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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die öffentliche Meinung

oder seinem eignen Vorteil aus dem Wege gehen! Sicherlich; aber ist das
ein unerhörter Fall? Erinnern wir uns, daß die Willensthätigkeit als solche
durch vernünftige Erkenntnis schlechterdings nicht bestimmt wird, daß der Wille
vielmehr, unbeschadet seines Wesens, völlig blind in Wirkung treten kann und
hierzu nur eines Beweggrunds bedarf, der ausreichend stark sein muß, übrigens
aber ebenso gut in Irrtum wie in Einsicht bestehen kann, dann werden wir
uns nicht mehr darüber wundern, daß einer auch in der festen Überzeugung, in
seinem Interesse zu handeln, geradezu in sein Unglück rennen kann. In dieser
Lage befinden sich aber mehr oder weniger alle Angehörigen des Volks mit
Ausnahme der einsichtsvollen Köpfe, die unter ihnen zu finden sind: bei diesen
freilich ist ein Irrtum über das, was zu ihrem Vorteile dient, wenn auch
nicht ausgeschlossen, doch so unwahrscheinlich, daß er füglich nicht in Frage
kommen kann; die andern aber, der große Haufe -- zeigt ihnen im Spiegel¬
bilde goldne Berge, und sie stürzen drauf los, auch wenn dahinter der Ab¬
grund gähnt, und malt ihnen Schreckbilder an die Wand, und sie ergreifen
die Flucht!

Das ist die Naturgeschichte der öffentlichen Meinung. Sie braucht nur
gemacht zu werden, dann ist sie da; und sie wird, von verschwindenden Aus"
nahmefüllen abgesehen, immer gemacht. Das aber ist das Ziel der Thätigkeit,
die man Agitation nennt, und die, sobald sie zu den unsittlichen Mitteln der
Lüge und Verleumdung greift, zur Demagogie, auf deutsch Volksverführung,
ausartet. Zu diesem Punkte der Entwicklung, auf dem sie der gefährlichste
Feind der Staatsmänner zu sein Pflegt, braucht sie jedoch nicht zu gelangen,
um die öffentliche Meinung zu erzeugen. Freilich ist es nicht leicht, den Willen
der großen Menge in Bewegung zu setzen, ohne auf seine unedeln Seiten, die
Habgier, die Genußsucht, den Trotz und die Abneigung gegen Autorität zu
wirken. Denn "aus Gemeinem ist der Mensch gemacht," und der Egoismus,
aus dem jene Regungen entspringen, ist gemein, soweit er mehr verlangt, als
die andern auch verlangen dürfen. Immerhin aber ist doch auch einer ehr¬
lichen Agitation Gelegenheit zum Wirken geboten, da sich auch innerhalb der
Grenzen des Luna, ouiauiz das eigne Wohl erstreben läßt, ganz abgesehen
davon, daß trotz aller gegenteiligen Behauptungen unsrer Pessimisten in den
Einzelnen, die die große Menge bilden, wenn auch vielleicht tief verborgen,
gewisse positiv edle Regungen, wie die des Mitleids und des Opfermuth,
schlummern, die von dem, der sich darauf versteht, geweckt werden können.
Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß die ehrliche Agitation gegenüber der,
die es auf die schlechten Leidenschaften der Menge absteht, einen schlimmen
Stand hat, eine Erscheinung, aus der es sich, nebenbei bemerkt, erklärt, wes¬
halb gewisse politische Parteien mit ihrer Agitation mehr Erfolg haben und
sie deshalb lebhafter treiben als andre.

Welcher Art aber auch die Agitation sein mag, von dem, was man ver-


Die öffentliche Meinung

oder seinem eignen Vorteil aus dem Wege gehen! Sicherlich; aber ist das
ein unerhörter Fall? Erinnern wir uns, daß die Willensthätigkeit als solche
durch vernünftige Erkenntnis schlechterdings nicht bestimmt wird, daß der Wille
vielmehr, unbeschadet seines Wesens, völlig blind in Wirkung treten kann und
hierzu nur eines Beweggrunds bedarf, der ausreichend stark sein muß, übrigens
aber ebenso gut in Irrtum wie in Einsicht bestehen kann, dann werden wir
uns nicht mehr darüber wundern, daß einer auch in der festen Überzeugung, in
seinem Interesse zu handeln, geradezu in sein Unglück rennen kann. In dieser
Lage befinden sich aber mehr oder weniger alle Angehörigen des Volks mit
Ausnahme der einsichtsvollen Köpfe, die unter ihnen zu finden sind: bei diesen
freilich ist ein Irrtum über das, was zu ihrem Vorteile dient, wenn auch
nicht ausgeschlossen, doch so unwahrscheinlich, daß er füglich nicht in Frage
kommen kann; die andern aber, der große Haufe — zeigt ihnen im Spiegel¬
bilde goldne Berge, und sie stürzen drauf los, auch wenn dahinter der Ab¬
grund gähnt, und malt ihnen Schreckbilder an die Wand, und sie ergreifen
die Flucht!

Das ist die Naturgeschichte der öffentlichen Meinung. Sie braucht nur
gemacht zu werden, dann ist sie da; und sie wird, von verschwindenden Aus«
nahmefüllen abgesehen, immer gemacht. Das aber ist das Ziel der Thätigkeit,
die man Agitation nennt, und die, sobald sie zu den unsittlichen Mitteln der
Lüge und Verleumdung greift, zur Demagogie, auf deutsch Volksverführung,
ausartet. Zu diesem Punkte der Entwicklung, auf dem sie der gefährlichste
Feind der Staatsmänner zu sein Pflegt, braucht sie jedoch nicht zu gelangen,
um die öffentliche Meinung zu erzeugen. Freilich ist es nicht leicht, den Willen
der großen Menge in Bewegung zu setzen, ohne auf seine unedeln Seiten, die
Habgier, die Genußsucht, den Trotz und die Abneigung gegen Autorität zu
wirken. Denn „aus Gemeinem ist der Mensch gemacht," und der Egoismus,
aus dem jene Regungen entspringen, ist gemein, soweit er mehr verlangt, als
die andern auch verlangen dürfen. Immerhin aber ist doch auch einer ehr¬
lichen Agitation Gelegenheit zum Wirken geboten, da sich auch innerhalb der
Grenzen des Luna, ouiauiz das eigne Wohl erstreben läßt, ganz abgesehen
davon, daß trotz aller gegenteiligen Behauptungen unsrer Pessimisten in den
Einzelnen, die die große Menge bilden, wenn auch vielleicht tief verborgen,
gewisse positiv edle Regungen, wie die des Mitleids und des Opfermuth,
schlummern, die von dem, der sich darauf versteht, geweckt werden können.
Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß die ehrliche Agitation gegenüber der,
die es auf die schlechten Leidenschaften der Menge absteht, einen schlimmen
Stand hat, eine Erscheinung, aus der es sich, nebenbei bemerkt, erklärt, wes¬
halb gewisse politische Parteien mit ihrer Agitation mehr Erfolg haben und
sie deshalb lebhafter treiben als andre.

Welcher Art aber auch die Agitation sein mag, von dem, was man ver-


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[0563] Die öffentliche Meinung oder seinem eignen Vorteil aus dem Wege gehen! Sicherlich; aber ist das ein unerhörter Fall? Erinnern wir uns, daß die Willensthätigkeit als solche durch vernünftige Erkenntnis schlechterdings nicht bestimmt wird, daß der Wille vielmehr, unbeschadet seines Wesens, völlig blind in Wirkung treten kann und hierzu nur eines Beweggrunds bedarf, der ausreichend stark sein muß, übrigens aber ebenso gut in Irrtum wie in Einsicht bestehen kann, dann werden wir uns nicht mehr darüber wundern, daß einer auch in der festen Überzeugung, in seinem Interesse zu handeln, geradezu in sein Unglück rennen kann. In dieser Lage befinden sich aber mehr oder weniger alle Angehörigen des Volks mit Ausnahme der einsichtsvollen Köpfe, die unter ihnen zu finden sind: bei diesen freilich ist ein Irrtum über das, was zu ihrem Vorteile dient, wenn auch nicht ausgeschlossen, doch so unwahrscheinlich, daß er füglich nicht in Frage kommen kann; die andern aber, der große Haufe — zeigt ihnen im Spiegel¬ bilde goldne Berge, und sie stürzen drauf los, auch wenn dahinter der Ab¬ grund gähnt, und malt ihnen Schreckbilder an die Wand, und sie ergreifen die Flucht! Das ist die Naturgeschichte der öffentlichen Meinung. Sie braucht nur gemacht zu werden, dann ist sie da; und sie wird, von verschwindenden Aus« nahmefüllen abgesehen, immer gemacht. Das aber ist das Ziel der Thätigkeit, die man Agitation nennt, und die, sobald sie zu den unsittlichen Mitteln der Lüge und Verleumdung greift, zur Demagogie, auf deutsch Volksverführung, ausartet. Zu diesem Punkte der Entwicklung, auf dem sie der gefährlichste Feind der Staatsmänner zu sein Pflegt, braucht sie jedoch nicht zu gelangen, um die öffentliche Meinung zu erzeugen. Freilich ist es nicht leicht, den Willen der großen Menge in Bewegung zu setzen, ohne auf seine unedeln Seiten, die Habgier, die Genußsucht, den Trotz und die Abneigung gegen Autorität zu wirken. Denn „aus Gemeinem ist der Mensch gemacht," und der Egoismus, aus dem jene Regungen entspringen, ist gemein, soweit er mehr verlangt, als die andern auch verlangen dürfen. Immerhin aber ist doch auch einer ehr¬ lichen Agitation Gelegenheit zum Wirken geboten, da sich auch innerhalb der Grenzen des Luna, ouiauiz das eigne Wohl erstreben läßt, ganz abgesehen davon, daß trotz aller gegenteiligen Behauptungen unsrer Pessimisten in den Einzelnen, die die große Menge bilden, wenn auch vielleicht tief verborgen, gewisse positiv edle Regungen, wie die des Mitleids und des Opfermuth, schlummern, die von dem, der sich darauf versteht, geweckt werden können. Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß die ehrliche Agitation gegenüber der, die es auf die schlechten Leidenschaften der Menge absteht, einen schlimmen Stand hat, eine Erscheinung, aus der es sich, nebenbei bemerkt, erklärt, wes¬ halb gewisse politische Parteien mit ihrer Agitation mehr Erfolg haben und sie deshalb lebhafter treiben als andre. Welcher Art aber auch die Agitation sein mag, von dem, was man ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/563>, abgerufen am 23.07.2024.