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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen ZVeltpolitik

hältnis Englands und Rußlands? Nur in England kann man ihr noch immer
ein so großes Gewicht beilegen, weil man die Augen vor der Notwendigkeit
verschließen will, daß Rußland eines Tages hier seinen Willen haben wird.
Man möchte das rasch sich entwertende Objekt noch rasch zu gutem Preise los¬
schlagen. Daß aber sogleich dahinter ganz andre Probleme auftauchen, das ist es,
wovor man in England die Augen verschließen möchte. Daher das alte lang¬
weilige, bald von jedem Zeitungsleser durchschaute Spiel, daß bei jedem poli¬
tischen Angstanfall immer gleich dieses alte Eisen aus der Rumpelkammer herbei¬
geschleppt und vor dem erstaunten Europa wie ein politischer Fetisch herum¬
gezeigt wird, bei dem Altengland im schlirmnsten Fall Rettung aus allen
Fährlichkeiten finden würde. Und das in einer Zeit, wo in Ägypten und
am Suezkanal und längs des ganzen Weges um Indien und Hinterindien bis
nach Ostasien hinüber, in Madagaskar und am Niger, in Neufundland und
in Mittelamerika viel größere, frischere, heißere Schwierigkeiten drohen!

Man will uns glauben machen, England und Rußland hätten gemeinsame
Interessen in Asien. Es gehört die Unverfrorenheit eines Timesleitartikels
dazu, jetzt noch sogar von "der übereinstimmenden Aufgabe beider Mächte
gegenüber den Übergriffen asiatischer Völker" zu sprechen. Übergriffe! Da
könnte es sich nur um Japan handeln, denn von Armenien bis nach Hong¬
kong und von Ceylon bis zur Lena lasten englische und russische Besatzungen
und Monopole viel zu schwer auf den entnervten Asiaten. Wo noch krie¬
gerischer Geist erhalten ist, da hat ihm Rußland seine Uniform übergezogen.
England hat allerdings einen viel schlechter" Weg gewählt, auf dem es die
Schwächung seiner Feinde durch Gold, Luxus, Opium u. dergl. -- auch
liberale Phrasen und Scheinrcchte gehören dazu -- nustrebt. Es ist ein Weg,
der notwendig mitten in die größten Gefahren führen muß. Darm liegt eben
das Unvereinbare der russischen und der englischen Politik in Asien, daß sich
Nußland ganz in Asien hineinversetzt, mit dem es sich eins fühlt. Es hat die
kräftigsten Völker Jnnerasiens in Russen verwandelt, die es jeden Augenblick mit
dschingiskhanischer Gewalt über West- oder Südasien sich ergießen lassen kann,
während England draußen stehen bleibt und krämerhast engherzig berechnet, wie¬
viel Einsatz der Gewinn wohl wert sein möge, den es jetzt noch herausziehen kann.
Nußland beherrscht, organisirt und tolonisirt Asten, indem es seine Menschen¬
massen über das Land hinleitet, die die Einheimischen wie mit Eisen zusammen¬
fassen und zugleich heben, indem sie zu ihnen herabsteigen. England beutet
Asien aus, indem es möglichst wenig Kräfte aufwendet und die Entmannung
der Massen als sichersten Bundesgenossen betrachtet. Sein Bau, mit ein paar
tausend Offizieren und Beamten und vielen Millionen Geld aufgerichtet, ent¬
behrt der festen Grundlagen, denn es ist ein Bau uach dem veralteten Plan
der Ausbeutungskolonien. Rußland verjüngt die ganze Masse seiner asiatischen
Unterthanen und gründet die Organisation seines riesigen Besitzes auf die


Zur Kenntnis der englischen ZVeltpolitik

hältnis Englands und Rußlands? Nur in England kann man ihr noch immer
ein so großes Gewicht beilegen, weil man die Augen vor der Notwendigkeit
verschließen will, daß Rußland eines Tages hier seinen Willen haben wird.
Man möchte das rasch sich entwertende Objekt noch rasch zu gutem Preise los¬
schlagen. Daß aber sogleich dahinter ganz andre Probleme auftauchen, das ist es,
wovor man in England die Augen verschließen möchte. Daher das alte lang¬
weilige, bald von jedem Zeitungsleser durchschaute Spiel, daß bei jedem poli¬
tischen Angstanfall immer gleich dieses alte Eisen aus der Rumpelkammer herbei¬
geschleppt und vor dem erstaunten Europa wie ein politischer Fetisch herum¬
gezeigt wird, bei dem Altengland im schlirmnsten Fall Rettung aus allen
Fährlichkeiten finden würde. Und das in einer Zeit, wo in Ägypten und
am Suezkanal und längs des ganzen Weges um Indien und Hinterindien bis
nach Ostasien hinüber, in Madagaskar und am Niger, in Neufundland und
in Mittelamerika viel größere, frischere, heißere Schwierigkeiten drohen!

Man will uns glauben machen, England und Rußland hätten gemeinsame
Interessen in Asien. Es gehört die Unverfrorenheit eines Timesleitartikels
dazu, jetzt noch sogar von „der übereinstimmenden Aufgabe beider Mächte
gegenüber den Übergriffen asiatischer Völker" zu sprechen. Übergriffe! Da
könnte es sich nur um Japan handeln, denn von Armenien bis nach Hong¬
kong und von Ceylon bis zur Lena lasten englische und russische Besatzungen
und Monopole viel zu schwer auf den entnervten Asiaten. Wo noch krie¬
gerischer Geist erhalten ist, da hat ihm Rußland seine Uniform übergezogen.
England hat allerdings einen viel schlechter» Weg gewählt, auf dem es die
Schwächung seiner Feinde durch Gold, Luxus, Opium u. dergl. — auch
liberale Phrasen und Scheinrcchte gehören dazu — nustrebt. Es ist ein Weg,
der notwendig mitten in die größten Gefahren führen muß. Darm liegt eben
das Unvereinbare der russischen und der englischen Politik in Asien, daß sich
Nußland ganz in Asien hineinversetzt, mit dem es sich eins fühlt. Es hat die
kräftigsten Völker Jnnerasiens in Russen verwandelt, die es jeden Augenblick mit
dschingiskhanischer Gewalt über West- oder Südasien sich ergießen lassen kann,
während England draußen stehen bleibt und krämerhast engherzig berechnet, wie¬
viel Einsatz der Gewinn wohl wert sein möge, den es jetzt noch herausziehen kann.
Nußland beherrscht, organisirt und tolonisirt Asten, indem es seine Menschen¬
massen über das Land hinleitet, die die Einheimischen wie mit Eisen zusammen¬
fassen und zugleich heben, indem sie zu ihnen herabsteigen. England beutet
Asien aus, indem es möglichst wenig Kräfte aufwendet und die Entmannung
der Massen als sichersten Bundesgenossen betrachtet. Sein Bau, mit ein paar
tausend Offizieren und Beamten und vielen Millionen Geld aufgerichtet, ent¬
behrt der festen Grundlagen, denn es ist ein Bau uach dem veralteten Plan
der Ausbeutungskolonien. Rußland verjüngt die ganze Masse seiner asiatischen
Unterthanen und gründet die Organisation seines riesigen Besitzes auf die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/62>, abgerufen am 23.07.2024.