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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Lili neues Buch über das alte Italien

der Quelle nachzuspüren. Daß zu diesen Eigenschaften noch ein gutes Teil
von jovialer Genügsamkeit und Bedürfnislosigkeit kommt, erraten wir aus den
beiläufigen Bemerkungen über Unterschlupf und Verpflegung, die in dieser
wenig bereiste" Gegend Italiens bisweilen sehr ursprünglich waren, immer aber
durch die Liebenswürdigkeit, Herzlichkeit und Uneigennützigkeit der Bewohner
erträglich gemacht wurden. Es mag sein, daß der gebildete Schweizer,
der eigentlich ein Universalmensch ist, in dem sich französische Höflichkeit, ger¬
manische Geradheit und italienische Klugheit zusammengefunden haben, leichter
den Weg zu den Herzen der Italiener findet, deren ausschließlicher Beruf meist
die Fremdenindustrie ist, als der Deutsche, besonders der norddeutsche. Einem
Norddeutschen, der zum erstenmale in ein Gasthaus in Ravenna, Rimini oder
Urbino kommt, wird es schwerlich gelingen, sich in das Vertrauen von Wirts¬
töchtern und wohlhabenden Bäuerinnen so einzuschmeicheln, daß sie ihm ihre
Photographien schenken. Diesem Vertrauen verdankt Bischer einige der inter¬
essantesten Abbildungen seines Werkes, z. B. das Bildnis eines jungen ravenna-
tischen Fräuleins, an dem er mit Recht den auch an den Venezianern be¬
obachteten "leichten semitisirenden Anflug" hervorhebt, jedoch bei diesem Exemplar
in einer "schwachen, durchaus unschädlichen Dosis." Wie sich diese Typen
bis auf unsre Zeit erhalten haben, lernt man am besten durch das Studium
der Gemälde und Skulpturen der alten italienischen Meister kennen. "Wie
oft, schreibt Bischer, bin ich im Römischen und in Toskcina unter dem Volke
den Madonnen alter Meister begegnet, und so auch im Veueziauischcn den
Typen, hier namentlich den männlichen, mit denen uns Paolo Veronese in
seiner Hochzeit von Kama bekannt gemacht hat."

Der stark ausgeprägte Unabhängigkeitssinn der schweizerischen Gelehrten,
Romanschriftsteller und Dichter, der natürliche Wiederhall ihrer Erziehung und
ihres Lebenslaufs, macht den Norddeutschen, insbesondre den Preußen, der mit
den Überlieferungen seines Landes eng verwachsen ist und darum vor allem, was
nicht mit der monarchischen Gesinnung übereinstimmt, eine natürliche Abnei¬
gung hat, die Lektüre schweizerischer Bücher bisweilen unbequem. An Äuße¬
rungen dieses Unabhüngigkeitssinnes fehlt es auch dem Buche Wischers nicht;
aber sie fließen so selbstverständlich, so wenig aufdringlich nebenher, daß auch
ein norddeutscher Leser -- der süddeutsche ist von vornherein freundnachbarlich
gestimmt -- keinen Anstoß daran nehmen wird. Daß Bischer trotzdem einer
von echtem deutschen Blute ist, dafür zeugt eine gelegentliche Äußerung über
das Denkmal ans dem Niederwald, zu der ihn der Anblick eines Denk¬
mals veranlaßt hat, das den für die Unabhängigkeit Italiens gefallnen in
Ravenna errichtet worden ist. Er macht dabei die feine Bemerkung, daß eine
Verbindung von "ideellen Landesmüttern in allegorischen Figuren" mit rea¬
listischen, aus dem Leben gegriffnen Gestalten nur dann ästhetisch oder künst¬
lerisch zu rechtfertigen sei, wenn beide in enge Beziehungen zu einander gebracht


Lili neues Buch über das alte Italien

der Quelle nachzuspüren. Daß zu diesen Eigenschaften noch ein gutes Teil
von jovialer Genügsamkeit und Bedürfnislosigkeit kommt, erraten wir aus den
beiläufigen Bemerkungen über Unterschlupf und Verpflegung, die in dieser
wenig bereiste» Gegend Italiens bisweilen sehr ursprünglich waren, immer aber
durch die Liebenswürdigkeit, Herzlichkeit und Uneigennützigkeit der Bewohner
erträglich gemacht wurden. Es mag sein, daß der gebildete Schweizer,
der eigentlich ein Universalmensch ist, in dem sich französische Höflichkeit, ger¬
manische Geradheit und italienische Klugheit zusammengefunden haben, leichter
den Weg zu den Herzen der Italiener findet, deren ausschließlicher Beruf meist
die Fremdenindustrie ist, als der Deutsche, besonders der norddeutsche. Einem
Norddeutschen, der zum erstenmale in ein Gasthaus in Ravenna, Rimini oder
Urbino kommt, wird es schwerlich gelingen, sich in das Vertrauen von Wirts¬
töchtern und wohlhabenden Bäuerinnen so einzuschmeicheln, daß sie ihm ihre
Photographien schenken. Diesem Vertrauen verdankt Bischer einige der inter¬
essantesten Abbildungen seines Werkes, z. B. das Bildnis eines jungen ravenna-
tischen Fräuleins, an dem er mit Recht den auch an den Venezianern be¬
obachteten „leichten semitisirenden Anflug" hervorhebt, jedoch bei diesem Exemplar
in einer „schwachen, durchaus unschädlichen Dosis." Wie sich diese Typen
bis auf unsre Zeit erhalten haben, lernt man am besten durch das Studium
der Gemälde und Skulpturen der alten italienischen Meister kennen. „Wie
oft, schreibt Bischer, bin ich im Römischen und in Toskcina unter dem Volke
den Madonnen alter Meister begegnet, und so auch im Veueziauischcn den
Typen, hier namentlich den männlichen, mit denen uns Paolo Veronese in
seiner Hochzeit von Kama bekannt gemacht hat."

Der stark ausgeprägte Unabhängigkeitssinn der schweizerischen Gelehrten,
Romanschriftsteller und Dichter, der natürliche Wiederhall ihrer Erziehung und
ihres Lebenslaufs, macht den Norddeutschen, insbesondre den Preußen, der mit
den Überlieferungen seines Landes eng verwachsen ist und darum vor allem, was
nicht mit der monarchischen Gesinnung übereinstimmt, eine natürliche Abnei¬
gung hat, die Lektüre schweizerischer Bücher bisweilen unbequem. An Äuße¬
rungen dieses Unabhüngigkeitssinnes fehlt es auch dem Buche Wischers nicht;
aber sie fließen so selbstverständlich, so wenig aufdringlich nebenher, daß auch
ein norddeutscher Leser — der süddeutsche ist von vornherein freundnachbarlich
gestimmt — keinen Anstoß daran nehmen wird. Daß Bischer trotzdem einer
von echtem deutschen Blute ist, dafür zeugt eine gelegentliche Äußerung über
das Denkmal ans dem Niederwald, zu der ihn der Anblick eines Denk¬
mals veranlaßt hat, das den für die Unabhängigkeit Italiens gefallnen in
Ravenna errichtet worden ist. Er macht dabei die feine Bemerkung, daß eine
Verbindung von „ideellen Landesmüttern in allegorischen Figuren" mit rea¬
listischen, aus dem Leben gegriffnen Gestalten nur dann ästhetisch oder künst¬
lerisch zu rechtfertigen sei, wenn beide in enge Beziehungen zu einander gebracht


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[0321] Lili neues Buch über das alte Italien der Quelle nachzuspüren. Daß zu diesen Eigenschaften noch ein gutes Teil von jovialer Genügsamkeit und Bedürfnislosigkeit kommt, erraten wir aus den beiläufigen Bemerkungen über Unterschlupf und Verpflegung, die in dieser wenig bereiste» Gegend Italiens bisweilen sehr ursprünglich waren, immer aber durch die Liebenswürdigkeit, Herzlichkeit und Uneigennützigkeit der Bewohner erträglich gemacht wurden. Es mag sein, daß der gebildete Schweizer, der eigentlich ein Universalmensch ist, in dem sich französische Höflichkeit, ger¬ manische Geradheit und italienische Klugheit zusammengefunden haben, leichter den Weg zu den Herzen der Italiener findet, deren ausschließlicher Beruf meist die Fremdenindustrie ist, als der Deutsche, besonders der norddeutsche. Einem Norddeutschen, der zum erstenmale in ein Gasthaus in Ravenna, Rimini oder Urbino kommt, wird es schwerlich gelingen, sich in das Vertrauen von Wirts¬ töchtern und wohlhabenden Bäuerinnen so einzuschmeicheln, daß sie ihm ihre Photographien schenken. Diesem Vertrauen verdankt Bischer einige der inter¬ essantesten Abbildungen seines Werkes, z. B. das Bildnis eines jungen ravenna- tischen Fräuleins, an dem er mit Recht den auch an den Venezianern be¬ obachteten „leichten semitisirenden Anflug" hervorhebt, jedoch bei diesem Exemplar in einer „schwachen, durchaus unschädlichen Dosis." Wie sich diese Typen bis auf unsre Zeit erhalten haben, lernt man am besten durch das Studium der Gemälde und Skulpturen der alten italienischen Meister kennen. „Wie oft, schreibt Bischer, bin ich im Römischen und in Toskcina unter dem Volke den Madonnen alter Meister begegnet, und so auch im Veueziauischcn den Typen, hier namentlich den männlichen, mit denen uns Paolo Veronese in seiner Hochzeit von Kama bekannt gemacht hat." Der stark ausgeprägte Unabhängigkeitssinn der schweizerischen Gelehrten, Romanschriftsteller und Dichter, der natürliche Wiederhall ihrer Erziehung und ihres Lebenslaufs, macht den Norddeutschen, insbesondre den Preußen, der mit den Überlieferungen seines Landes eng verwachsen ist und darum vor allem, was nicht mit der monarchischen Gesinnung übereinstimmt, eine natürliche Abnei¬ gung hat, die Lektüre schweizerischer Bücher bisweilen unbequem. An Äuße¬ rungen dieses Unabhüngigkeitssinnes fehlt es auch dem Buche Wischers nicht; aber sie fließen so selbstverständlich, so wenig aufdringlich nebenher, daß auch ein norddeutscher Leser — der süddeutsche ist von vornherein freundnachbarlich gestimmt — keinen Anstoß daran nehmen wird. Daß Bischer trotzdem einer von echtem deutschen Blute ist, dafür zeugt eine gelegentliche Äußerung über das Denkmal ans dem Niederwald, zu der ihn der Anblick eines Denk¬ mals veranlaßt hat, das den für die Unabhängigkeit Italiens gefallnen in Ravenna errichtet worden ist. Er macht dabei die feine Bemerkung, daß eine Verbindung von „ideellen Landesmüttern in allegorischen Figuren" mit rea¬ listischen, aus dem Leben gegriffnen Gestalten nur dann ästhetisch oder künst¬ lerisch zu rechtfertigen sei, wenn beide in enge Beziehungen zu einander gebracht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/321>, abgerufen am 22.07.2024.