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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Ein Humorist als Politiker

Ein andermal sagt er: "Ich kann wahrhaftig nichts dafür, daß andre Leute
das Recht zu haben behaupten, etwas andres aus mir zu machen, als was
i" mir steckt!" Also läuft des Dichters Rat darauf hinaus: Lebe nach deiner
Natur! Nie kommt in seinen Werken der Fall vor, daß jemand seine Natur
änderte. Entwickelt -- ja, aber ändert -- nein! Dieser Entwicklungsgedanke ist
deutlich in unsrer Erzählung niedergelegt. Früher ging auf der roten Schanze
Kienbaum um. Jetzt ist die Gespensterkammer in Stopfkuchens, des Palüvuto-
logeu, geologisches und osteologisches Museum umgewandelt. Und dies Museum
ist das Symbol der Entwicklungsidce. Raabe sagt mit Goethe: Wenn sich die
Welt verbessern soll, so muß sich der Einzelne verbessern. Die Frage ist nur,
wie er das anfängt. Die Internationalisten wollen uns die Familie rauben,
die Wurzel aller geschichtlichen Entwicklung im Menschenleben. Raube läßt
zwar Stvpfkuchen über den geschichtlichen Sinn, der das beste im Menschen
sein solle, ironisch lächeln. Aber hier wird die Ironie selber irvnisirt. Stopf¬
kuchen ist geradezu ein Logbuch für die Lebensreise, die ein geschichtlicher
Entwicklungsprozeß sein soll und muß. Und je feindseliger sich die Gelehrten
des Sozialismus gegen die Familie stellen, desto fester stellt Raabe seinen
Stvpfkuchen in die Familie. Was er thut, thut er nur in diesem Rahmen.
In der Familie und im Einzelleben muß die Vvrwärtsentwicklung beginnen.

In Jean Pauls "Titan" kommt eine nachdenkliche Stelle vor: "Niemand
braucht etwas zu wissen, man sagt zum Menschen: ich kenne deine verruchte
That, der Mensch denkt zurück, er findet so eine." Das ist eine unbestreitbare
Thatsache. Der Engländer hat einen Ausdruck, der sie teilweise deckt: das
Skelett im Hause! Und Raabe hat für diese Thatsache ein erschütterndes
poetisches Symbol gefunden: den Briefträger Stvrzer. der, wie die Herren
von der Post ausgerechnet haben, in 54164 Berufsgehstunden fünfmal um
die Erde gewesen ist, ohne von zu Hause fortgekommen, d.h. innerlich vom
Fleck gekommen und seinem bösen Gewissen entronnen zu sein. Was laufen
und laufen wir doch alle, ohne innerlich vom Fleck zu kommen! Jeder hat
seinen Kienbaum totgeschlagen, jeder Gespenstergesindet aus seiner und der
Seinigen Phantasie fortzufegeu, jeder hat etwas in sich, das ihn innerlich un¬
frei macht. Und Stopfkuchen rät: Ein so behagliches Leben wie auf der roten
Schanze kann man im Grunde überall haben. Man muß nur von jedem Ort
den von Rechts und EwigkeitS wegen dranhaftenden Spuk ciuszutreibcn ver¬
stehen, und man sitzt immer gut. Stvpfkucheu hat nichts gethan als dies.
Das ist seine einzige wahre Heldenthat. Außerdem beschäftigt er sich rein mit
gar nichts, nur noch mit der Paläontologie. Ein kleinerer Dichter als Raabe
hätte ihn auch sonst noch zu einem nützlichen, tüchtigen Bürger, Stadtrat und
Mitglied von einem gemeinnützigen Vereine heranreifen lassen. Raabe mußte
so verfahren, wie er verfahren ist, um eindringlich zu zeigen, daß, wie alles
geschichtliche Leben, so auch jede einzelne Heldenthat in der Familie zu be-


Ein Humorist als Politiker

Ein andermal sagt er: „Ich kann wahrhaftig nichts dafür, daß andre Leute
das Recht zu haben behaupten, etwas andres aus mir zu machen, als was
i" mir steckt!" Also läuft des Dichters Rat darauf hinaus: Lebe nach deiner
Natur! Nie kommt in seinen Werken der Fall vor, daß jemand seine Natur
änderte. Entwickelt — ja, aber ändert — nein! Dieser Entwicklungsgedanke ist
deutlich in unsrer Erzählung niedergelegt. Früher ging auf der roten Schanze
Kienbaum um. Jetzt ist die Gespensterkammer in Stopfkuchens, des Palüvuto-
logeu, geologisches und osteologisches Museum umgewandelt. Und dies Museum
ist das Symbol der Entwicklungsidce. Raabe sagt mit Goethe: Wenn sich die
Welt verbessern soll, so muß sich der Einzelne verbessern. Die Frage ist nur,
wie er das anfängt. Die Internationalisten wollen uns die Familie rauben,
die Wurzel aller geschichtlichen Entwicklung im Menschenleben. Raube läßt
zwar Stvpfkuchen über den geschichtlichen Sinn, der das beste im Menschen
sein solle, ironisch lächeln. Aber hier wird die Ironie selber irvnisirt. Stopf¬
kuchen ist geradezu ein Logbuch für die Lebensreise, die ein geschichtlicher
Entwicklungsprozeß sein soll und muß. Und je feindseliger sich die Gelehrten
des Sozialismus gegen die Familie stellen, desto fester stellt Raabe seinen
Stvpfkuchen in die Familie. Was er thut, thut er nur in diesem Rahmen.
In der Familie und im Einzelleben muß die Vvrwärtsentwicklung beginnen.

In Jean Pauls „Titan" kommt eine nachdenkliche Stelle vor: „Niemand
braucht etwas zu wissen, man sagt zum Menschen: ich kenne deine verruchte
That, der Mensch denkt zurück, er findet so eine." Das ist eine unbestreitbare
Thatsache. Der Engländer hat einen Ausdruck, der sie teilweise deckt: das
Skelett im Hause! Und Raabe hat für diese Thatsache ein erschütterndes
poetisches Symbol gefunden: den Briefträger Stvrzer. der, wie die Herren
von der Post ausgerechnet haben, in 54164 Berufsgehstunden fünfmal um
die Erde gewesen ist, ohne von zu Hause fortgekommen, d.h. innerlich vom
Fleck gekommen und seinem bösen Gewissen entronnen zu sein. Was laufen
und laufen wir doch alle, ohne innerlich vom Fleck zu kommen! Jeder hat
seinen Kienbaum totgeschlagen, jeder Gespenstergesindet aus seiner und der
Seinigen Phantasie fortzufegeu, jeder hat etwas in sich, das ihn innerlich un¬
frei macht. Und Stopfkuchen rät: Ein so behagliches Leben wie auf der roten
Schanze kann man im Grunde überall haben. Man muß nur von jedem Ort
den von Rechts und EwigkeitS wegen dranhaftenden Spuk ciuszutreibcn ver¬
stehen, und man sitzt immer gut. Stvpfkucheu hat nichts gethan als dies.
Das ist seine einzige wahre Heldenthat. Außerdem beschäftigt er sich rein mit
gar nichts, nur noch mit der Paläontologie. Ein kleinerer Dichter als Raabe
hätte ihn auch sonst noch zu einem nützlichen, tüchtigen Bürger, Stadtrat und
Mitglied von einem gemeinnützigen Vereine heranreifen lassen. Raabe mußte
so verfahren, wie er verfahren ist, um eindringlich zu zeigen, daß, wie alles
geschichtliche Leben, so auch jede einzelne Heldenthat in der Familie zu be-


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[0285] Ein Humorist als Politiker Ein andermal sagt er: „Ich kann wahrhaftig nichts dafür, daß andre Leute das Recht zu haben behaupten, etwas andres aus mir zu machen, als was i" mir steckt!" Also läuft des Dichters Rat darauf hinaus: Lebe nach deiner Natur! Nie kommt in seinen Werken der Fall vor, daß jemand seine Natur änderte. Entwickelt — ja, aber ändert — nein! Dieser Entwicklungsgedanke ist deutlich in unsrer Erzählung niedergelegt. Früher ging auf der roten Schanze Kienbaum um. Jetzt ist die Gespensterkammer in Stopfkuchens, des Palüvuto- logeu, geologisches und osteologisches Museum umgewandelt. Und dies Museum ist das Symbol der Entwicklungsidce. Raabe sagt mit Goethe: Wenn sich die Welt verbessern soll, so muß sich der Einzelne verbessern. Die Frage ist nur, wie er das anfängt. Die Internationalisten wollen uns die Familie rauben, die Wurzel aller geschichtlichen Entwicklung im Menschenleben. Raube läßt zwar Stvpfkuchen über den geschichtlichen Sinn, der das beste im Menschen sein solle, ironisch lächeln. Aber hier wird die Ironie selber irvnisirt. Stopf¬ kuchen ist geradezu ein Logbuch für die Lebensreise, die ein geschichtlicher Entwicklungsprozeß sein soll und muß. Und je feindseliger sich die Gelehrten des Sozialismus gegen die Familie stellen, desto fester stellt Raabe seinen Stvpfkuchen in die Familie. Was er thut, thut er nur in diesem Rahmen. In der Familie und im Einzelleben muß die Vvrwärtsentwicklung beginnen. In Jean Pauls „Titan" kommt eine nachdenkliche Stelle vor: „Niemand braucht etwas zu wissen, man sagt zum Menschen: ich kenne deine verruchte That, der Mensch denkt zurück, er findet so eine." Das ist eine unbestreitbare Thatsache. Der Engländer hat einen Ausdruck, der sie teilweise deckt: das Skelett im Hause! Und Raabe hat für diese Thatsache ein erschütterndes poetisches Symbol gefunden: den Briefträger Stvrzer. der, wie die Herren von der Post ausgerechnet haben, in 54164 Berufsgehstunden fünfmal um die Erde gewesen ist, ohne von zu Hause fortgekommen, d.h. innerlich vom Fleck gekommen und seinem bösen Gewissen entronnen zu sein. Was laufen und laufen wir doch alle, ohne innerlich vom Fleck zu kommen! Jeder hat seinen Kienbaum totgeschlagen, jeder Gespenstergesindet aus seiner und der Seinigen Phantasie fortzufegeu, jeder hat etwas in sich, das ihn innerlich un¬ frei macht. Und Stopfkuchen rät: Ein so behagliches Leben wie auf der roten Schanze kann man im Grunde überall haben. Man muß nur von jedem Ort den von Rechts und EwigkeitS wegen dranhaftenden Spuk ciuszutreibcn ver¬ stehen, und man sitzt immer gut. Stvpfkucheu hat nichts gethan als dies. Das ist seine einzige wahre Heldenthat. Außerdem beschäftigt er sich rein mit gar nichts, nur noch mit der Paläontologie. Ein kleinerer Dichter als Raabe hätte ihn auch sonst noch zu einem nützlichen, tüchtigen Bürger, Stadtrat und Mitglied von einem gemeinnützigen Vereine heranreifen lassen. Raabe mußte so verfahren, wie er verfahren ist, um eindringlich zu zeigen, daß, wie alles geschichtliche Leben, so auch jede einzelne Heldenthat in der Familie zu be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/285>, abgerufen am 03.07.2024.