Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Prozeßsucht und Prozeßverschleppnng

Wiederholt Versäumuisurteile gegen sie erlassen werden, und jedesmal vermag
sie diese durch einfachen Einspruch aus der Welt zu schaffen. Nur dann ist
es ihr nach dem jetzt geltenden Recht nicht möglich, wenn sie in der auf ihren
Einspruch angesetzten Verhandlung selbst nicht erscheint, also zweimal unmittelbar
hinter einander säumig wird. Diese Beschränkung des Einspruchs muß un¬
bedingt dahin ausgedehnt werden, daß er überhaupt nur einmal in einem an¬
hängige" Verfahren gegen das erste Bersäumnisurteil gewährt wird, daß gegen
jedes zweite Versäumuisurteil in der Sache selbst, auch wenn die Versäumnis
nicht unmittelbar ans die erste folgt, ein Einspruch ausgeschlossen ist. Außer¬
dem erscheint auch die gewährte Einspruchsfrist von zwei Wochen zu lang. Der
böswillige Schuldner wird sie sicher zum größten Teil verstreichen lassen, ehe
er Einspruch erhebt. Es wird also der Prozeß ohne allen Grund um vier¬
zehn Tage verlängert. Wir glauben, daß eine einwöchige Einspruchsfrist
genügt.

3. Am auffülligsten wird es klingen, wenn wir für die Verschleppung der
Prozesse den Anwaltszwang verantwortlich machen, d. h. den Zwang für die
Rechtsuchenden, sich außer vor dem Amtsgericht in ihren Sachen durch einen
Rechtsanwalt vor Gericht vertreten zu lassen. Aber auch hier ist Abhilfe
dringend nötig. Daß damit nicht eine Denunziation des Anwaltsstands be¬
absichtigt ist, werden die nachstehenden Ausführungen ohne weiteres erkennen
lassen. Es ist Thatsache, daß von der erwähnten Befugnis, den Verhandlungs¬
termin zu vertagen oder einfach zu umgehen, in den Anwaltsprozessen in einer
Häusigkeit Gebrauch gemacht wird, die alles Maß überschreitet und zu einer
unerhörten Verschleppung der Prozesse führt. Hierzu kommt, daß ein Anwalt,
da er die Kollegialität oft höher schätzt als seine Pflichten als Prozeßbevollmüch-
tigter, fast niemals ein Versäumuisurteil gegen den andern ausbringen läßt.
Welche Verschleppung durch derartige Vertagungen und Terminumgehungen
herbeigeführt werden, davon kann man sich eine Vorstellung machen aus der
Thatsache, daß uns Prozesse durch die Hand gegangen sind, in denen fünf bis
zehn mal hinter einander die Terminprotokolle nichts ausweisen als die Be¬
merkung: "Die Parteien beantragten, ohne zu verhandeln, sofort die Verhand¬
lung zu vertagen" -- "von den Parteien war niemand erschienen" -- "der
Beklagte war nicht erschienen, der Kläger entfernte sich, ohne einen Antrag
zu stellen" -- die Parteien, das soll heißen: die sie vertretenden Nechtsanwcilte.
Da nun bei der Überhänsung der Gerichte mit Prozeßsachen jede Vertagung
auf mindestens einen Monat hinaus erfolgen muß, weit häufiger auf noch
längere Zeit -- denn es ist selbstverständlich, daß der vertagte Termin ans
Ende der Liste gesetzt wird--, so wird man begreifen, daß ein Rechtsstreit ein
Jahr lang bei Gericht anhängig sein kann, ehe auch nur der erste Verhandlungs¬
termin zu stände kommt, und ehe das Gericht auch nur einmal in die Lage
versetzt wird, in der Sache selbst einen Beschluß zu fassen. Besonders auf-


Prozeßsucht und Prozeßverschleppnng

Wiederholt Versäumuisurteile gegen sie erlassen werden, und jedesmal vermag
sie diese durch einfachen Einspruch aus der Welt zu schaffen. Nur dann ist
es ihr nach dem jetzt geltenden Recht nicht möglich, wenn sie in der auf ihren
Einspruch angesetzten Verhandlung selbst nicht erscheint, also zweimal unmittelbar
hinter einander säumig wird. Diese Beschränkung des Einspruchs muß un¬
bedingt dahin ausgedehnt werden, daß er überhaupt nur einmal in einem an¬
hängige» Verfahren gegen das erste Bersäumnisurteil gewährt wird, daß gegen
jedes zweite Versäumuisurteil in der Sache selbst, auch wenn die Versäumnis
nicht unmittelbar ans die erste folgt, ein Einspruch ausgeschlossen ist. Außer¬
dem erscheint auch die gewährte Einspruchsfrist von zwei Wochen zu lang. Der
böswillige Schuldner wird sie sicher zum größten Teil verstreichen lassen, ehe
er Einspruch erhebt. Es wird also der Prozeß ohne allen Grund um vier¬
zehn Tage verlängert. Wir glauben, daß eine einwöchige Einspruchsfrist
genügt.

3. Am auffülligsten wird es klingen, wenn wir für die Verschleppung der
Prozesse den Anwaltszwang verantwortlich machen, d. h. den Zwang für die
Rechtsuchenden, sich außer vor dem Amtsgericht in ihren Sachen durch einen
Rechtsanwalt vor Gericht vertreten zu lassen. Aber auch hier ist Abhilfe
dringend nötig. Daß damit nicht eine Denunziation des Anwaltsstands be¬
absichtigt ist, werden die nachstehenden Ausführungen ohne weiteres erkennen
lassen. Es ist Thatsache, daß von der erwähnten Befugnis, den Verhandlungs¬
termin zu vertagen oder einfach zu umgehen, in den Anwaltsprozessen in einer
Häusigkeit Gebrauch gemacht wird, die alles Maß überschreitet und zu einer
unerhörten Verschleppung der Prozesse führt. Hierzu kommt, daß ein Anwalt,
da er die Kollegialität oft höher schätzt als seine Pflichten als Prozeßbevollmüch-
tigter, fast niemals ein Versäumuisurteil gegen den andern ausbringen läßt.
Welche Verschleppung durch derartige Vertagungen und Terminumgehungen
herbeigeführt werden, davon kann man sich eine Vorstellung machen aus der
Thatsache, daß uns Prozesse durch die Hand gegangen sind, in denen fünf bis
zehn mal hinter einander die Terminprotokolle nichts ausweisen als die Be¬
merkung: „Die Parteien beantragten, ohne zu verhandeln, sofort die Verhand¬
lung zu vertagen" — „von den Parteien war niemand erschienen" — „der
Beklagte war nicht erschienen, der Kläger entfernte sich, ohne einen Antrag
zu stellen" — die Parteien, das soll heißen: die sie vertretenden Nechtsanwcilte.
Da nun bei der Überhänsung der Gerichte mit Prozeßsachen jede Vertagung
auf mindestens einen Monat hinaus erfolgen muß, weit häufiger auf noch
längere Zeit — denn es ist selbstverständlich, daß der vertagte Termin ans
Ende der Liste gesetzt wird—, so wird man begreifen, daß ein Rechtsstreit ein
Jahr lang bei Gericht anhängig sein kann, ehe auch nur der erste Verhandlungs¬
termin zu stände kommt, und ehe das Gericht auch nur einmal in die Lage
versetzt wird, in der Sache selbst einen Beschluß zu fassen. Besonders auf-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0305" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219307"/>
          <fw type="header" place="top"> Prozeßsucht und Prozeßverschleppnng</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_902" prev="#ID_901"> Wiederholt Versäumuisurteile gegen sie erlassen werden, und jedesmal vermag<lb/>
sie diese durch einfachen Einspruch aus der Welt zu schaffen. Nur dann ist<lb/>
es ihr nach dem jetzt geltenden Recht nicht möglich, wenn sie in der auf ihren<lb/>
Einspruch angesetzten Verhandlung selbst nicht erscheint, also zweimal unmittelbar<lb/>
hinter einander säumig wird. Diese Beschränkung des Einspruchs muß un¬<lb/>
bedingt dahin ausgedehnt werden, daß er überhaupt nur einmal in einem an¬<lb/>
hängige» Verfahren gegen das erste Bersäumnisurteil gewährt wird, daß gegen<lb/>
jedes zweite Versäumuisurteil in der Sache selbst, auch wenn die Versäumnis<lb/>
nicht unmittelbar ans die erste folgt, ein Einspruch ausgeschlossen ist. Außer¬<lb/>
dem erscheint auch die gewährte Einspruchsfrist von zwei Wochen zu lang. Der<lb/>
böswillige Schuldner wird sie sicher zum größten Teil verstreichen lassen, ehe<lb/>
er Einspruch erhebt. Es wird also der Prozeß ohne allen Grund um vier¬<lb/>
zehn Tage verlängert. Wir glauben, daß eine einwöchige Einspruchsfrist<lb/>
genügt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_903" next="#ID_904"> 3. Am auffülligsten wird es klingen, wenn wir für die Verschleppung der<lb/>
Prozesse den Anwaltszwang verantwortlich machen, d. h. den Zwang für die<lb/>
Rechtsuchenden, sich außer vor dem Amtsgericht in ihren Sachen durch einen<lb/>
Rechtsanwalt vor Gericht vertreten zu lassen. Aber auch hier ist Abhilfe<lb/>
dringend nötig. Daß damit nicht eine Denunziation des Anwaltsstands be¬<lb/>
absichtigt ist, werden die nachstehenden Ausführungen ohne weiteres erkennen<lb/>
lassen. Es ist Thatsache, daß von der erwähnten Befugnis, den Verhandlungs¬<lb/>
termin zu vertagen oder einfach zu umgehen, in den Anwaltsprozessen in einer<lb/>
Häusigkeit Gebrauch gemacht wird, die alles Maß überschreitet und zu einer<lb/>
unerhörten Verschleppung der Prozesse führt. Hierzu kommt, daß ein Anwalt,<lb/>
da er die Kollegialität oft höher schätzt als seine Pflichten als Prozeßbevollmüch-<lb/>
tigter, fast niemals ein Versäumuisurteil gegen den andern ausbringen läßt.<lb/>
Welche Verschleppung durch derartige Vertagungen und Terminumgehungen<lb/>
herbeigeführt werden, davon kann man sich eine Vorstellung machen aus der<lb/>
Thatsache, daß uns Prozesse durch die Hand gegangen sind, in denen fünf bis<lb/>
zehn mal hinter einander die Terminprotokolle nichts ausweisen als die Be¬<lb/>
merkung: &#x201E;Die Parteien beantragten, ohne zu verhandeln, sofort die Verhand¬<lb/>
lung zu vertagen" &#x2014; &#x201E;von den Parteien war niemand erschienen" &#x2014; &#x201E;der<lb/>
Beklagte war nicht erschienen, der Kläger entfernte sich, ohne einen Antrag<lb/>
zu stellen" &#x2014; die Parteien, das soll heißen: die sie vertretenden Nechtsanwcilte.<lb/>
Da nun bei der Überhänsung der Gerichte mit Prozeßsachen jede Vertagung<lb/>
auf mindestens einen Monat hinaus erfolgen muß, weit häufiger auf noch<lb/>
längere Zeit &#x2014; denn es ist selbstverständlich, daß der vertagte Termin ans<lb/>
Ende der Liste gesetzt wird&#x2014;, so wird man begreifen, daß ein Rechtsstreit ein<lb/>
Jahr lang bei Gericht anhängig sein kann, ehe auch nur der erste Verhandlungs¬<lb/>
termin zu stände kommt, und ehe das Gericht auch nur einmal in die Lage<lb/>
versetzt wird, in der Sache selbst einen Beschluß zu fassen. Besonders auf-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0305] Prozeßsucht und Prozeßverschleppnng Wiederholt Versäumuisurteile gegen sie erlassen werden, und jedesmal vermag sie diese durch einfachen Einspruch aus der Welt zu schaffen. Nur dann ist es ihr nach dem jetzt geltenden Recht nicht möglich, wenn sie in der auf ihren Einspruch angesetzten Verhandlung selbst nicht erscheint, also zweimal unmittelbar hinter einander säumig wird. Diese Beschränkung des Einspruchs muß un¬ bedingt dahin ausgedehnt werden, daß er überhaupt nur einmal in einem an¬ hängige» Verfahren gegen das erste Bersäumnisurteil gewährt wird, daß gegen jedes zweite Versäumuisurteil in der Sache selbst, auch wenn die Versäumnis nicht unmittelbar ans die erste folgt, ein Einspruch ausgeschlossen ist. Außer¬ dem erscheint auch die gewährte Einspruchsfrist von zwei Wochen zu lang. Der böswillige Schuldner wird sie sicher zum größten Teil verstreichen lassen, ehe er Einspruch erhebt. Es wird also der Prozeß ohne allen Grund um vier¬ zehn Tage verlängert. Wir glauben, daß eine einwöchige Einspruchsfrist genügt. 3. Am auffülligsten wird es klingen, wenn wir für die Verschleppung der Prozesse den Anwaltszwang verantwortlich machen, d. h. den Zwang für die Rechtsuchenden, sich außer vor dem Amtsgericht in ihren Sachen durch einen Rechtsanwalt vor Gericht vertreten zu lassen. Aber auch hier ist Abhilfe dringend nötig. Daß damit nicht eine Denunziation des Anwaltsstands be¬ absichtigt ist, werden die nachstehenden Ausführungen ohne weiteres erkennen lassen. Es ist Thatsache, daß von der erwähnten Befugnis, den Verhandlungs¬ termin zu vertagen oder einfach zu umgehen, in den Anwaltsprozessen in einer Häusigkeit Gebrauch gemacht wird, die alles Maß überschreitet und zu einer unerhörten Verschleppung der Prozesse führt. Hierzu kommt, daß ein Anwalt, da er die Kollegialität oft höher schätzt als seine Pflichten als Prozeßbevollmüch- tigter, fast niemals ein Versäumuisurteil gegen den andern ausbringen läßt. Welche Verschleppung durch derartige Vertagungen und Terminumgehungen herbeigeführt werden, davon kann man sich eine Vorstellung machen aus der Thatsache, daß uns Prozesse durch die Hand gegangen sind, in denen fünf bis zehn mal hinter einander die Terminprotokolle nichts ausweisen als die Be¬ merkung: „Die Parteien beantragten, ohne zu verhandeln, sofort die Verhand¬ lung zu vertagen" — „von den Parteien war niemand erschienen" — „der Beklagte war nicht erschienen, der Kläger entfernte sich, ohne einen Antrag zu stellen" — die Parteien, das soll heißen: die sie vertretenden Nechtsanwcilte. Da nun bei der Überhänsung der Gerichte mit Prozeßsachen jede Vertagung auf mindestens einen Monat hinaus erfolgen muß, weit häufiger auf noch längere Zeit — denn es ist selbstverständlich, daß der vertagte Termin ans Ende der Liste gesetzt wird—, so wird man begreifen, daß ein Rechtsstreit ein Jahr lang bei Gericht anhängig sein kann, ehe auch nur der erste Verhandlungs¬ termin zu stände kommt, und ehe das Gericht auch nur einmal in die Lage versetzt wird, in der Sache selbst einen Beschluß zu fassen. Besonders auf-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/305
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/305>, abgerufen am 23.07.2024.