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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die öffentliche Meinung

dann um das Wohl der Millionen und aber Millionen bestellt sein, aus
denen alle übrigen Klassen der Bevölkerung bestehen, und deren Stimme un-
gehört verhallt, oder die überhaupt nicht sagen können, was ihnen wirklich
fehlt, weil sie außer stände sind, es zu erkennen oder auszudrücken?

Nein! Wenn die Männer am Steuer nicht selbst von dem Drange der
"nach Bildung und Besitz maßgebenden Klassen" erfaßt sind oder nicht den
Mut haben, diesen zu widerstehen, und also der sittlichen Eigenschaften er¬
mangeln, die für ihre Stellung unerläßlich sind, so kann es nur auf einem
Irrtum über das Wesen der öffentlichen Meinung beruhen, wenn sie sich dieser
Macht beugen. Das schließt natürlich nicht aus, daß sie auf deren Äußerungen
aufmerksam hören und sie sorgfältig prüfen; aber das müssen sie bei allen
andern Stimmen, die sich vernehmen lassen, ebenfalls thun. Noch mehr, sie
müssen auch in den Schichten, wo nur ein elementares Geräusch, dem Windes¬
wehen oder Wogenbrausen gleich, hörbar ist, ihren geheimen Sinn zu ver¬
stehen suchen.

Einer Staatsregierung aber, die ihren Beruf in dieser Weise auffaßt,
wird es auch nie an Helfern und Beratern fehlen, die ihr über die Re¬
gungen in den verschiednen Gliedern des Volkskörpers Aufschluß geben. Nicht
die gesetzlichen Volksvertreter sind hier gemeint, die von dem, was dem Volke
wirklich not thut, oft keine Ahnung haben. Vielmehr kommen hier zunächst
Männer aus den Kreisen in Betracht, die von den einzelnen politischen und
sozialen Fragen unmittelbar berührt werden. Denn was das eigne Wohl und
Wehe betrifft, darauf richtet man vorzugsweise seine geistigen Kräfte, und
dafür erlangt man eher Verständnis und Urteil als die andern. Freilich be¬
darf es dazu, um nicht mit den Anforderungen des öffentliche" Wohls in
Widerspruch zu treten, nicht allein eines erleuchteten Geistes, sondern auch
einer redlichen, gerechten Sinnesart, die, statt den eignen Vorteil ans fremde
Kosten zu erstreben, jedem das Seine meent, was allerdings sehr schwer ist
und selten geschieht. Neben solchen Vertretern der verschiednen Interessen¬
gruppen aber mag eine weise Regierung solche Persönlichkeiten zu Rate ziehen,
die zwar nicht den beteiligten Kreisen angehören, und deren Blick also nicht
durch das eigne Interesse geschärft ist, die aber durch ihren Beruf Gelegen¬
heit gefunden haben, mit den Verhältnissen dieser Kreise genauer bekannt zu
werden, und die ein richtiges Urteil über die Bedürfnisse der einzelnen Be¬
völkerungsklassen und, was sie zu einem solchen am ersten befähigt, ein Herz
für das Volk haben: den Arzt oder den Seelsorger dieser Art, die ihre Pflicht
in die Familien aller Stände, an tausend Krankenbetten führt, oder den Be¬
amten, der nicht bloß am grünen Tische sitzt, sondern sich recht viel draußen
umsieht. Würde aus allen solchen Männern ein Staatsrat gebildet, dann
würden dessen einstimmige Beschlüsse, soweit es nach der UnVollkommenheit
menschlicher Verhältnisse überhaupt möglich ist, das ausdrücken, was der


Die öffentliche Meinung

dann um das Wohl der Millionen und aber Millionen bestellt sein, aus
denen alle übrigen Klassen der Bevölkerung bestehen, und deren Stimme un-
gehört verhallt, oder die überhaupt nicht sagen können, was ihnen wirklich
fehlt, weil sie außer stände sind, es zu erkennen oder auszudrücken?

Nein! Wenn die Männer am Steuer nicht selbst von dem Drange der
„nach Bildung und Besitz maßgebenden Klassen" erfaßt sind oder nicht den
Mut haben, diesen zu widerstehen, und also der sittlichen Eigenschaften er¬
mangeln, die für ihre Stellung unerläßlich sind, so kann es nur auf einem
Irrtum über das Wesen der öffentlichen Meinung beruhen, wenn sie sich dieser
Macht beugen. Das schließt natürlich nicht aus, daß sie auf deren Äußerungen
aufmerksam hören und sie sorgfältig prüfen; aber das müssen sie bei allen
andern Stimmen, die sich vernehmen lassen, ebenfalls thun. Noch mehr, sie
müssen auch in den Schichten, wo nur ein elementares Geräusch, dem Windes¬
wehen oder Wogenbrausen gleich, hörbar ist, ihren geheimen Sinn zu ver¬
stehen suchen.

Einer Staatsregierung aber, die ihren Beruf in dieser Weise auffaßt,
wird es auch nie an Helfern und Beratern fehlen, die ihr über die Re¬
gungen in den verschiednen Gliedern des Volkskörpers Aufschluß geben. Nicht
die gesetzlichen Volksvertreter sind hier gemeint, die von dem, was dem Volke
wirklich not thut, oft keine Ahnung haben. Vielmehr kommen hier zunächst
Männer aus den Kreisen in Betracht, die von den einzelnen politischen und
sozialen Fragen unmittelbar berührt werden. Denn was das eigne Wohl und
Wehe betrifft, darauf richtet man vorzugsweise seine geistigen Kräfte, und
dafür erlangt man eher Verständnis und Urteil als die andern. Freilich be¬
darf es dazu, um nicht mit den Anforderungen des öffentliche» Wohls in
Widerspruch zu treten, nicht allein eines erleuchteten Geistes, sondern auch
einer redlichen, gerechten Sinnesart, die, statt den eignen Vorteil ans fremde
Kosten zu erstreben, jedem das Seine meent, was allerdings sehr schwer ist
und selten geschieht. Neben solchen Vertretern der verschiednen Interessen¬
gruppen aber mag eine weise Regierung solche Persönlichkeiten zu Rate ziehen,
die zwar nicht den beteiligten Kreisen angehören, und deren Blick also nicht
durch das eigne Interesse geschärft ist, die aber durch ihren Beruf Gelegen¬
heit gefunden haben, mit den Verhältnissen dieser Kreise genauer bekannt zu
werden, und die ein richtiges Urteil über die Bedürfnisse der einzelnen Be¬
völkerungsklassen und, was sie zu einem solchen am ersten befähigt, ein Herz
für das Volk haben: den Arzt oder den Seelsorger dieser Art, die ihre Pflicht
in die Familien aller Stände, an tausend Krankenbetten führt, oder den Be¬
amten, der nicht bloß am grünen Tische sitzt, sondern sich recht viel draußen
umsieht. Würde aus allen solchen Männern ein Staatsrat gebildet, dann
würden dessen einstimmige Beschlüsse, soweit es nach der UnVollkommenheit
menschlicher Verhältnisse überhaupt möglich ist, das ausdrücken, was der


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[0571] Die öffentliche Meinung dann um das Wohl der Millionen und aber Millionen bestellt sein, aus denen alle übrigen Klassen der Bevölkerung bestehen, und deren Stimme un- gehört verhallt, oder die überhaupt nicht sagen können, was ihnen wirklich fehlt, weil sie außer stände sind, es zu erkennen oder auszudrücken? Nein! Wenn die Männer am Steuer nicht selbst von dem Drange der „nach Bildung und Besitz maßgebenden Klassen" erfaßt sind oder nicht den Mut haben, diesen zu widerstehen, und also der sittlichen Eigenschaften er¬ mangeln, die für ihre Stellung unerläßlich sind, so kann es nur auf einem Irrtum über das Wesen der öffentlichen Meinung beruhen, wenn sie sich dieser Macht beugen. Das schließt natürlich nicht aus, daß sie auf deren Äußerungen aufmerksam hören und sie sorgfältig prüfen; aber das müssen sie bei allen andern Stimmen, die sich vernehmen lassen, ebenfalls thun. Noch mehr, sie müssen auch in den Schichten, wo nur ein elementares Geräusch, dem Windes¬ wehen oder Wogenbrausen gleich, hörbar ist, ihren geheimen Sinn zu ver¬ stehen suchen. Einer Staatsregierung aber, die ihren Beruf in dieser Weise auffaßt, wird es auch nie an Helfern und Beratern fehlen, die ihr über die Re¬ gungen in den verschiednen Gliedern des Volkskörpers Aufschluß geben. Nicht die gesetzlichen Volksvertreter sind hier gemeint, die von dem, was dem Volke wirklich not thut, oft keine Ahnung haben. Vielmehr kommen hier zunächst Männer aus den Kreisen in Betracht, die von den einzelnen politischen und sozialen Fragen unmittelbar berührt werden. Denn was das eigne Wohl und Wehe betrifft, darauf richtet man vorzugsweise seine geistigen Kräfte, und dafür erlangt man eher Verständnis und Urteil als die andern. Freilich be¬ darf es dazu, um nicht mit den Anforderungen des öffentliche» Wohls in Widerspruch zu treten, nicht allein eines erleuchteten Geistes, sondern auch einer redlichen, gerechten Sinnesart, die, statt den eignen Vorteil ans fremde Kosten zu erstreben, jedem das Seine meent, was allerdings sehr schwer ist und selten geschieht. Neben solchen Vertretern der verschiednen Interessen¬ gruppen aber mag eine weise Regierung solche Persönlichkeiten zu Rate ziehen, die zwar nicht den beteiligten Kreisen angehören, und deren Blick also nicht durch das eigne Interesse geschärft ist, die aber durch ihren Beruf Gelegen¬ heit gefunden haben, mit den Verhältnissen dieser Kreise genauer bekannt zu werden, und die ein richtiges Urteil über die Bedürfnisse der einzelnen Be¬ völkerungsklassen und, was sie zu einem solchen am ersten befähigt, ein Herz für das Volk haben: den Arzt oder den Seelsorger dieser Art, die ihre Pflicht in die Familien aller Stände, an tausend Krankenbetten führt, oder den Be¬ amten, der nicht bloß am grünen Tische sitzt, sondern sich recht viel draußen umsieht. Würde aus allen solchen Männern ein Staatsrat gebildet, dann würden dessen einstimmige Beschlüsse, soweit es nach der UnVollkommenheit menschlicher Verhältnisse überhaupt möglich ist, das ausdrücken, was der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/571>, abgerufen am 22.07.2024.