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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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ihm ersonnenen Betrieb, oder der Verwahrlosung der Kinder durch Kinder-
bewahranstalten u. s. w. entgegenarbeitet, so verdient das Anerkennung, Nach¬
ahmung und Lob, aber mit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung und
mit ihrer Bekämpfung und der Herbeiführung einer höher" sittlichen Ordnung
hat das alles gar nichts zu thun. Ja von sozialpolitischen Standpunkt
aus verwandeln sich vielleicht die erwähnten und aufrichtig gelobten Ein¬
richtungen in ebenso viele sozialpolitische Fehler. Noch mehr tritt uns aber
die Unmöglichkeit, auf diesem Wege, nämlich dem der geordneten Predigt
und Seelsorge, an der Lösung der sozialen Frage mitarbeiten zu wollen, ent¬
gegen, wenn wir nun von der Ortsgemeinde auf die große Gesamtgemeinde
Hinblicken.

Auf der einen Seite steht die internationale und interkonfessionelle große,
die ganze Welt umspannende und überall verzweigte, fest orgcinisirte Jndustrie-
gemeinde entgegen. Die Ökonomie hat längst die Grenzen einer Provinz und
des Landes überschritten; sie ist im wahren Sinne eine Weltökonvmie geworden.
Die Industrie in unsrer Heimat übt ihren Einfluß auf die fernsten Länder,
so wie umgekehrt die Industrie und Landwirtschaft in den fernsten Ländern
die Preise unsrer täglichen Lebensbedürfnisse regeln. Es wäre ganz unmöglich
und höchst lächerlich, diesen großen Welthandel in die Schranken irgend eines
religiösen Bekenntnisses einschnüren zu Wollen, etwa den Welthandel lutherisch
oder reformirt oder katholisch umgestalten zu wollen; nicht einmal das christ¬
liche Gepräge kaun man ihm aufdrücken, da doch einerseits Heiden von allerlei
Art oder Türken oder Juden ueben den Christen durch Kauf und Verkauf
hier mit einander handeln.

Auf der andern Seite steht nun die Kirche, sagen wir die Summe aller
Christen, oder gemäß unsrer Aufgabe, die Summe aller protestantischen Christen.
Abgesehen nnn davon, daß zwischen katholischer und protestantischer Kirche keine
organische Einheit besteht, so fehlt sie auch innerhalb der protestantischen Christen¬
heit selbst. Soll nnn die Kirche, oder sagen wir die protestantische Kirche, an
der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung in dieser großen internationalen Welt¬
ökonomie irgendwie reformirend und helfend arbeiten, so müßte sie doch zuerst
und wenigstens als eine einige Größe fest organisirt auftreten können. Die
römische Kirche hätte bekanntlich dazu noch am meisten das Vermögen, aber
der protestantischen Kirche fehlt es geradezu an aller und jeder Vorbedingung
dazu. Sie ist zerspalten äußerlich und innerlich, und dazu kommt die Ein¬
richtung der Landeskirchen, deren höchste Geistliche, d. h. Inhaber der Kirchen¬
gewalt, die Landesfürsten sind, die als solche aber zugleich die höchsten Ver¬
treter der gegenwärtigen Ordnung sind. Der Einfluß solcher kirchlichen Or¬
ganisation über die Grenze hinaus ist völlig Null, während umgekehrt eben
dasselbe Ländchen ganz und gar sozial abhängig ist von einer Industrie außer¬
halb der Grenzen, die vielleicht sogar recht weit entfernt ist, vielleicht in Amerika


ihm ersonnenen Betrieb, oder der Verwahrlosung der Kinder durch Kinder-
bewahranstalten u. s. w. entgegenarbeitet, so verdient das Anerkennung, Nach¬
ahmung und Lob, aber mit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung und
mit ihrer Bekämpfung und der Herbeiführung einer höher» sittlichen Ordnung
hat das alles gar nichts zu thun. Ja von sozialpolitischen Standpunkt
aus verwandeln sich vielleicht die erwähnten und aufrichtig gelobten Ein¬
richtungen in ebenso viele sozialpolitische Fehler. Noch mehr tritt uns aber
die Unmöglichkeit, auf diesem Wege, nämlich dem der geordneten Predigt
und Seelsorge, an der Lösung der sozialen Frage mitarbeiten zu wollen, ent¬
gegen, wenn wir nun von der Ortsgemeinde auf die große Gesamtgemeinde
Hinblicken.

Auf der einen Seite steht die internationale und interkonfessionelle große,
die ganze Welt umspannende und überall verzweigte, fest orgcinisirte Jndustrie-
gemeinde entgegen. Die Ökonomie hat längst die Grenzen einer Provinz und
des Landes überschritten; sie ist im wahren Sinne eine Weltökonvmie geworden.
Die Industrie in unsrer Heimat übt ihren Einfluß auf die fernsten Länder,
so wie umgekehrt die Industrie und Landwirtschaft in den fernsten Ländern
die Preise unsrer täglichen Lebensbedürfnisse regeln. Es wäre ganz unmöglich
und höchst lächerlich, diesen großen Welthandel in die Schranken irgend eines
religiösen Bekenntnisses einschnüren zu Wollen, etwa den Welthandel lutherisch
oder reformirt oder katholisch umgestalten zu wollen; nicht einmal das christ¬
liche Gepräge kaun man ihm aufdrücken, da doch einerseits Heiden von allerlei
Art oder Türken oder Juden ueben den Christen durch Kauf und Verkauf
hier mit einander handeln.

Auf der andern Seite steht nun die Kirche, sagen wir die Summe aller
Christen, oder gemäß unsrer Aufgabe, die Summe aller protestantischen Christen.
Abgesehen nnn davon, daß zwischen katholischer und protestantischer Kirche keine
organische Einheit besteht, so fehlt sie auch innerhalb der protestantischen Christen¬
heit selbst. Soll nnn die Kirche, oder sagen wir die protestantische Kirche, an
der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung in dieser großen internationalen Welt¬
ökonomie irgendwie reformirend und helfend arbeiten, so müßte sie doch zuerst
und wenigstens als eine einige Größe fest organisirt auftreten können. Die
römische Kirche hätte bekanntlich dazu noch am meisten das Vermögen, aber
der protestantischen Kirche fehlt es geradezu an aller und jeder Vorbedingung
dazu. Sie ist zerspalten äußerlich und innerlich, und dazu kommt die Ein¬
richtung der Landeskirchen, deren höchste Geistliche, d. h. Inhaber der Kirchen¬
gewalt, die Landesfürsten sind, die als solche aber zugleich die höchsten Ver¬
treter der gegenwärtigen Ordnung sind. Der Einfluß solcher kirchlichen Or¬
ganisation über die Grenze hinaus ist völlig Null, während umgekehrt eben
dasselbe Ländchen ganz und gar sozial abhängig ist von einer Industrie außer¬
halb der Grenzen, die vielleicht sogar recht weit entfernt ist, vielleicht in Amerika


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/514>, abgerufen am 23.07.2024.