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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Mängel zu beseitigen. Daß man dagegen mit ehrlicher Entrüstung, mit ein¬
dringlichen Ermahnungen, mit dem witzigsten Spotte nichts ausrichtet, hat
wohl jeden nunmehr die Erfahrung gelehrt. Das ist auch schon darum ein
verfehlter Weg, weil die Wurzeln der Mängel viel zu tief liegen, als daß sie
davon erreicht werden könnten. Dagegen hilft nur gründliches Rigolen unsrer
Reichsverfassung. Denn die Mängel unsers Reichstags wachsen aus den
Mängeln unsrer Reichsverfassung hervor, und insbesondre aus dem Reichstags¬
wahlverfahren, wie ich es einmal kurz nennen will, obwohl damit nicht alles
getroffen wird.

Unser Reichstagswahlverfahren ruht auf einer Grundlage, die so mechanisch
wie möglich ist: das Reich ist in Wahlkreise eingeteilt. Ob nun aber die Wahl¬
kreiseinteilung nach geographischen oder arithmetischen Gesichtspunkten getroffen
worden ist, sie ist ganz ungeeignet, eine wirkliche Vertretung des Volkes und
seiner Interessen herbeizuführen. Denn -- ich weiß, daß das niemandem etwas
neues ist -- jeder Wahlkreis enthält Wähler von so verschiednen, einander
entgegengesetzten Interessen, daß es weder möglich ist, einen Kandidaten zu
finden, der allen Wünschen entspräche, noch einen Abgeordneten, der allen
seinen Wählern gerecht würde. Als ein gewisser Ausgleich dieser mechanischen
Grundlage unsrer Reichstagswahlen kann ja nun das Parteiwesen angesehen
werden, sofern es den Wählern die Möglichkeit bietet, ihren Abgeordneten zwar
nicht, wie es natürlich wäre, nach ihren Interessen, aber doch wenigstens nach
ihren politischen Anschauungen zu wühlen, wobei man freilich nicht vergessen
darf, daß diese politischen Anschauungen meist eben nur ein Notbehelf sind, der
künstlich erzeugt worden ist und darum in der Regel eine erstaunliche Unklarheit
aufweist. Wie unvollkommen aber dieser Ausgleich durch das Parteiwesen ist,
ersieht man daraus, daß doch fast in jedem Wahlkreise zwei oder mehr Kan¬
didaten aufgestellt werden, von denen immer nur einer gewählt werden kann;
die Minderheiten aber, die für den andern gestimmt haben -- sie bilden,
schlecht gerechnet, etwa ein Drittel sämtlicher Reichstagswühler --, bleiben
unvertreten.

Wie wenig ferner die auf Grund der mechanischen Wahlkreiseinteilung in
Verbindung mit dem Parteiwesen gewählten Reichstagsabgeordneten eine Ver¬
tretung des deutschen Volkes sind, das zeigt schon -- ganz abgesehen von den
unvolkstümlichen Gesetzen, die sie machen, u. a. in. -- ein Blick auf die Be¬
rufsarten der Mitglieder des Reichstags. Ich habe mir nun zwar eigens
zu dem Zwecke, um dieses Mißverhältnis durch imponirende Zahlen -- Zahlen
imponiren immer! -- zu beweisen, Kürschners Reichstag mit seinen schönen
Bildern kommen lassen, und es wäre mir ein leichtes, mit ganz besonders
imponirenden Zahlen aufzuwarten. Denn verschiedne Abgeordnete kann man
in einer ganzen Anzahl von Rubriken unterbringen, je nachdem mens
eben braucht: Graf Herbert Bismarck z. B. könnte als Jurist schlechthin, als


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Mängel zu beseitigen. Daß man dagegen mit ehrlicher Entrüstung, mit ein¬
dringlichen Ermahnungen, mit dem witzigsten Spotte nichts ausrichtet, hat
wohl jeden nunmehr die Erfahrung gelehrt. Das ist auch schon darum ein
verfehlter Weg, weil die Wurzeln der Mängel viel zu tief liegen, als daß sie
davon erreicht werden könnten. Dagegen hilft nur gründliches Rigolen unsrer
Reichsverfassung. Denn die Mängel unsers Reichstags wachsen aus den
Mängeln unsrer Reichsverfassung hervor, und insbesondre aus dem Reichstags¬
wahlverfahren, wie ich es einmal kurz nennen will, obwohl damit nicht alles
getroffen wird.

Unser Reichstagswahlverfahren ruht auf einer Grundlage, die so mechanisch
wie möglich ist: das Reich ist in Wahlkreise eingeteilt. Ob nun aber die Wahl¬
kreiseinteilung nach geographischen oder arithmetischen Gesichtspunkten getroffen
worden ist, sie ist ganz ungeeignet, eine wirkliche Vertretung des Volkes und
seiner Interessen herbeizuführen. Denn — ich weiß, daß das niemandem etwas
neues ist — jeder Wahlkreis enthält Wähler von so verschiednen, einander
entgegengesetzten Interessen, daß es weder möglich ist, einen Kandidaten zu
finden, der allen Wünschen entspräche, noch einen Abgeordneten, der allen
seinen Wählern gerecht würde. Als ein gewisser Ausgleich dieser mechanischen
Grundlage unsrer Reichstagswahlen kann ja nun das Parteiwesen angesehen
werden, sofern es den Wählern die Möglichkeit bietet, ihren Abgeordneten zwar
nicht, wie es natürlich wäre, nach ihren Interessen, aber doch wenigstens nach
ihren politischen Anschauungen zu wühlen, wobei man freilich nicht vergessen
darf, daß diese politischen Anschauungen meist eben nur ein Notbehelf sind, der
künstlich erzeugt worden ist und darum in der Regel eine erstaunliche Unklarheit
aufweist. Wie unvollkommen aber dieser Ausgleich durch das Parteiwesen ist,
ersieht man daraus, daß doch fast in jedem Wahlkreise zwei oder mehr Kan¬
didaten aufgestellt werden, von denen immer nur einer gewählt werden kann;
die Minderheiten aber, die für den andern gestimmt haben — sie bilden,
schlecht gerechnet, etwa ein Drittel sämtlicher Reichstagswühler —, bleiben
unvertreten.

Wie wenig ferner die auf Grund der mechanischen Wahlkreiseinteilung in
Verbindung mit dem Parteiwesen gewählten Reichstagsabgeordneten eine Ver¬
tretung des deutschen Volkes sind, das zeigt schon — ganz abgesehen von den
unvolkstümlichen Gesetzen, die sie machen, u. a. in. — ein Blick auf die Be¬
rufsarten der Mitglieder des Reichstags. Ich habe mir nun zwar eigens
zu dem Zwecke, um dieses Mißverhältnis durch imponirende Zahlen — Zahlen
imponiren immer! — zu beweisen, Kürschners Reichstag mit seinen schönen
Bildern kommen lassen, und es wäre mir ein leichtes, mit ganz besonders
imponirenden Zahlen aufzuwarten. Denn verschiedne Abgeordnete kann man
in einer ganzen Anzahl von Rubriken unterbringen, je nachdem mens
eben braucht: Graf Herbert Bismarck z. B. könnte als Jurist schlechthin, als


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[0573] Neue Stände Mängel zu beseitigen. Daß man dagegen mit ehrlicher Entrüstung, mit ein¬ dringlichen Ermahnungen, mit dem witzigsten Spotte nichts ausrichtet, hat wohl jeden nunmehr die Erfahrung gelehrt. Das ist auch schon darum ein verfehlter Weg, weil die Wurzeln der Mängel viel zu tief liegen, als daß sie davon erreicht werden könnten. Dagegen hilft nur gründliches Rigolen unsrer Reichsverfassung. Denn die Mängel unsers Reichstags wachsen aus den Mängeln unsrer Reichsverfassung hervor, und insbesondre aus dem Reichstags¬ wahlverfahren, wie ich es einmal kurz nennen will, obwohl damit nicht alles getroffen wird. Unser Reichstagswahlverfahren ruht auf einer Grundlage, die so mechanisch wie möglich ist: das Reich ist in Wahlkreise eingeteilt. Ob nun aber die Wahl¬ kreiseinteilung nach geographischen oder arithmetischen Gesichtspunkten getroffen worden ist, sie ist ganz ungeeignet, eine wirkliche Vertretung des Volkes und seiner Interessen herbeizuführen. Denn — ich weiß, daß das niemandem etwas neues ist — jeder Wahlkreis enthält Wähler von so verschiednen, einander entgegengesetzten Interessen, daß es weder möglich ist, einen Kandidaten zu finden, der allen Wünschen entspräche, noch einen Abgeordneten, der allen seinen Wählern gerecht würde. Als ein gewisser Ausgleich dieser mechanischen Grundlage unsrer Reichstagswahlen kann ja nun das Parteiwesen angesehen werden, sofern es den Wählern die Möglichkeit bietet, ihren Abgeordneten zwar nicht, wie es natürlich wäre, nach ihren Interessen, aber doch wenigstens nach ihren politischen Anschauungen zu wühlen, wobei man freilich nicht vergessen darf, daß diese politischen Anschauungen meist eben nur ein Notbehelf sind, der künstlich erzeugt worden ist und darum in der Regel eine erstaunliche Unklarheit aufweist. Wie unvollkommen aber dieser Ausgleich durch das Parteiwesen ist, ersieht man daraus, daß doch fast in jedem Wahlkreise zwei oder mehr Kan¬ didaten aufgestellt werden, von denen immer nur einer gewählt werden kann; die Minderheiten aber, die für den andern gestimmt haben — sie bilden, schlecht gerechnet, etwa ein Drittel sämtlicher Reichstagswühler —, bleiben unvertreten. Wie wenig ferner die auf Grund der mechanischen Wahlkreiseinteilung in Verbindung mit dem Parteiwesen gewählten Reichstagsabgeordneten eine Ver¬ tretung des deutschen Volkes sind, das zeigt schon — ganz abgesehen von den unvolkstümlichen Gesetzen, die sie machen, u. a. in. — ein Blick auf die Be¬ rufsarten der Mitglieder des Reichstags. Ich habe mir nun zwar eigens zu dem Zwecke, um dieses Mißverhältnis durch imponirende Zahlen — Zahlen imponiren immer! — zu beweisen, Kürschners Reichstag mit seinen schönen Bildern kommen lassen, und es wäre mir ein leichtes, mit ganz besonders imponirenden Zahlen aufzuwarten. Denn verschiedne Abgeordnete kann man in einer ganzen Anzahl von Rubriken unterbringen, je nachdem mens eben braucht: Graf Herbert Bismarck z. B. könnte als Jurist schlechthin, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/573>, abgerufen am 22.07.2024.