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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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solchen Boden möchten wir, nach der Lage der parlamentarischen Machtverhält¬
nisse und nach dem gegenwärtigen Stande der Handwerkerbewegung, die Pläne
zur Errichtung von Handwerkskammern ansehen.

Die Handwerker selbst verlangen Handwerkskammern schon seit den Tagen
des sogenannten Handwerkerparlaments im Frankfurter Römer im Jahre 1848,
sie haben auf ihren Handwerkertagen in Dresden, Hannover, Leipzig, Quedlin¬
burg, Kassel. Köln, Darmstadt, Magdeburg, Frankfurt ni. M., Berlin, Kosen,
Dortmund, München und wieder Berlin Interessenvertretungen, anfangs in
der Form von Gewerberüteu, Gewcrbekammeru, Gewerbehandwerkerkammern,
später von Jnnnngskammern und schließlich in der von Handwerkskammern
verlangt. Das preußische Abgeordnetenhaus und der deutsche Reichstag beiden
sich wiederholt mit der Angelegenheit eingehender beschäftigt. Im Reichstage
brachte der Abgeordnete Herwig (konservativ) 1881 den Antrag ein, die Er¬
richtung von Handwerkerkammern "in Erwägung zu ziehen," der Antrag wurde
angenommen, und da er bei der Regierung keine Wirkung hatte, 1884 von
dem Abgeordneten Ackermann (konservativ) und Genossen wiederholt. Ein ver¬
mittelnder Antrag Meyers (nationalliberal), der die Errichtung von Gewerbe-
kainmern empfahl, wurde wiederum angenommen. Ferner wurde 1891 im
Reichstage über die Sache verhandelt; auf eine Jnterpellation erklärte damals
der Staatssekretär von Bötticher: "Wir denken uns die Organisation des ge¬
samten Handwerks in der Weise, daß wir Handwerker- oder Gewerbekammern
errichten wollen, die für die einzelnen Bezirke eingerichtet werden, und denen
der gesamte Handwerkerstand dieser Bezirke unterworfen oder an denen er be¬
teiligt ist." Der Minister fügte hinzu, er hoffe, die Organisation werde keinen
Widerstand im Reichstage finden, denn das Handwerk sei ebenso berechtigt wie
andre Erwerbsstäude, eine Interessenvertretung zu verlange". In der sich an¬
schließenden Debatte forderten die Konservativen und daS Zentrum, daß die
Organisation obligatorisch werde und weitgehende Befugnisse erhalte. Das
gleiche brachten die Vertreter des Zentrums bei der im Jahre 1892 wiederum
im Anschluß an eine Jnterpellation aufgenommenen Beratung vor, während
von nntivnallibernler Seite vor einer zu engen Abgrenzung des Gewerbes in
den Kammern gewarnt wurde. 1893 folgte dann der schon besprochne Ent-
wurf Berlcpschs. Zuletzt ist die Angelegenheit infolge der Jnterpellation des
nationalliberaleu Abgeordneten Freiherrn Hehl zu Herrnsheim am 14, und
15. Januar dieses Jahres behandelt worden. Der Handelsminister teilte mit,
daß noch in dieser Reichstagssession ein Gesetz über Handwerkskammeru vor¬
gelegt werdeu würde. Nimmt man noch hinzu, daß gleichzeitig eine gründliche
und erschöpfende volkswirtschaftliche Litteratur über die Interessenvertretung ent¬
standen ist, so darf mau wohl sagen, daß die seit etwa fünfzig Jahren erörterte
Angelegenheit allmählich spruchreif geworden sei, und berücksichtigt man, daß
sich jetzt auch die Vertreter der Regierungen für die obligatorische Form eut


Greuzbot-n I 1895 37

solchen Boden möchten wir, nach der Lage der parlamentarischen Machtverhält¬
nisse und nach dem gegenwärtigen Stande der Handwerkerbewegung, die Pläne
zur Errichtung von Handwerkskammern ansehen.

Die Handwerker selbst verlangen Handwerkskammern schon seit den Tagen
des sogenannten Handwerkerparlaments im Frankfurter Römer im Jahre 1848,
sie haben auf ihren Handwerkertagen in Dresden, Hannover, Leipzig, Quedlin¬
burg, Kassel. Köln, Darmstadt, Magdeburg, Frankfurt ni. M., Berlin, Kosen,
Dortmund, München und wieder Berlin Interessenvertretungen, anfangs in
der Form von Gewerberüteu, Gewcrbekammeru, Gewerbehandwerkerkammern,
später von Jnnnngskammern und schließlich in der von Handwerkskammern
verlangt. Das preußische Abgeordnetenhaus und der deutsche Reichstag beiden
sich wiederholt mit der Angelegenheit eingehender beschäftigt. Im Reichstage
brachte der Abgeordnete Herwig (konservativ) 1881 den Antrag ein, die Er¬
richtung von Handwerkerkammern „in Erwägung zu ziehen," der Antrag wurde
angenommen, und da er bei der Regierung keine Wirkung hatte, 1884 von
dem Abgeordneten Ackermann (konservativ) und Genossen wiederholt. Ein ver¬
mittelnder Antrag Meyers (nationalliberal), der die Errichtung von Gewerbe-
kainmern empfahl, wurde wiederum angenommen. Ferner wurde 1891 im
Reichstage über die Sache verhandelt; auf eine Jnterpellation erklärte damals
der Staatssekretär von Bötticher: „Wir denken uns die Organisation des ge¬
samten Handwerks in der Weise, daß wir Handwerker- oder Gewerbekammern
errichten wollen, die für die einzelnen Bezirke eingerichtet werden, und denen
der gesamte Handwerkerstand dieser Bezirke unterworfen oder an denen er be¬
teiligt ist." Der Minister fügte hinzu, er hoffe, die Organisation werde keinen
Widerstand im Reichstage finden, denn das Handwerk sei ebenso berechtigt wie
andre Erwerbsstäude, eine Interessenvertretung zu verlange». In der sich an¬
schließenden Debatte forderten die Konservativen und daS Zentrum, daß die
Organisation obligatorisch werde und weitgehende Befugnisse erhalte. Das
gleiche brachten die Vertreter des Zentrums bei der im Jahre 1892 wiederum
im Anschluß an eine Jnterpellation aufgenommenen Beratung vor, während
von nntivnallibernler Seite vor einer zu engen Abgrenzung des Gewerbes in
den Kammern gewarnt wurde. 1893 folgte dann der schon besprochne Ent-
wurf Berlcpschs. Zuletzt ist die Angelegenheit infolge der Jnterpellation des
nationalliberaleu Abgeordneten Freiherrn Hehl zu Herrnsheim am 14, und
15. Januar dieses Jahres behandelt worden. Der Handelsminister teilte mit,
daß noch in dieser Reichstagssession ein Gesetz über Handwerkskammeru vor¬
gelegt werdeu würde. Nimmt man noch hinzu, daß gleichzeitig eine gründliche
und erschöpfende volkswirtschaftliche Litteratur über die Interessenvertretung ent¬
standen ist, so darf mau wohl sagen, daß die seit etwa fünfzig Jahren erörterte
Angelegenheit allmählich spruchreif geworden sei, und berücksichtigt man, daß
sich jetzt auch die Vertreter der Regierungen für die obligatorische Form eut


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[0217] solchen Boden möchten wir, nach der Lage der parlamentarischen Machtverhält¬ nisse und nach dem gegenwärtigen Stande der Handwerkerbewegung, die Pläne zur Errichtung von Handwerkskammern ansehen. Die Handwerker selbst verlangen Handwerkskammern schon seit den Tagen des sogenannten Handwerkerparlaments im Frankfurter Römer im Jahre 1848, sie haben auf ihren Handwerkertagen in Dresden, Hannover, Leipzig, Quedlin¬ burg, Kassel. Köln, Darmstadt, Magdeburg, Frankfurt ni. M., Berlin, Kosen, Dortmund, München und wieder Berlin Interessenvertretungen, anfangs in der Form von Gewerberüteu, Gewcrbekammeru, Gewerbehandwerkerkammern, später von Jnnnngskammern und schließlich in der von Handwerkskammern verlangt. Das preußische Abgeordnetenhaus und der deutsche Reichstag beiden sich wiederholt mit der Angelegenheit eingehender beschäftigt. Im Reichstage brachte der Abgeordnete Herwig (konservativ) 1881 den Antrag ein, die Er¬ richtung von Handwerkerkammern „in Erwägung zu ziehen," der Antrag wurde angenommen, und da er bei der Regierung keine Wirkung hatte, 1884 von dem Abgeordneten Ackermann (konservativ) und Genossen wiederholt. Ein ver¬ mittelnder Antrag Meyers (nationalliberal), der die Errichtung von Gewerbe- kainmern empfahl, wurde wiederum angenommen. Ferner wurde 1891 im Reichstage über die Sache verhandelt; auf eine Jnterpellation erklärte damals der Staatssekretär von Bötticher: „Wir denken uns die Organisation des ge¬ samten Handwerks in der Weise, daß wir Handwerker- oder Gewerbekammern errichten wollen, die für die einzelnen Bezirke eingerichtet werden, und denen der gesamte Handwerkerstand dieser Bezirke unterworfen oder an denen er be¬ teiligt ist." Der Minister fügte hinzu, er hoffe, die Organisation werde keinen Widerstand im Reichstage finden, denn das Handwerk sei ebenso berechtigt wie andre Erwerbsstäude, eine Interessenvertretung zu verlange». In der sich an¬ schließenden Debatte forderten die Konservativen und daS Zentrum, daß die Organisation obligatorisch werde und weitgehende Befugnisse erhalte. Das gleiche brachten die Vertreter des Zentrums bei der im Jahre 1892 wiederum im Anschluß an eine Jnterpellation aufgenommenen Beratung vor, während von nntivnallibernler Seite vor einer zu engen Abgrenzung des Gewerbes in den Kammern gewarnt wurde. 1893 folgte dann der schon besprochne Ent- wurf Berlcpschs. Zuletzt ist die Angelegenheit infolge der Jnterpellation des nationalliberaleu Abgeordneten Freiherrn Hehl zu Herrnsheim am 14, und 15. Januar dieses Jahres behandelt worden. Der Handelsminister teilte mit, daß noch in dieser Reichstagssession ein Gesetz über Handwerkskammeru vor¬ gelegt werdeu würde. Nimmt man noch hinzu, daß gleichzeitig eine gründliche und erschöpfende volkswirtschaftliche Litteratur über die Interessenvertretung ent¬ standen ist, so darf mau wohl sagen, daß die seit etwa fünfzig Jahren erörterte Angelegenheit allmählich spruchreif geworden sei, und berücksichtigt man, daß sich jetzt auch die Vertreter der Regierungen für die obligatorische Form eut Greuzbot-n I 1895 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/217>, abgerufen am 23.07.2024.