="#ID_244"> Richtung von neuem in ihrer Herrschaft befestigt wurde. Gesner mit seinem<lb/>
dem Modernen zugewandten Strebe» erscheint als raru, g.vis; von einer be¬<lb/>
sondern Pflege der Muttersprache war nicht mehr die Rede, die Reformen<lb/>
eines Ratichius und Comenius sind allem Anschein nach für immer begraben.<lb/>
Selbst der nicht abzuleugnende Fortschritt darf nicht überschätzt werden, denn<lb/>
trotz der Polemik wider die ÄvewreV nnroralivi erhebt sich kein einziger zur<lb/>
höchsten Freiheit; Winckelmann überragt alle, doch selbst Justi wies auf seine<lb/>
Schranke hin____    Es fehlt selbst da, wo sich die Anfänge von dem zeigen,<lb/>
was später Nealphilolvgie genannt wurde, diejenige echte Kritik, welche ihr<lb/>
Objekt ebenso mit dem Ideale wie mit allen übrigen der gleichen Gattung<lb/>
vergleicht." Nerrlich mag hiermit im ganzen Recht haben, es ist aber die<lb/>
gefährlichste aller Vorstellungen, die mit der Erkenntnis der Schranken eines<lb/>
Geistes, der Mängel eines Werkes zugleich auch dessen Verdienst aufgehoben<lb/>
glaubt, und mehr als einmal will es uns der leidenschaftlichen Beredsamkeit<lb/>
des Verfassers gegenüber bedünken, als ob er dieser Vorstellung nicht ener¬<lb/>
gisch genug Widerstand leistete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_246" next="#ID_247"> Das zweite Buch des Nerrlichscheu Werkes schließt mit dem Satze: &#x201E;Winckel-<lb/>
manns Standpunkt, so hoch er sich über die übrigen erhebt, ist uicht frei von<lb/>
Einwendungen. An Stelle der anfänglich zur Alleinherrscherin erhabnen Natur<lb/>
setzt er sofort die Griechen; hinsichtlich ihrer Mustergiltigkeit aber erhalten wir<lb/>
mehr Behauptungen als Beweise. Er erklärt die Schönheit entweder für un-<lb/>
erforschlich oder sucht sie in unzureichender Weise zu definiren; auch da endlich,<lb/>
wo er sich zum einzelnen wendet, vermögen wir ihm uicht zu folgen. Gesetzt<lb/>
aber auch, der Beweis für die Mustergültigkeit der antiken Plastik sei erbracht,<lb/>
so folgt daraus nichts (?) für das Lob des Altertums überhaupt. Denn daraus,<lb/>
daß ein Volk unerreichbare Bildwerke besitzt, ergiebt sich nicht das mindeste<lb/>
für die übrige Kunst, also auch nicht für die Dichtung. Gesetzt ferner, der<lb/>
Schluß von der Plastik auf die Kunst sei gerechtfertigt, so blieb doch noch das<lb/>
Verhältnis der Kunst zu den übrigen Äußerungen deS geistigen Lebens zu<lb/>
erörtern, selbst wenn aber auch hier die Griechen Mustergiltig.es geschaffen<lb/>
hätten, würde daraus noch nichts für die Römer folgen." Deutlich genug<lb/>
geht aus diesen Worten, wie aus hundert andern Stellen des Buches hervor<lb/>
daß wir, trotz der eifernden Polemik Nerrlichs gegen die lebentöteude, künst¬<lb/>
lerische Nachahmung der Antike, den Hauptkern seiner Untersuchungen und Er¬<lb/>
kenntnisse nicht in den ästhetischen Partien des Werkes zu suchen haben. Zwar<lb/>
würde der feinsinnige Kenner antiker und neuer Dichtung, als der sich Nerrlich<lb/>
erweist, der kunstbedürftige moderne Mensch, sobald es Ernst werden sollte,<lb/>
schwere Bedenken tragen, mit Niebuhr &#x201E;selbst in Moor und Heide unter freien<lb/>
Bauern, die eine Geschichte haben, vergnügt zu leben und keine Kunst zu ver¬<lb/>
missen," zwar verrät sich überall, daß ihm die Dichtung so unentbehrlich ist<lb/>
wie die Lebensluft, aber die eigentliche Leidenschaft seiner streitbaren Darstellung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0083] Das Dogma vom klassischen Altertum Richtung von neuem in ihrer Herrschaft befestigt wurde. Gesner mit seinem dem Modernen zugewandten Strebe» erscheint als raru, g.vis; von einer be¬ sondern Pflege der Muttersprache war nicht mehr die Rede, die Reformen eines Ratichius und Comenius sind allem Anschein nach für immer begraben. Selbst der nicht abzuleugnende Fortschritt darf nicht überschätzt werden, denn trotz der Polemik wider die ÄvewreV nnroralivi erhebt sich kein einziger zur höchsten Freiheit; Winckelmann überragt alle, doch selbst Justi wies auf seine Schranke hin____ Es fehlt selbst da, wo sich die Anfänge von dem zeigen, was später Nealphilolvgie genannt wurde, diejenige echte Kritik, welche ihr Objekt ebenso mit dem Ideale wie mit allen übrigen der gleichen Gattung vergleicht." Nerrlich mag hiermit im ganzen Recht haben, es ist aber die gefährlichste aller Vorstellungen, die mit der Erkenntnis der Schranken eines Geistes, der Mängel eines Werkes zugleich auch dessen Verdienst aufgehoben glaubt, und mehr als einmal will es uns der leidenschaftlichen Beredsamkeit des Verfassers gegenüber bedünken, als ob er dieser Vorstellung nicht ener¬ gisch genug Widerstand leistete. Das zweite Buch des Nerrlichscheu Werkes schließt mit dem Satze: „Winckel- manns Standpunkt, so hoch er sich über die übrigen erhebt, ist uicht frei von Einwendungen. An Stelle der anfänglich zur Alleinherrscherin erhabnen Natur setzt er sofort die Griechen; hinsichtlich ihrer Mustergiltigkeit aber erhalten wir mehr Behauptungen als Beweise. Er erklärt die Schönheit entweder für un- erforschlich oder sucht sie in unzureichender Weise zu definiren; auch da endlich, wo er sich zum einzelnen wendet, vermögen wir ihm uicht zu folgen. Gesetzt aber auch, der Beweis für die Mustergültigkeit der antiken Plastik sei erbracht, so folgt daraus nichts (?) für das Lob des Altertums überhaupt. Denn daraus, daß ein Volk unerreichbare Bildwerke besitzt, ergiebt sich nicht das mindeste für die übrige Kunst, also auch nicht für die Dichtung. Gesetzt ferner, der Schluß von der Plastik auf die Kunst sei gerechtfertigt, so blieb doch noch das Verhältnis der Kunst zu den übrigen Äußerungen deS geistigen Lebens zu erörtern, selbst wenn aber auch hier die Griechen Mustergiltig.es geschaffen hätten, würde daraus noch nichts für die Römer folgen." Deutlich genug geht aus diesen Worten, wie aus hundert andern Stellen des Buches hervor daß wir, trotz der eifernden Polemik Nerrlichs gegen die lebentöteude, künst¬ lerische Nachahmung der Antike, den Hauptkern seiner Untersuchungen und Er¬ kenntnisse nicht in den ästhetischen Partien des Werkes zu suchen haben. Zwar würde der feinsinnige Kenner antiker und neuer Dichtung, als der sich Nerrlich erweist, der kunstbedürftige moderne Mensch, sobald es Ernst werden sollte, schwere Bedenken tragen, mit Niebuhr „selbst in Moor und Heide unter freien Bauern, die eine Geschichte haben, vergnügt zu leben und keine Kunst zu ver¬ missen," zwar verrät sich überall, daß ihm die Dichtung so unentbehrlich ist wie die Lebensluft, aber die eigentliche Leidenschaft seiner streitbaren Darstellung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/83
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/83>, abgerufen am 26.06.2024.