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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

ganz protestantischen Gegend, hatte ich immer vor leeren Bänken zu predigen.
Einmal aber, als ich an einem schönen Sonntag Nachmittag eine Beerdigung
abhielt, ging die ganze protestantische Bauerschaft mit. Ich beschloß, die
Leichenrede in der Kirche zu halten, und diese war dicht gefüllt. Dieser un¬
gewohnte, erhebende Anblick begeisterte mich zu einigen Phrasen im Stile von
Vossuets org,ison8 tunvbi'S8, und da -- blieb ich schmählich stecken. Drittens
schärfte er uns die Wichtigkeit der Sö-meta, inckillerLnün, ein, des aus dem Ver¬
trauen auf Gott und dem Gehorsam gegen seinen Willen entspringenden Gleich¬
muth, der sich weder durch Glück und Unglück, noch durch Lob und Tadel,
namentlich nicht durch wirkliche oder scheinbare Erfolglosigkeit des Wirkens
und durch Nichtanerkennung erschüttern läßt, eine Eigenschaft, die nach Bartels
(Grenzboten Heft 10) die heutigen Litteraten gut brauchen konnten. Zmuzw
ist nun freilich die Indifferenz bei mir nicht geblieben; mit der Zeit entwickelte
sich eine ganz gewöhnliche Wurschtigkeit daraus, die sich dann später wieder
ein wenig philosophisch veredelte durch die Einsicht, wie wenig der Einzelne
im Weltgetriebe zu bedeuten hat, wie unabänderlich der Weltlauf ist, und daß
einem jeden seine Stellung darin angewiesen und das Maß seines Einflusses
zugemessen ist. Jedenfalls habe ich auf keiner der drei Entwicklungsstufen un¬
günstige Urteile übelgenommen, und manche originelle Wertschätzungen haben
mir aufrichtig Spaß gemacht. So traf ich einmal ein mir bis dahin un¬
bekanntes Gemeindemitglied im Wirtshause. Der Mann äußerte seine große
Freude über das Glück, meine persönliche Bekanntschaft zumachen, und sagte:
"Ach wie erbaue ich mich an Ihren herrlichen Predigten! Ich bin nämlich
taub und verstehe kein Wort. Da habe ich denn wahre Qualen ausgestanden
unter Ihrem Vorgänger, der mit seiner Quasselei gar nicht fertig wurde, aber
Sie machens so schon kurz!"

Vielleicht würde ich mir diese drei Eigentümlichkeiten auch ohne Lorinser
angeeignet haben; entsprächen sie nicht meiner Natur, so würden seine Mah¬
nungen kaum so nachhaltig gewirkt haben. Aber feste Gewohnheiten sind höchst
wertvoll für die Charakterbildung, und darum auch kräftige Anstöße zur An¬
nahme solcher Gewohnheiten. Solche Anstöße sind im Alumnen um so kräf¬
tiger, als der Vorsatz, gewisse Gewohnheiten anzunehmen, vor dem Angesicht?
Gottes, zwischen Himmel und Hölle gemacht wird, in den Exerzitien. die damals
Lorinser ebenfalls leitete; von diesen geistlichen Übungen hat der Spiritual eben
seinen Namen. Große Exerzitien wurden beim Eintritt und vor der Priester¬
weihe, kleinere, die nur zwei oder drei Tage dauerten, dreimal durchgemacht:
vor den niedern Weihen und vor der Übernahme des Subdiakouats und des
Diakonats. Das Wesen der ignatianischen Exerzitien hat Ranke in seiner Ge¬
schichte der römischen Päpste (6. Auflage) auf Seite 149 des ersten Bandes
nichtig dargestellt; was man dabei persönlich erlebt, darüber spricht man
natürlich nicht.


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

ganz protestantischen Gegend, hatte ich immer vor leeren Bänken zu predigen.
Einmal aber, als ich an einem schönen Sonntag Nachmittag eine Beerdigung
abhielt, ging die ganze protestantische Bauerschaft mit. Ich beschloß, die
Leichenrede in der Kirche zu halten, und diese war dicht gefüllt. Dieser un¬
gewohnte, erhebende Anblick begeisterte mich zu einigen Phrasen im Stile von
Vossuets org,ison8 tunvbi'S8, und da — blieb ich schmählich stecken. Drittens
schärfte er uns die Wichtigkeit der Sö-meta, inckillerLnün, ein, des aus dem Ver¬
trauen auf Gott und dem Gehorsam gegen seinen Willen entspringenden Gleich¬
muth, der sich weder durch Glück und Unglück, noch durch Lob und Tadel,
namentlich nicht durch wirkliche oder scheinbare Erfolglosigkeit des Wirkens
und durch Nichtanerkennung erschüttern läßt, eine Eigenschaft, die nach Bartels
(Grenzboten Heft 10) die heutigen Litteraten gut brauchen konnten. Zmuzw
ist nun freilich die Indifferenz bei mir nicht geblieben; mit der Zeit entwickelte
sich eine ganz gewöhnliche Wurschtigkeit daraus, die sich dann später wieder
ein wenig philosophisch veredelte durch die Einsicht, wie wenig der Einzelne
im Weltgetriebe zu bedeuten hat, wie unabänderlich der Weltlauf ist, und daß
einem jeden seine Stellung darin angewiesen und das Maß seines Einflusses
zugemessen ist. Jedenfalls habe ich auf keiner der drei Entwicklungsstufen un¬
günstige Urteile übelgenommen, und manche originelle Wertschätzungen haben
mir aufrichtig Spaß gemacht. So traf ich einmal ein mir bis dahin un¬
bekanntes Gemeindemitglied im Wirtshause. Der Mann äußerte seine große
Freude über das Glück, meine persönliche Bekanntschaft zumachen, und sagte:
„Ach wie erbaue ich mich an Ihren herrlichen Predigten! Ich bin nämlich
taub und verstehe kein Wort. Da habe ich denn wahre Qualen ausgestanden
unter Ihrem Vorgänger, der mit seiner Quasselei gar nicht fertig wurde, aber
Sie machens so schon kurz!"

Vielleicht würde ich mir diese drei Eigentümlichkeiten auch ohne Lorinser
angeeignet haben; entsprächen sie nicht meiner Natur, so würden seine Mah¬
nungen kaum so nachhaltig gewirkt haben. Aber feste Gewohnheiten sind höchst
wertvoll für die Charakterbildung, und darum auch kräftige Anstöße zur An¬
nahme solcher Gewohnheiten. Solche Anstöße sind im Alumnen um so kräf¬
tiger, als der Vorsatz, gewisse Gewohnheiten anzunehmen, vor dem Angesicht?
Gottes, zwischen Himmel und Hölle gemacht wird, in den Exerzitien. die damals
Lorinser ebenfalls leitete; von diesen geistlichen Übungen hat der Spiritual eben
seinen Namen. Große Exerzitien wurden beim Eintritt und vor der Priester¬
weihe, kleinere, die nur zwei oder drei Tage dauerten, dreimal durchgemacht:
vor den niedern Weihen und vor der Übernahme des Subdiakouats und des
Diakonats. Das Wesen der ignatianischen Exerzitien hat Ranke in seiner Ge¬
schichte der römischen Päpste (6. Auflage) auf Seite 149 des ersten Bandes
nichtig dargestellt; was man dabei persönlich erlebt, darüber spricht man
natürlich nicht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/645>, abgerufen am 23.07.2024.