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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Handwerkskammern

Handwerk zunächst "ur gehindert, in sein Prvduttionsgebiet neue lohnende
Artikel aufzunehmen, und damit wurde es zu einem gefährlichen Stillstand in
der Entwicklung verurteilt. Später griff der Fabrikbetrieb auf das bisher
verschont gebliebne Gebiet des Kleinbetriebs über. Und heute engen das
Großkapital und der Großbetrieb das Handwerk an allen Ecken und Enden
ein. Aber trotzdem oder gerade deswegen lohnt es sich, in der Gesetzgebung
auch für diesen Stand nach dem Rechten zu sehen. An Nefvrmfvrdernngen ist
denn auch kein Mangel. Seit vielen Jahren schon steht die Angelegenheit der
Ausbildung und der Organisation des Handwerks aus der Tagesordnung:
die einen wollen Befähigungsnachweis und Zwangsinnung, die andern bessere
gewerbliche Schulen, freie Vereinsthätigkeit und Genossenschaften. Die Bau¬
handwerker verlangen eine größere Sicherheit ihrer Forderungen; andre wich¬
tige Punkte des Handwerkerprogramms sind Abschaffung der Gefängnisarbeit
und eine bessere Regelung des Snbmissionswesens.

Im einzelnen ist die Erfüllung aller dieser Forderungen sehr schwierig,
viel schwieriger, als es die spielend hingeworfnen "Resolutionen" der Volks¬
versammlungen, die schönen Reden und Versprechungen der Parteipolitiker
ahnen lassen. Für den Gesetzgeber besteht dabei fortwährend die Gefahr, sich
zwischen zwei Stühle zu setzen.

Zur Zeit sind die allgemeinen theoretischen Erörterungen über Zwangs-
innnng und Meisterstück ein wenig in den Hintergrund getreten, weil man
sich endlich in den Regierungen entschlossen hat, die Bewegung vor positive
Aufgaben zu stellen. Man hat zwei wichtige Gegenstände des Programms
der Handwerker in den Vordergrund gestellt, die Organisation des Handwerks
und die Regelung des Lehrlingswesens.

Im August vorigen Jahres hat der preußische Handelsminister, Freiherr
von Berlepsch, als "unverbindliches Ergebnis vorläufiger Erwägungen" im
Reichsanzeiger Vorschläge sür die Organisation des Handwerks und für die
Regelung des Lehrlingswesens veröffentlicht. Zur Wahrnehmung der Inter¬
essen des Handwerks und des Kleingewerbes sollten obligatorische Fachgenossen¬
schaften und Handwerkskammern gebildet werden, und zwar sollten der Fach¬
genossenschaft alle Handwerker und Industriellen angehören, die regelmüßig
nicht mehr als zwanzig Arbeiter beschäftigen. Den Fachgenossenschaften waren
obligatorische und fakultative Aufgaben vorgeschrieben. In die obligatorischen
sollten die bisherigen Aufgaben der Innungen aufgehen, also Pflege des
Gemeingeistes, Förderung eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern
und Gesellen, Fürsorge für das Herbergswesen und für den Arbeitsnachweis.
Weiter sollte ihnen zustehen: die Feststellung von Vorschriften über das Ver¬
halten der Lehrlinge, über die gewerbliche Ausbildung der Lehrlinge, über Lehr¬
verträge und Prüfungsansschüsse. Die Aufsicht über die Fachgenossenschaften
wollte man den Handwerkskammern anvertrauen. Die Handwerkskammern sollten


Die Handwerkskammern

Handwerk zunächst »ur gehindert, in sein Prvduttionsgebiet neue lohnende
Artikel aufzunehmen, und damit wurde es zu einem gefährlichen Stillstand in
der Entwicklung verurteilt. Später griff der Fabrikbetrieb auf das bisher
verschont gebliebne Gebiet des Kleinbetriebs über. Und heute engen das
Großkapital und der Großbetrieb das Handwerk an allen Ecken und Enden
ein. Aber trotzdem oder gerade deswegen lohnt es sich, in der Gesetzgebung
auch für diesen Stand nach dem Rechten zu sehen. An Nefvrmfvrdernngen ist
denn auch kein Mangel. Seit vielen Jahren schon steht die Angelegenheit der
Ausbildung und der Organisation des Handwerks aus der Tagesordnung:
die einen wollen Befähigungsnachweis und Zwangsinnung, die andern bessere
gewerbliche Schulen, freie Vereinsthätigkeit und Genossenschaften. Die Bau¬
handwerker verlangen eine größere Sicherheit ihrer Forderungen; andre wich¬
tige Punkte des Handwerkerprogramms sind Abschaffung der Gefängnisarbeit
und eine bessere Regelung des Snbmissionswesens.

Im einzelnen ist die Erfüllung aller dieser Forderungen sehr schwierig,
viel schwieriger, als es die spielend hingeworfnen „Resolutionen" der Volks¬
versammlungen, die schönen Reden und Versprechungen der Parteipolitiker
ahnen lassen. Für den Gesetzgeber besteht dabei fortwährend die Gefahr, sich
zwischen zwei Stühle zu setzen.

Zur Zeit sind die allgemeinen theoretischen Erörterungen über Zwangs-
innnng und Meisterstück ein wenig in den Hintergrund getreten, weil man
sich endlich in den Regierungen entschlossen hat, die Bewegung vor positive
Aufgaben zu stellen. Man hat zwei wichtige Gegenstände des Programms
der Handwerker in den Vordergrund gestellt, die Organisation des Handwerks
und die Regelung des Lehrlingswesens.

Im August vorigen Jahres hat der preußische Handelsminister, Freiherr
von Berlepsch, als „unverbindliches Ergebnis vorläufiger Erwägungen" im
Reichsanzeiger Vorschläge sür die Organisation des Handwerks und für die
Regelung des Lehrlingswesens veröffentlicht. Zur Wahrnehmung der Inter¬
essen des Handwerks und des Kleingewerbes sollten obligatorische Fachgenossen¬
schaften und Handwerkskammern gebildet werden, und zwar sollten der Fach¬
genossenschaft alle Handwerker und Industriellen angehören, die regelmüßig
nicht mehr als zwanzig Arbeiter beschäftigen. Den Fachgenossenschaften waren
obligatorische und fakultative Aufgaben vorgeschrieben. In die obligatorischen
sollten die bisherigen Aufgaben der Innungen aufgehen, also Pflege des
Gemeingeistes, Förderung eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern
und Gesellen, Fürsorge für das Herbergswesen und für den Arbeitsnachweis.
Weiter sollte ihnen zustehen: die Feststellung von Vorschriften über das Ver¬
halten der Lehrlinge, über die gewerbliche Ausbildung der Lehrlinge, über Lehr¬
verträge und Prüfungsansschüsse. Die Aufsicht über die Fachgenossenschaften
wollte man den Handwerkskammern anvertrauen. Die Handwerkskammern sollten


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[0214] Die Handwerkskammern Handwerk zunächst »ur gehindert, in sein Prvduttionsgebiet neue lohnende Artikel aufzunehmen, und damit wurde es zu einem gefährlichen Stillstand in der Entwicklung verurteilt. Später griff der Fabrikbetrieb auf das bisher verschont gebliebne Gebiet des Kleinbetriebs über. Und heute engen das Großkapital und der Großbetrieb das Handwerk an allen Ecken und Enden ein. Aber trotzdem oder gerade deswegen lohnt es sich, in der Gesetzgebung auch für diesen Stand nach dem Rechten zu sehen. An Nefvrmfvrdernngen ist denn auch kein Mangel. Seit vielen Jahren schon steht die Angelegenheit der Ausbildung und der Organisation des Handwerks aus der Tagesordnung: die einen wollen Befähigungsnachweis und Zwangsinnung, die andern bessere gewerbliche Schulen, freie Vereinsthätigkeit und Genossenschaften. Die Bau¬ handwerker verlangen eine größere Sicherheit ihrer Forderungen; andre wich¬ tige Punkte des Handwerkerprogramms sind Abschaffung der Gefängnisarbeit und eine bessere Regelung des Snbmissionswesens. Im einzelnen ist die Erfüllung aller dieser Forderungen sehr schwierig, viel schwieriger, als es die spielend hingeworfnen „Resolutionen" der Volks¬ versammlungen, die schönen Reden und Versprechungen der Parteipolitiker ahnen lassen. Für den Gesetzgeber besteht dabei fortwährend die Gefahr, sich zwischen zwei Stühle zu setzen. Zur Zeit sind die allgemeinen theoretischen Erörterungen über Zwangs- innnng und Meisterstück ein wenig in den Hintergrund getreten, weil man sich endlich in den Regierungen entschlossen hat, die Bewegung vor positive Aufgaben zu stellen. Man hat zwei wichtige Gegenstände des Programms der Handwerker in den Vordergrund gestellt, die Organisation des Handwerks und die Regelung des Lehrlingswesens. Im August vorigen Jahres hat der preußische Handelsminister, Freiherr von Berlepsch, als „unverbindliches Ergebnis vorläufiger Erwägungen" im Reichsanzeiger Vorschläge sür die Organisation des Handwerks und für die Regelung des Lehrlingswesens veröffentlicht. Zur Wahrnehmung der Inter¬ essen des Handwerks und des Kleingewerbes sollten obligatorische Fachgenossen¬ schaften und Handwerkskammern gebildet werden, und zwar sollten der Fach¬ genossenschaft alle Handwerker und Industriellen angehören, die regelmüßig nicht mehr als zwanzig Arbeiter beschäftigen. Den Fachgenossenschaften waren obligatorische und fakultative Aufgaben vorgeschrieben. In die obligatorischen sollten die bisherigen Aufgaben der Innungen aufgehen, also Pflege des Gemeingeistes, Förderung eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern und Gesellen, Fürsorge für das Herbergswesen und für den Arbeitsnachweis. Weiter sollte ihnen zustehen: die Feststellung von Vorschriften über das Ver¬ halten der Lehrlinge, über die gewerbliche Ausbildung der Lehrlinge, über Lehr¬ verträge und Prüfungsansschüsse. Die Aufsicht über die Fachgenossenschaften wollte man den Handwerkskammern anvertrauen. Die Handwerkskammern sollten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/214>, abgerufen am 23.07.2024.