Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Das Christentum und die soziale Frage denke, folgt nicht ans meinem Christentum, sondern aus meinen wirtschaftlichen Es ist auch nicht richtig, zu sagen, das Christentum stimme einer sozial¬ Ich möchte hiermit aber nicht dem Christentum jede Bedeutung für die Grenzboten I 1395 32
Das Christentum und die soziale Frage denke, folgt nicht ans meinem Christentum, sondern aus meinen wirtschaftlichen Es ist auch nicht richtig, zu sagen, das Christentum stimme einer sozial¬ Ich möchte hiermit aber nicht dem Christentum jede Bedeutung für die Grenzboten I 1395 32
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0257" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219259"/> <fw type="header" place="top"> Das Christentum und die soziale Frage</fw><lb/> <p xml:id="ID_745" prev="#ID_744"> denke, folgt nicht ans meinem Christentum, sondern aus meinen wirtschaftlichen<lb/> Ansichten, und was so verschiednen Ursprungs ist, sollte man auch nicht durch¬<lb/> einanderwerfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_746"> Es ist auch nicht richtig, zu sagen, das Christentum stimme einer sozial¬<lb/> politischen Maßregel zu, wie es z. B. Pastor Schall in seinen Hamburger<lb/> Reden thut. Das Christentum mag die Gesinnung billigen, aus der eine solche<lb/> Maßregel hervorgeht; diese selbst muß von andrer Seite anerkannt und be¬<lb/> stritten werden. Es giebt keine christliche Volkswirtschaftslehre, so wenig es<lb/> eine christliche Geographie giebt; darum ist es auch unthunlich, einzelne Ma߬<lb/> regeln und Vorschläge zu messen, ob sie der christlichen Idee entsprechen, wie<lb/> Pastor Göhre thun wollte (vierter Evangelisch-sozialer Kongreß). Man bekäme<lb/> dann nur ein Sammelsurium von Einzelheiten, die sich, volkswirtschaftlich be¬<lb/> trachtet, vielleicht gegenseitig aufheben würden. Das Christentum bekämpft<lb/> weder einzelne wirtschaftliche Vorschlüge, noch ganze Systeme, sondern nur un¬<lb/> christlichen, materialistischen Geist, wo es ihn findet. Es wird darüber nur<lb/> negativ urteilen, indem es auf die sittlichen Schäden hinweist, die dabei hervor¬<lb/> treten; die Vorschlüge und Versuche zur Abhilfe müssen aber dann von denen<lb/> ausgehen, die dazu durch ihre Stellung oder ihre Kenntnisse den Beruf haben. —</p><lb/> <p xml:id="ID_747" next="#ID_748"> Ich möchte hiermit aber nicht dem Christentum jede Bedeutung für die<lb/> Lösung der sozialen Wirren absprechen. Die bisherigen Ausführungen sollen<lb/> nur betonen, daß dem Christentum keine unmittelbare Gewalt über das soziale<lb/> Leben zusteht, und daß es daher nicht unmittelbar bei sozialen Reformen mit¬<lb/> wirken kann. Nun giebt es aber ein Gebiet, wo sehr viele eine solche un¬<lb/> mittelbare Mitwirkung sehen, d. i. die innere Mission. Aber ich bin mit Pastor<lb/> Schall überzeugt, daß die innere Mission gar nicht unmittelbar zur Heilung<lb/> der sozialen Zerrüttungen beiträgt, ohne daß ich deshalb ihre Arbeit irgendwie<lb/> verkleinern möchte. Ich greife ein bestimmtes Beispiel, die Arbeiterkolonien<lb/> heraus. Nehmen wir an, die Arbeiterkolonien wären durch Heimatskolonien<lb/> erweitert und überhaupt so vervollkommnet, daß sie alle arbeitswilligen Wandrer<lb/> aufnehmen und ihnen eine neue Existenz verschaffen könnten. Sie würden<lb/> dann offenbar ihre Aufgabe vollkommen erfüllen, aber zur Lösung der sozialen<lb/> Frage ebenso wenig unmittelbar nützen wie jetzt. Denn nicht das ist in diesem<lb/> Fall die zu lösende Aufgabe, jenen Wandrern irgend ein Unterkommen und<lb/> eine Existenz irgend welcher Art zu verschaffen, sondern der Schaden liegt<lb/> darin, daß unsre Wirtschaftsordnung fort und fort arbeitswillige Leute auf<lb/> die Landstraße wirft, daß die fortschreitende Steigerung der Arbeit den Ar¬<lb/> beiter immer früher für seinen Beruf untauglich macht und ähnliches. Diese<lb/> Schäden aber werden auch durch die fehlerlosesten Arbeiterkolonien nicht ge¬<lb/> heilt, sondern höchstens vertuscht. Ähnlich ist es bei den andern Unterneh¬<lb/> mungen der innern Mission. Soll die innere Mission unmittelbar zur Lösung<lb/> der sozialen Frage beitragen, so kann man nnr sagen, daß sie diese Aufgabe</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1395 32</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0257]
Das Christentum und die soziale Frage
denke, folgt nicht ans meinem Christentum, sondern aus meinen wirtschaftlichen
Ansichten, und was so verschiednen Ursprungs ist, sollte man auch nicht durch¬
einanderwerfen.
Es ist auch nicht richtig, zu sagen, das Christentum stimme einer sozial¬
politischen Maßregel zu, wie es z. B. Pastor Schall in seinen Hamburger
Reden thut. Das Christentum mag die Gesinnung billigen, aus der eine solche
Maßregel hervorgeht; diese selbst muß von andrer Seite anerkannt und be¬
stritten werden. Es giebt keine christliche Volkswirtschaftslehre, so wenig es
eine christliche Geographie giebt; darum ist es auch unthunlich, einzelne Ma߬
regeln und Vorschläge zu messen, ob sie der christlichen Idee entsprechen, wie
Pastor Göhre thun wollte (vierter Evangelisch-sozialer Kongreß). Man bekäme
dann nur ein Sammelsurium von Einzelheiten, die sich, volkswirtschaftlich be¬
trachtet, vielleicht gegenseitig aufheben würden. Das Christentum bekämpft
weder einzelne wirtschaftliche Vorschlüge, noch ganze Systeme, sondern nur un¬
christlichen, materialistischen Geist, wo es ihn findet. Es wird darüber nur
negativ urteilen, indem es auf die sittlichen Schäden hinweist, die dabei hervor¬
treten; die Vorschlüge und Versuche zur Abhilfe müssen aber dann von denen
ausgehen, die dazu durch ihre Stellung oder ihre Kenntnisse den Beruf haben. —
Ich möchte hiermit aber nicht dem Christentum jede Bedeutung für die
Lösung der sozialen Wirren absprechen. Die bisherigen Ausführungen sollen
nur betonen, daß dem Christentum keine unmittelbare Gewalt über das soziale
Leben zusteht, und daß es daher nicht unmittelbar bei sozialen Reformen mit¬
wirken kann. Nun giebt es aber ein Gebiet, wo sehr viele eine solche un¬
mittelbare Mitwirkung sehen, d. i. die innere Mission. Aber ich bin mit Pastor
Schall überzeugt, daß die innere Mission gar nicht unmittelbar zur Heilung
der sozialen Zerrüttungen beiträgt, ohne daß ich deshalb ihre Arbeit irgendwie
verkleinern möchte. Ich greife ein bestimmtes Beispiel, die Arbeiterkolonien
heraus. Nehmen wir an, die Arbeiterkolonien wären durch Heimatskolonien
erweitert und überhaupt so vervollkommnet, daß sie alle arbeitswilligen Wandrer
aufnehmen und ihnen eine neue Existenz verschaffen könnten. Sie würden
dann offenbar ihre Aufgabe vollkommen erfüllen, aber zur Lösung der sozialen
Frage ebenso wenig unmittelbar nützen wie jetzt. Denn nicht das ist in diesem
Fall die zu lösende Aufgabe, jenen Wandrern irgend ein Unterkommen und
eine Existenz irgend welcher Art zu verschaffen, sondern der Schaden liegt
darin, daß unsre Wirtschaftsordnung fort und fort arbeitswillige Leute auf
die Landstraße wirft, daß die fortschreitende Steigerung der Arbeit den Ar¬
beiter immer früher für seinen Beruf untauglich macht und ähnliches. Diese
Schäden aber werden auch durch die fehlerlosesten Arbeiterkolonien nicht ge¬
heilt, sondern höchstens vertuscht. Ähnlich ist es bei den andern Unterneh¬
mungen der innern Mission. Soll die innere Mission unmittelbar zur Lösung
der sozialen Frage beitragen, so kann man nnr sagen, daß sie diese Aufgabe
Grenzboten I 1395 32
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |