Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Standpunkts genötigt, dies mit der Bemerkung anzuerkennen, daß Carrieres "Ästhetik" Vou dem Geiste der Ästhetik, der auf Gleichgewicht zwischen Stoff und Form, Maßgebliches und Unmaßgebliches Standpunkts genötigt, dies mit der Bemerkung anzuerkennen, daß Carrieres „Ästhetik" Vou dem Geiste der Ästhetik, der auf Gleichgewicht zwischen Stoff und Form, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0396" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219398"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1197" prev="#ID_1196"> Standpunkts genötigt, dies mit der Bemerkung anzuerkennen, daß Carrieres „Ästhetik"<lb/> ebenso viel gelesen werde, wie die Wischers wenig; er spendet dann dem diesem<lb/> Buche inhaltlich am nächsten stehenden fünfbändigen Werke Carrieres: „Die Kunst<lb/> im Zusammenhange der Kulturentwicklung oder die Ideale der Menschheit" (dritte<lb/> Auflage, 1887) das Lob- „Dies Werk ist im besten Sinne populär und doch von<lb/> philosophischem Geiste durchdrungen und kann so, wie es ist, als ein Schatz der<lb/> Belehrung und Anregung für unser Volk und namentlich für unsre Jugend em¬<lb/> pfohlen werden/' An die ästhetischen Hauptschriften reihen sich Carrieres Lehr¬<lb/> buch der Poetik: „Die Poesie, ihr Wesen und ihre Formen, mit Grundzügen der<lb/> vergleichenden Litteraturgeschichte" (zweite Auflage, 1889), ferner „Vier Denkreden<lb/> auf deutsche Dichter: Lessing, Schiller, Goethe, Jean Paul," ein Kommentar zu<lb/> Faust und zahlreiche Aufsätze in litterarischen Zeitschriften, deren Zusammenstellung<lb/> in einer Gesamtausgabe eine verdienstliche Arbeit wäre. Wohlwollend gegen jede<lb/> neue, frische Geistesregung glaubte Carriere auch in der neuen naturalistischen Wen¬<lb/> dung unsrer schönen, „oft aber schon nicht mehr schönen" Litteratur nur einen<lb/> neuen „Sturm und Drang" und keineswegs ein Zeichen des Verfalls zu erkennen,<lb/> er hoffte, daß sich der neue Most zu einem guten Wein abklären werde, zu einer<lb/> Wirklichkeitspoesie, die aber bei aller Realistik nicht vergessen dürfe, daß sie Poesie<lb/> zu bleiben habe.</p><lb/> <p xml:id="ID_1198" next="#ID_1199"> Vou dem Geiste der Ästhetik, der auf Gleichgewicht zwischen Stoff und Form,<lb/> auf Aussöhnung von Natur und Geist, von Notwendigkeit und Freiheit gerichtet<lb/> ist, der, wie es schon Schiller und Hölderlin empfanden, zum Vieleinigen des alten<lb/> Heraklit verweist, war Carrieres gesamte Weltanschauung durchdrungen. Dieser<lb/> Geist mußte ihn aber bei seinen geschichtsphilosvphischen Forschungen notwendig zur<lb/> Würdigung Giordano Brunos leiten, und so ist er denn der erste gewesen, der in<lb/> seiner „Philosophischen Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen<lb/> zur Gegenwart" (erschienen 1847, neue Auflage 1888) den Bann unwürdiger Ver-<lb/> schweigung gebrochen hat, der auf dem unvergänglichen geistigen Nachlaß des Mär¬<lb/> tyrers vom Campo dei fiori lastete. Carriere fand in Giordano Bruno die „keim-<lb/> kräftige Totalität" der Philosophie und Religion der Zukunft. Ich selbst verdanke<lb/> ihm und Eugen Dühring die Anregung zu meinen Übersetzungen Brunoscher Dialoge.<lb/> Dabei ist wieder bemerkenswert, wie zwei dem äußern Anschein nach so verschieden<lb/> denkende Philosophen, wie der milde theistische Ästhetiker Carriere und der schnei¬<lb/> dige „Atheist" Dühring in der Würdigung des so lange verkannten Nolaners<lb/> zusammentreffen. Die Erklärung giebt uns das Goethische: „Name ist Schall und<lb/> Rauch" und Dührings Äußerung in seinen „Größen der modernen Litteratur,"<lb/> 1, 265: „Dichternaturen hätten vor andern Teilnehmern am Geistigen besondern<lb/> Grund gehabt, sich um Bruno zu bilden, anstatt durch Spinoza im günstigsten Falle<lb/> etwas auf sich wirken zu lassen, was nur als schwaches Echo vom überlegnen Noln-<lb/> nischen Genius her gelten kann. Auch hätte sich der deutsche Geist mit der ur¬<lb/> sprünglichen Monadenlehre etwas verwandt fühlen können; denn sie suchte sowohl<lb/> dem großen Ganzen als der individuellen Einzelheit der Wesen gerecht zu werde».<lb/> Auch müßte es vorzugsweise für den poetischen Sinn Reiz haben, die Fülle der<lb/> unmittelbaren Individualität von der Allheit nicht verschlungen, sondern nur um¬<lb/> fangen zu wissen. Das große ästhetische Weltproblem trifft hier mit dem logischen<lb/> zusammen." Carrieres Weltanschauung läßt sich wesentlich als die im Feuer der<lb/> Erkenntniskritik geläuterte Monadologie Brunos, als ein Jdealrealismus bezeichnen,<lb/> der sich, schulmäßig gesprochen, dem gleichzeitig vou Lotze, Ulrici und dem jüngern<lb/> Fichte vertretnen Theismus zugesellt. Religionsphilvsophisch wird hier der Gegensatz</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0396]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Standpunkts genötigt, dies mit der Bemerkung anzuerkennen, daß Carrieres „Ästhetik"
ebenso viel gelesen werde, wie die Wischers wenig; er spendet dann dem diesem
Buche inhaltlich am nächsten stehenden fünfbändigen Werke Carrieres: „Die Kunst
im Zusammenhange der Kulturentwicklung oder die Ideale der Menschheit" (dritte
Auflage, 1887) das Lob- „Dies Werk ist im besten Sinne populär und doch von
philosophischem Geiste durchdrungen und kann so, wie es ist, als ein Schatz der
Belehrung und Anregung für unser Volk und namentlich für unsre Jugend em¬
pfohlen werden/' An die ästhetischen Hauptschriften reihen sich Carrieres Lehr¬
buch der Poetik: „Die Poesie, ihr Wesen und ihre Formen, mit Grundzügen der
vergleichenden Litteraturgeschichte" (zweite Auflage, 1889), ferner „Vier Denkreden
auf deutsche Dichter: Lessing, Schiller, Goethe, Jean Paul," ein Kommentar zu
Faust und zahlreiche Aufsätze in litterarischen Zeitschriften, deren Zusammenstellung
in einer Gesamtausgabe eine verdienstliche Arbeit wäre. Wohlwollend gegen jede
neue, frische Geistesregung glaubte Carriere auch in der neuen naturalistischen Wen¬
dung unsrer schönen, „oft aber schon nicht mehr schönen" Litteratur nur einen
neuen „Sturm und Drang" und keineswegs ein Zeichen des Verfalls zu erkennen,
er hoffte, daß sich der neue Most zu einem guten Wein abklären werde, zu einer
Wirklichkeitspoesie, die aber bei aller Realistik nicht vergessen dürfe, daß sie Poesie
zu bleiben habe.
Vou dem Geiste der Ästhetik, der auf Gleichgewicht zwischen Stoff und Form,
auf Aussöhnung von Natur und Geist, von Notwendigkeit und Freiheit gerichtet
ist, der, wie es schon Schiller und Hölderlin empfanden, zum Vieleinigen des alten
Heraklit verweist, war Carrieres gesamte Weltanschauung durchdrungen. Dieser
Geist mußte ihn aber bei seinen geschichtsphilosvphischen Forschungen notwendig zur
Würdigung Giordano Brunos leiten, und so ist er denn der erste gewesen, der in
seiner „Philosophischen Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen
zur Gegenwart" (erschienen 1847, neue Auflage 1888) den Bann unwürdiger Ver-
schweigung gebrochen hat, der auf dem unvergänglichen geistigen Nachlaß des Mär¬
tyrers vom Campo dei fiori lastete. Carriere fand in Giordano Bruno die „keim-
kräftige Totalität" der Philosophie und Religion der Zukunft. Ich selbst verdanke
ihm und Eugen Dühring die Anregung zu meinen Übersetzungen Brunoscher Dialoge.
Dabei ist wieder bemerkenswert, wie zwei dem äußern Anschein nach so verschieden
denkende Philosophen, wie der milde theistische Ästhetiker Carriere und der schnei¬
dige „Atheist" Dühring in der Würdigung des so lange verkannten Nolaners
zusammentreffen. Die Erklärung giebt uns das Goethische: „Name ist Schall und
Rauch" und Dührings Äußerung in seinen „Größen der modernen Litteratur,"
1, 265: „Dichternaturen hätten vor andern Teilnehmern am Geistigen besondern
Grund gehabt, sich um Bruno zu bilden, anstatt durch Spinoza im günstigsten Falle
etwas auf sich wirken zu lassen, was nur als schwaches Echo vom überlegnen Noln-
nischen Genius her gelten kann. Auch hätte sich der deutsche Geist mit der ur¬
sprünglichen Monadenlehre etwas verwandt fühlen können; denn sie suchte sowohl
dem großen Ganzen als der individuellen Einzelheit der Wesen gerecht zu werde».
Auch müßte es vorzugsweise für den poetischen Sinn Reiz haben, die Fülle der
unmittelbaren Individualität von der Allheit nicht verschlungen, sondern nur um¬
fangen zu wissen. Das große ästhetische Weltproblem trifft hier mit dem logischen
zusammen." Carrieres Weltanschauung läßt sich wesentlich als die im Feuer der
Erkenntniskritik geläuterte Monadologie Brunos, als ein Jdealrealismus bezeichnen,
der sich, schulmäßig gesprochen, dem gleichzeitig vou Lotze, Ulrici und dem jüngern
Fichte vertretnen Theismus zugesellt. Religionsphilvsophisch wird hier der Gegensatz
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