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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Stumme des Himmels

Alles, was sie sagt, hat nur die Wirkung, daß er noch wilder wird und die
Geliebte selbst mit Vorwürfen überschüttet. Da ist nicht zu helfen: Spiel¬
hagen möchte uns überzeugen, daß wir es hier mit einem Manne zu thun
haben, aber es ist nur der Schatten eines Mannes.

Ein stärkeres Rückgrat hat der Dichter seiner Heldin gegeben, wie sie
denn überhaupt, es ist das charakteristisch bei Spielhageu, den männlichem
Charakter hat. Aber wie sympathisch das auch berührt, so ist doch diese Stärke
nicht ausreichend, und je weniger sie es ist, um so Problematischer ist auch
die Erscheinung Eleonorens. Auf dem Satze, daß jeder gar nicht anders könne,
als das thun, was er als vernünftig erkannt habe, baut Kant seine Lehre vom
kategorischen Imperativ auf. Für den Roman Spielhagens wäre es wünschens¬
wert gewesen, wenn er sie als entscheidendes Gesetz in die Seele Eleonorens
Hütte legen wollen. Aber er hat es nicht gethan. Die Heldin schillert nur,
wenn ich so sagen darf, in den Farben dieses Gesetzes, nebenbei hat sie aller¬
hand andre Neigungen, die sie in gewissen Augenblicken zur tsmins lin as
siöols machen. Die Verbindung mit dem russischen Nihilisten Borykine ist
sür ihr Geschick entscheidend, der Brief, den er im letzten Augenblick vor ihrer
Vermählung mit dem Grafen Wendelin an sie schreibt und dessen Inhalt sie
Herrschaft über sich gewinnen läßt, treibt sie in Schmach und Tod.

Man könnte den Roman "Stumme des Himmels" auch eine Variation
über das Thema der freien Liebe nennen. Was wird da nicht alles über das
Recht des Einzelnen der Willkür der Menschensatzung gegenüber gesprochen!
Und doch mit wie wenig ausreichendem Grunde! Formelwesen kann das Leben
überwuchern und erstarren machen, aber dadurch wird nicht hinweggenommen,
daß in ihrem eigentlichen Wesen die Form deshalb etwas gutes ist, weil sich
zum besten der Gesamtheit das Zusammenleben der Menschen uach ihr richtet.
Die Ehe ist deshalb heilig und unantastbar, weil sie aus dem innersten Be¬
dürfnis der Menschen selbst hervorgegangen ist. So ist es nicht bloß im
Interesse der Kunst zu beklagen, daß Spielhagen dieser Frage gegenüber in
seinem Roman eine solche Stellung eingenommen hat. Wenn die Barone in
Hinterpommern in der von ihm geschilderten Weise mit der Heiligkeit der Ehe
ihr Spiel haben dürfen, dann können es die Genossen von der Sozialdemo¬
kratie auch. Es erhebt sich dann nur die Frage, von wem eigentlich der Um¬
sturz von Religion und Sitte ausgeht.


Arnold Folle


Stumme des Himmels

Alles, was sie sagt, hat nur die Wirkung, daß er noch wilder wird und die
Geliebte selbst mit Vorwürfen überschüttet. Da ist nicht zu helfen: Spiel¬
hagen möchte uns überzeugen, daß wir es hier mit einem Manne zu thun
haben, aber es ist nur der Schatten eines Mannes.

Ein stärkeres Rückgrat hat der Dichter seiner Heldin gegeben, wie sie
denn überhaupt, es ist das charakteristisch bei Spielhageu, den männlichem
Charakter hat. Aber wie sympathisch das auch berührt, so ist doch diese Stärke
nicht ausreichend, und je weniger sie es ist, um so Problematischer ist auch
die Erscheinung Eleonorens. Auf dem Satze, daß jeder gar nicht anders könne,
als das thun, was er als vernünftig erkannt habe, baut Kant seine Lehre vom
kategorischen Imperativ auf. Für den Roman Spielhagens wäre es wünschens¬
wert gewesen, wenn er sie als entscheidendes Gesetz in die Seele Eleonorens
Hütte legen wollen. Aber er hat es nicht gethan. Die Heldin schillert nur,
wenn ich so sagen darf, in den Farben dieses Gesetzes, nebenbei hat sie aller¬
hand andre Neigungen, die sie in gewissen Augenblicken zur tsmins lin as
siöols machen. Die Verbindung mit dem russischen Nihilisten Borykine ist
sür ihr Geschick entscheidend, der Brief, den er im letzten Augenblick vor ihrer
Vermählung mit dem Grafen Wendelin an sie schreibt und dessen Inhalt sie
Herrschaft über sich gewinnen läßt, treibt sie in Schmach und Tod.

Man könnte den Roman „Stumme des Himmels" auch eine Variation
über das Thema der freien Liebe nennen. Was wird da nicht alles über das
Recht des Einzelnen der Willkür der Menschensatzung gegenüber gesprochen!
Und doch mit wie wenig ausreichendem Grunde! Formelwesen kann das Leben
überwuchern und erstarren machen, aber dadurch wird nicht hinweggenommen,
daß in ihrem eigentlichen Wesen die Form deshalb etwas gutes ist, weil sich
zum besten der Gesamtheit das Zusammenleben der Menschen uach ihr richtet.
Die Ehe ist deshalb heilig und unantastbar, weil sie aus dem innersten Be¬
dürfnis der Menschen selbst hervorgegangen ist. So ist es nicht bloß im
Interesse der Kunst zu beklagen, daß Spielhagen dieser Frage gegenüber in
seinem Roman eine solche Stellung eingenommen hat. Wenn die Barone in
Hinterpommern in der von ihm geschilderten Weise mit der Heiligkeit der Ehe
ihr Spiel haben dürfen, dann können es die Genossen von der Sozialdemo¬
kratie auch. Es erhebt sich dann nur die Frage, von wem eigentlich der Um¬
sturz von Religion und Sitte ausgeht.


Arnold Folle


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[0653] Stumme des Himmels Alles, was sie sagt, hat nur die Wirkung, daß er noch wilder wird und die Geliebte selbst mit Vorwürfen überschüttet. Da ist nicht zu helfen: Spiel¬ hagen möchte uns überzeugen, daß wir es hier mit einem Manne zu thun haben, aber es ist nur der Schatten eines Mannes. Ein stärkeres Rückgrat hat der Dichter seiner Heldin gegeben, wie sie denn überhaupt, es ist das charakteristisch bei Spielhageu, den männlichem Charakter hat. Aber wie sympathisch das auch berührt, so ist doch diese Stärke nicht ausreichend, und je weniger sie es ist, um so Problematischer ist auch die Erscheinung Eleonorens. Auf dem Satze, daß jeder gar nicht anders könne, als das thun, was er als vernünftig erkannt habe, baut Kant seine Lehre vom kategorischen Imperativ auf. Für den Roman Spielhagens wäre es wünschens¬ wert gewesen, wenn er sie als entscheidendes Gesetz in die Seele Eleonorens Hütte legen wollen. Aber er hat es nicht gethan. Die Heldin schillert nur, wenn ich so sagen darf, in den Farben dieses Gesetzes, nebenbei hat sie aller¬ hand andre Neigungen, die sie in gewissen Augenblicken zur tsmins lin as siöols machen. Die Verbindung mit dem russischen Nihilisten Borykine ist sür ihr Geschick entscheidend, der Brief, den er im letzten Augenblick vor ihrer Vermählung mit dem Grafen Wendelin an sie schreibt und dessen Inhalt sie Herrschaft über sich gewinnen läßt, treibt sie in Schmach und Tod. Man könnte den Roman „Stumme des Himmels" auch eine Variation über das Thema der freien Liebe nennen. Was wird da nicht alles über das Recht des Einzelnen der Willkür der Menschensatzung gegenüber gesprochen! Und doch mit wie wenig ausreichendem Grunde! Formelwesen kann das Leben überwuchern und erstarren machen, aber dadurch wird nicht hinweggenommen, daß in ihrem eigentlichen Wesen die Form deshalb etwas gutes ist, weil sich zum besten der Gesamtheit das Zusammenleben der Menschen uach ihr richtet. Die Ehe ist deshalb heilig und unantastbar, weil sie aus dem innersten Be¬ dürfnis der Menschen selbst hervorgegangen ist. So ist es nicht bloß im Interesse der Kunst zu beklagen, daß Spielhagen dieser Frage gegenüber in seinem Roman eine solche Stellung eingenommen hat. Wenn die Barone in Hinterpommern in der von ihm geschilderten Weise mit der Heiligkeit der Ehe ihr Spiel haben dürfen, dann können es die Genossen von der Sozialdemo¬ kratie auch. Es erhebt sich dann nur die Frage, von wem eigentlich der Um¬ sturz von Religion und Sitte ausgeht. Arnold Folle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/653>, abgerufen am 22.07.2024.