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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

so wohlgefügten und durchsichtigen Gebilde verschmolzen, daß die Einführung
in diese (nach 1870 zerstörte) Ordnung, wo man bei jedem Schritt festen Boden
nnter den Füßen fühlte, Vergnügen bereitete. Bei den ältern Pfarrern, die
aus der rationalistischen Zeit stammten, und ihrem Anhang in den Gemeinden
war Sauer nicht beliebt; sie behaupteten, er schicke ihnen Fanatiker als Ka-
pläne. Sauer und Fanatismus! Aber freilich, heiligen Eifer wollte er ent¬
zünden, und in unedlem Naturen Pflegt der heilige Funke zum verheerenden
Brande oder zu einem Feuerwerk lächerlicher Sprühteufelchen zu werden. Er
wußte manche hübsche Anekdote zu erzählen von Kaplänen, die sich zur Recht¬
fertigung ihrer Dummheit auf ihn berufen hatten. Selbstverständlich warnte
er vorm Alkohol, und das einemal hatte er hinzugefügt: besonders wenn Sie
durch irgend eine Leidenschaft ohnehin erregt sind, dann trinken Sie um Gottes
willen nicht noch Wein dazu; haben Sie z. B. einmal mit dem Pfarrer Streit,
wie das ja vorkommt, und die Hitze, in die Sie geraten, erregt Ihnen Durst,
so trinken Sie hübsch Wasser. Ein Kaplan nun verwickelte sich bei Tisch in
einen Zank mit seinem Pfarrer. Plötzlich stürzt er das vor ihm stehende Glas
Wasser hinunter und ruft: Anna, ein Glas Wasser! Dies trinkt er ebenfalls
aus, schreit wieder: Anna, ein Glas Wasser! und so noch mehreremale. Der
Pfarrer sieht ihm verwundert zu und sagt endlich: Sie sind wohl verrückt ge¬
worden? Der antwortet: Ja, der Pater Rektor hat gesagt, wenn uns der Pfarrer
so ärgert, sollen wir viel Wasser trinken.

Spiritual war Dr. Franz Lorinser, ein Sohn jenes edeln Arztes, der
1836 durch sein Schriftchen: Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen den
Anstoß zu einer noch heute fortwirkenden wohlthätigen Bewegung gegeben und
später in der Bekämpfung des oberschlesischen Hungertyphus hervorragendes
geleistet hat. Franz Lorinser war unansehnlich von Gestalt, bescheiden und
weltnuinnisch fein im Benehmen, ein tüchtiger Musiker, in der Litteratur be¬
kannt als Übersetzer aus dem Spanischen und dem Sanskrit (Bhagavad-Gita)
und als Theologe Jesuit. Er hatte in dem von Jesuiten geleiteten Lollsginru.
8'Ming.nivuin zu Rom studirt, sich längere Zeit in Spanien aufgehalten, trug
uns die Moral nach Gury vor und empfahl uns die Summa des Thomas
von Aquino als Norm für unsre Studien. Es wird den Lesern nicht an¬
genehm sein -- aber da das in diesem Zusammenhange nicht zu umgebende
Geständnis, daß ich selbst zu deu durch die Jesuitenmoral verdorbnen gehöre,
nun einmal heraus ist, so bleibt doch wohl nichts übrig, als ein paar Worte
über das breuzliche Thema zu sagen. Das entscheidende liegt in dein Um¬
stände, daß die "Jesuitenmoral" gar keine Moral ist -- was man gewöhnlich
unter Moral versteht. Gury, Liguori und die berüchtigten Kasuisten sind weder
dazu bestimmt, die Priesteramtskandidaten in der Moral zu unterrichten, noch
sind sie Anweisungen für den Moralnnterricht des Volkes und der Jugend.
Wie die Jesuiten die Sittenlehre im Volksunterricht behandeln, kann man im


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

so wohlgefügten und durchsichtigen Gebilde verschmolzen, daß die Einführung
in diese (nach 1870 zerstörte) Ordnung, wo man bei jedem Schritt festen Boden
nnter den Füßen fühlte, Vergnügen bereitete. Bei den ältern Pfarrern, die
aus der rationalistischen Zeit stammten, und ihrem Anhang in den Gemeinden
war Sauer nicht beliebt; sie behaupteten, er schicke ihnen Fanatiker als Ka-
pläne. Sauer und Fanatismus! Aber freilich, heiligen Eifer wollte er ent¬
zünden, und in unedlem Naturen Pflegt der heilige Funke zum verheerenden
Brande oder zu einem Feuerwerk lächerlicher Sprühteufelchen zu werden. Er
wußte manche hübsche Anekdote zu erzählen von Kaplänen, die sich zur Recht¬
fertigung ihrer Dummheit auf ihn berufen hatten. Selbstverständlich warnte
er vorm Alkohol, und das einemal hatte er hinzugefügt: besonders wenn Sie
durch irgend eine Leidenschaft ohnehin erregt sind, dann trinken Sie um Gottes
willen nicht noch Wein dazu; haben Sie z. B. einmal mit dem Pfarrer Streit,
wie das ja vorkommt, und die Hitze, in die Sie geraten, erregt Ihnen Durst,
so trinken Sie hübsch Wasser. Ein Kaplan nun verwickelte sich bei Tisch in
einen Zank mit seinem Pfarrer. Plötzlich stürzt er das vor ihm stehende Glas
Wasser hinunter und ruft: Anna, ein Glas Wasser! Dies trinkt er ebenfalls
aus, schreit wieder: Anna, ein Glas Wasser! und so noch mehreremale. Der
Pfarrer sieht ihm verwundert zu und sagt endlich: Sie sind wohl verrückt ge¬
worden? Der antwortet: Ja, der Pater Rektor hat gesagt, wenn uns der Pfarrer
so ärgert, sollen wir viel Wasser trinken.

Spiritual war Dr. Franz Lorinser, ein Sohn jenes edeln Arztes, der
1836 durch sein Schriftchen: Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen den
Anstoß zu einer noch heute fortwirkenden wohlthätigen Bewegung gegeben und
später in der Bekämpfung des oberschlesischen Hungertyphus hervorragendes
geleistet hat. Franz Lorinser war unansehnlich von Gestalt, bescheiden und
weltnuinnisch fein im Benehmen, ein tüchtiger Musiker, in der Litteratur be¬
kannt als Übersetzer aus dem Spanischen und dem Sanskrit (Bhagavad-Gita)
und als Theologe Jesuit. Er hatte in dem von Jesuiten geleiteten Lollsginru.
8'Ming.nivuin zu Rom studirt, sich längere Zeit in Spanien aufgehalten, trug
uns die Moral nach Gury vor und empfahl uns die Summa des Thomas
von Aquino als Norm für unsre Studien. Es wird den Lesern nicht an¬
genehm sein — aber da das in diesem Zusammenhange nicht zu umgebende
Geständnis, daß ich selbst zu deu durch die Jesuitenmoral verdorbnen gehöre,
nun einmal heraus ist, so bleibt doch wohl nichts übrig, als ein paar Worte
über das breuzliche Thema zu sagen. Das entscheidende liegt in dein Um¬
stände, daß die „Jesuitenmoral" gar keine Moral ist — was man gewöhnlich
unter Moral versteht. Gury, Liguori und die berüchtigten Kasuisten sind weder
dazu bestimmt, die Priesteramtskandidaten in der Moral zu unterrichten, noch
sind sie Anweisungen für den Moralnnterricht des Volkes und der Jugend.
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[0642] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome so wohlgefügten und durchsichtigen Gebilde verschmolzen, daß die Einführung in diese (nach 1870 zerstörte) Ordnung, wo man bei jedem Schritt festen Boden nnter den Füßen fühlte, Vergnügen bereitete. Bei den ältern Pfarrern, die aus der rationalistischen Zeit stammten, und ihrem Anhang in den Gemeinden war Sauer nicht beliebt; sie behaupteten, er schicke ihnen Fanatiker als Ka- pläne. Sauer und Fanatismus! Aber freilich, heiligen Eifer wollte er ent¬ zünden, und in unedlem Naturen Pflegt der heilige Funke zum verheerenden Brande oder zu einem Feuerwerk lächerlicher Sprühteufelchen zu werden. Er wußte manche hübsche Anekdote zu erzählen von Kaplänen, die sich zur Recht¬ fertigung ihrer Dummheit auf ihn berufen hatten. Selbstverständlich warnte er vorm Alkohol, und das einemal hatte er hinzugefügt: besonders wenn Sie durch irgend eine Leidenschaft ohnehin erregt sind, dann trinken Sie um Gottes willen nicht noch Wein dazu; haben Sie z. B. einmal mit dem Pfarrer Streit, wie das ja vorkommt, und die Hitze, in die Sie geraten, erregt Ihnen Durst, so trinken Sie hübsch Wasser. Ein Kaplan nun verwickelte sich bei Tisch in einen Zank mit seinem Pfarrer. Plötzlich stürzt er das vor ihm stehende Glas Wasser hinunter und ruft: Anna, ein Glas Wasser! Dies trinkt er ebenfalls aus, schreit wieder: Anna, ein Glas Wasser! und so noch mehreremale. Der Pfarrer sieht ihm verwundert zu und sagt endlich: Sie sind wohl verrückt ge¬ worden? Der antwortet: Ja, der Pater Rektor hat gesagt, wenn uns der Pfarrer so ärgert, sollen wir viel Wasser trinken. Spiritual war Dr. Franz Lorinser, ein Sohn jenes edeln Arztes, der 1836 durch sein Schriftchen: Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen den Anstoß zu einer noch heute fortwirkenden wohlthätigen Bewegung gegeben und später in der Bekämpfung des oberschlesischen Hungertyphus hervorragendes geleistet hat. Franz Lorinser war unansehnlich von Gestalt, bescheiden und weltnuinnisch fein im Benehmen, ein tüchtiger Musiker, in der Litteratur be¬ kannt als Übersetzer aus dem Spanischen und dem Sanskrit (Bhagavad-Gita) und als Theologe Jesuit. Er hatte in dem von Jesuiten geleiteten Lollsginru. 8'Ming.nivuin zu Rom studirt, sich längere Zeit in Spanien aufgehalten, trug uns die Moral nach Gury vor und empfahl uns die Summa des Thomas von Aquino als Norm für unsre Studien. Es wird den Lesern nicht an¬ genehm sein — aber da das in diesem Zusammenhange nicht zu umgebende Geständnis, daß ich selbst zu deu durch die Jesuitenmoral verdorbnen gehöre, nun einmal heraus ist, so bleibt doch wohl nichts übrig, als ein paar Worte über das breuzliche Thema zu sagen. Das entscheidende liegt in dein Um¬ stände, daß die „Jesuitenmoral" gar keine Moral ist — was man gewöhnlich unter Moral versteht. Gury, Liguori und die berüchtigten Kasuisten sind weder dazu bestimmt, die Priesteramtskandidaten in der Moral zu unterrichten, noch sind sie Anweisungen für den Moralnnterricht des Volkes und der Jugend. Wie die Jesuiten die Sittenlehre im Volksunterricht behandeln, kann man im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/642>, abgerufen am 22.07.2024.