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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Handwerkskammern

liebe Ereignis geworden ist. Kaum der zehnte Teil des gesamten Handwerker¬
standes von 3 bis 4 Millionen etwa 300000 Meister -- ist in den In¬
nungen orgauistrt; in Süddeutschland blüht vorläufig noch weit mehr der
Gewerbeverein als die Innung. Manche Innungen machen von ihren Pflichten
nnr einen sehr bescheidnen Gebrauch. Kurz, es werden wohl niemals alle
Blütenträume reifen, die die Junungsschwärmer angesponnen haben und weiter
spinnen. Immerhin sind die Innungen schon jetzt für Norddeutschland ein
fester Sammelpunkt für die Interessen des Handwerks; sie fördern, auf alte
Überlieferungen gestützt, einen gewissen Korpsgeist unter den Erwerbsgenossen,
sie üben heilsame Kontrolle aus, sie bilden llnterstützungskassen, errichten Ar¬
beitsnachweise, sorgen sür Fachbildung, kurz, sie sichern auch dem heutigen
Handwerker einen beträchtlichen Teil der Vorteile der alten Zunft ohne deren
peinliche Engherzigkeit.

Freiherr von Berlepsch wollte nun mit einem Federstrich die bestehenden
Innungen preisgeben und die Fachgenossenschaften an ihre Stelle setzen, weil
sie nicht die Gesamtheit der Handwerker darstellten, und weil sich angeblich des¬
wegen die übrigen Organisativnspläne und die Lehrlingsvorschrifteu nicht mit
ihnen durchführen ließen. Der zweite Teil dieses Satzes läßt sich bestreikn,
man kann mit einiger Begründung für Beibehaltung und Stärkung der In¬
nungen und für ihre Ergänzung durch Handwerkskammern eintreten, die Vor¬
schriften über das Lehrlinaswesen lassen sich mit ihnen sehr wohl durchführen.
Wollte man jetzt wieder mit der Gewerbepvlitit umschwenken und die Innungen
zum alten Eisen werfen, so würde dieser Mangel an Stetigkeit, dieses Tasten
und Versuchen einen höchst ungünstigen Eindruck machen.

Prüfe man daher lieber, was gegenwärtig die Entfaltung der Innungen
hindert, und räume man mit diesen Hindernissen auf. Die beste Arbeit in
dieser Hinsicht werden allerdings die Innungen selbst besorgen müssen, indem
sie noch mehr als bisher Positives für den Handwerkerstand leisteten. Aber auch
in unsrer Gesetzgebung und Verwaltung ist vielerlei Unklares und Unsicheres,
was an vielen Orten das Aufblühen der Innungen hindert. Werden doch an
der einen Stelle ohne große Schwierigkeiten einer Innung die Vorrechte aus
den i<)<) o und 100 1 der Reichsgewerbeordnung gewährt, an einer andern,
wo vielleicht ebenso oder noch mehr zu rechtfertigende Gründe vorliegen, werden
sie verweigert, vielleicht nur, weil sich der zur Entscheidung berufne Beamte
gerade nicht für die Sache interessirt. Anderwärts wieder, wo Jnnnngs-
privilegien gewährt sind, können die Innungen keinen durchgreifenden Gebrauch
davon machen, weil oft gerade die leistungsfähigsten Gewerbtreibenden ihre
Pflichten mit der Ausrede bestreiten, sie wären Klein- oder Mittelindustrielle
und keine Handwerker, ihre Lehrlinge "jungendliche Arbeiter" und keine Lehrlinge,
und dergleichen mehr. In solchen Fällen bringen die gewissenhaften Hand¬
werker nur Opfer an Zeit und Geld für die Gewissenlosen und Geriebnen.


Die Handwerkskammern

liebe Ereignis geworden ist. Kaum der zehnte Teil des gesamten Handwerker¬
standes von 3 bis 4 Millionen etwa 300000 Meister — ist in den In¬
nungen orgauistrt; in Süddeutschland blüht vorläufig noch weit mehr der
Gewerbeverein als die Innung. Manche Innungen machen von ihren Pflichten
nnr einen sehr bescheidnen Gebrauch. Kurz, es werden wohl niemals alle
Blütenträume reifen, die die Junungsschwärmer angesponnen haben und weiter
spinnen. Immerhin sind die Innungen schon jetzt für Norddeutschland ein
fester Sammelpunkt für die Interessen des Handwerks; sie fördern, auf alte
Überlieferungen gestützt, einen gewissen Korpsgeist unter den Erwerbsgenossen,
sie üben heilsame Kontrolle aus, sie bilden llnterstützungskassen, errichten Ar¬
beitsnachweise, sorgen sür Fachbildung, kurz, sie sichern auch dem heutigen
Handwerker einen beträchtlichen Teil der Vorteile der alten Zunft ohne deren
peinliche Engherzigkeit.

Freiherr von Berlepsch wollte nun mit einem Federstrich die bestehenden
Innungen preisgeben und die Fachgenossenschaften an ihre Stelle setzen, weil
sie nicht die Gesamtheit der Handwerker darstellten, und weil sich angeblich des¬
wegen die übrigen Organisativnspläne und die Lehrlingsvorschrifteu nicht mit
ihnen durchführen ließen. Der zweite Teil dieses Satzes läßt sich bestreikn,
man kann mit einiger Begründung für Beibehaltung und Stärkung der In¬
nungen und für ihre Ergänzung durch Handwerkskammern eintreten, die Vor¬
schriften über das Lehrlinaswesen lassen sich mit ihnen sehr wohl durchführen.
Wollte man jetzt wieder mit der Gewerbepvlitit umschwenken und die Innungen
zum alten Eisen werfen, so würde dieser Mangel an Stetigkeit, dieses Tasten
und Versuchen einen höchst ungünstigen Eindruck machen.

Prüfe man daher lieber, was gegenwärtig die Entfaltung der Innungen
hindert, und räume man mit diesen Hindernissen auf. Die beste Arbeit in
dieser Hinsicht werden allerdings die Innungen selbst besorgen müssen, indem
sie noch mehr als bisher Positives für den Handwerkerstand leisteten. Aber auch
in unsrer Gesetzgebung und Verwaltung ist vielerlei Unklares und Unsicheres,
was an vielen Orten das Aufblühen der Innungen hindert. Werden doch an
der einen Stelle ohne große Schwierigkeiten einer Innung die Vorrechte aus
den i<)<) o und 100 1 der Reichsgewerbeordnung gewährt, an einer andern,
wo vielleicht ebenso oder noch mehr zu rechtfertigende Gründe vorliegen, werden
sie verweigert, vielleicht nur, weil sich der zur Entscheidung berufne Beamte
gerade nicht für die Sache interessirt. Anderwärts wieder, wo Jnnnngs-
privilegien gewährt sind, können die Innungen keinen durchgreifenden Gebrauch
davon machen, weil oft gerade die leistungsfähigsten Gewerbtreibenden ihre
Pflichten mit der Ausrede bestreiten, sie wären Klein- oder Mittelindustrielle
und keine Handwerker, ihre Lehrlinge „jungendliche Arbeiter" und keine Lehrlinge,
und dergleichen mehr. In solchen Fällen bringen die gewissenhaften Hand¬
werker nur Opfer an Zeit und Geld für die Gewissenlosen und Geriebnen.


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[0219] Die Handwerkskammern liebe Ereignis geworden ist. Kaum der zehnte Teil des gesamten Handwerker¬ standes von 3 bis 4 Millionen etwa 300000 Meister — ist in den In¬ nungen orgauistrt; in Süddeutschland blüht vorläufig noch weit mehr der Gewerbeverein als die Innung. Manche Innungen machen von ihren Pflichten nnr einen sehr bescheidnen Gebrauch. Kurz, es werden wohl niemals alle Blütenträume reifen, die die Junungsschwärmer angesponnen haben und weiter spinnen. Immerhin sind die Innungen schon jetzt für Norddeutschland ein fester Sammelpunkt für die Interessen des Handwerks; sie fördern, auf alte Überlieferungen gestützt, einen gewissen Korpsgeist unter den Erwerbsgenossen, sie üben heilsame Kontrolle aus, sie bilden llnterstützungskassen, errichten Ar¬ beitsnachweise, sorgen sür Fachbildung, kurz, sie sichern auch dem heutigen Handwerker einen beträchtlichen Teil der Vorteile der alten Zunft ohne deren peinliche Engherzigkeit. Freiherr von Berlepsch wollte nun mit einem Federstrich die bestehenden Innungen preisgeben und die Fachgenossenschaften an ihre Stelle setzen, weil sie nicht die Gesamtheit der Handwerker darstellten, und weil sich angeblich des¬ wegen die übrigen Organisativnspläne und die Lehrlingsvorschrifteu nicht mit ihnen durchführen ließen. Der zweite Teil dieses Satzes läßt sich bestreikn, man kann mit einiger Begründung für Beibehaltung und Stärkung der In¬ nungen und für ihre Ergänzung durch Handwerkskammern eintreten, die Vor¬ schriften über das Lehrlinaswesen lassen sich mit ihnen sehr wohl durchführen. Wollte man jetzt wieder mit der Gewerbepvlitit umschwenken und die Innungen zum alten Eisen werfen, so würde dieser Mangel an Stetigkeit, dieses Tasten und Versuchen einen höchst ungünstigen Eindruck machen. Prüfe man daher lieber, was gegenwärtig die Entfaltung der Innungen hindert, und räume man mit diesen Hindernissen auf. Die beste Arbeit in dieser Hinsicht werden allerdings die Innungen selbst besorgen müssen, indem sie noch mehr als bisher Positives für den Handwerkerstand leisteten. Aber auch in unsrer Gesetzgebung und Verwaltung ist vielerlei Unklares und Unsicheres, was an vielen Orten das Aufblühen der Innungen hindert. Werden doch an der einen Stelle ohne große Schwierigkeiten einer Innung die Vorrechte aus den i<)<) o und 100 1 der Reichsgewerbeordnung gewährt, an einer andern, wo vielleicht ebenso oder noch mehr zu rechtfertigende Gründe vorliegen, werden sie verweigert, vielleicht nur, weil sich der zur Entscheidung berufne Beamte gerade nicht für die Sache interessirt. Anderwärts wieder, wo Jnnnngs- privilegien gewährt sind, können die Innungen keinen durchgreifenden Gebrauch davon machen, weil oft gerade die leistungsfähigsten Gewerbtreibenden ihre Pflichten mit der Ausrede bestreiten, sie wären Klein- oder Mittelindustrielle und keine Handwerker, ihre Lehrlinge „jungendliche Arbeiter" und keine Lehrlinge, und dergleichen mehr. In solchen Fällen bringen die gewissenhaften Hand¬ werker nur Opfer an Zeit und Geld für die Gewissenlosen und Geriebnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/219>, abgerufen am 26.06.2024.