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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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in die Welt gestoßen werden müssen, wo sie desto weniger Aussicht haben,
ihr Glück zu machen, je großer die Zahl derer ist, die sich in gleicher Lage
befinden, und daß daher die aus der Volksvermehrung entspringenden Nöte
des Bauernstandes eine entsprechende Not des Gewerbestandes erzengen müssen,
das alles laßt sich so wenig leugnen wie das Sonnenlicht. Die Wirkungen
dieses Prozesses können aufgehalten und abgeschwächt, können vielfach modifizirt
werden, aber ausbleiben können sie nicht. Wenn sich nun in einem Lande von
beschränktem Umfange die Bevölkerung rasch vermehrt, und es werden that¬
sächlich allerlei Beschwerden des Bauern-, des Gewerbe- und des erst aus
jenem Prozeß neu entstandnen Lohuarbeiterstandes laut, so sollte man meinen,
alle Untersuchungen über die Natur des Übels und alle Veratungen über die
anzuwendenden Heilmittel müßten von jenen unzweifelhaften Grundthatsachen
aller Volkswirtschaft ausgehen, auf die hin jeder Einsichtige die jetzt wirklich
hervortretenden Übel (daß sie nicht in weit höherm Grade eingetreten sind,
ist ein Beweis für die wunderbare Tüchtigkeit unsers Volkes) schon vor fünfzig
Jahren voraussagen konnte. Weit gefehlt! Die Untersuchungen gehen, statt
auf den Grund zurück, immer hinauf ius Blaue, und die Veratungen drehen
sich ergebnislos im Kreise; und wenn wir auf die unerschütterliche Grundlage
der Volkswirtschaft verweisen, dann thut mau entweder, als hätte man nichts
gehört, oder man schreit: das sind Sozialdemokraten, die dürft ihr weder hören,
noch lesen! Daß die Sozialdemokraten jenen Grundthatsachen ihre Augen
nicht weniger beharrlich verschließen als die staatserhaltenden, kann diese
natürlich in ihrer Taktik gegen uns nicht beirren.

Wir wissen die Gründe zu würdigen, aus denen die Scheu vor der An¬
erkennung der Grundthatsachen entspringt, aber da diese unerbittlich fortwirken,
da sie sich über kurz oder lang einmal Anerkennung erzwingen werden, und
da wir dem Unglück vorbeugen möchten, daß dies erst geschehe, wenn es schon
zu spät ist, so werden wir fortfahren, von dieser Grundlage aus die Ereignisse
zu beurteilen und die Ansichten und Maßregeln zu kritisiren.

Das letzte Heft der Grenzboten wirft die Frage auf: "Ist der Mittel¬
stand im Schwinden begriffen?" Aber das Übel besteht ja gar nicht darin,
daß der Mittelstand schwante, sondern erstens darin, daß seine Zusammen¬
setzung nicht mehr so gesund ist wie früher, und zweitens darin, daß sich
unter ihm die Schicht der Armen immer weiter ausbreitet, daß der Volls-
zuwachs mehr und mehr nicht ihn, sondern die unterste Schicht vergrößert.
Angestellte von Großindustriellen, von Exporthäusern und von Modegeschäftcn,
deren Existenz teils von den Launen der Mode, teils von dem auf- und
abflutenden Weltmarkt und von so unberechenbaren Dingen abhängt, wie
amerikanische Zolltarife sind, die bilden keine so feste Grundlage des Ge¬
sellschaftsbaues wie der Bauernstand. Von den Beamten aber sind uur die
produktiven und die unentbehrlichen, wie die der großen Verkehrsanstalten


in die Welt gestoßen werden müssen, wo sie desto weniger Aussicht haben,
ihr Glück zu machen, je großer die Zahl derer ist, die sich in gleicher Lage
befinden, und daß daher die aus der Volksvermehrung entspringenden Nöte
des Bauernstandes eine entsprechende Not des Gewerbestandes erzengen müssen,
das alles laßt sich so wenig leugnen wie das Sonnenlicht. Die Wirkungen
dieses Prozesses können aufgehalten und abgeschwächt, können vielfach modifizirt
werden, aber ausbleiben können sie nicht. Wenn sich nun in einem Lande von
beschränktem Umfange die Bevölkerung rasch vermehrt, und es werden that¬
sächlich allerlei Beschwerden des Bauern-, des Gewerbe- und des erst aus
jenem Prozeß neu entstandnen Lohuarbeiterstandes laut, so sollte man meinen,
alle Untersuchungen über die Natur des Übels und alle Veratungen über die
anzuwendenden Heilmittel müßten von jenen unzweifelhaften Grundthatsachen
aller Volkswirtschaft ausgehen, auf die hin jeder Einsichtige die jetzt wirklich
hervortretenden Übel (daß sie nicht in weit höherm Grade eingetreten sind,
ist ein Beweis für die wunderbare Tüchtigkeit unsers Volkes) schon vor fünfzig
Jahren voraussagen konnte. Weit gefehlt! Die Untersuchungen gehen, statt
auf den Grund zurück, immer hinauf ius Blaue, und die Veratungen drehen
sich ergebnislos im Kreise; und wenn wir auf die unerschütterliche Grundlage
der Volkswirtschaft verweisen, dann thut mau entweder, als hätte man nichts
gehört, oder man schreit: das sind Sozialdemokraten, die dürft ihr weder hören,
noch lesen! Daß die Sozialdemokraten jenen Grundthatsachen ihre Augen
nicht weniger beharrlich verschließen als die staatserhaltenden, kann diese
natürlich in ihrer Taktik gegen uns nicht beirren.

Wir wissen die Gründe zu würdigen, aus denen die Scheu vor der An¬
erkennung der Grundthatsachen entspringt, aber da diese unerbittlich fortwirken,
da sie sich über kurz oder lang einmal Anerkennung erzwingen werden, und
da wir dem Unglück vorbeugen möchten, daß dies erst geschehe, wenn es schon
zu spät ist, so werden wir fortfahren, von dieser Grundlage aus die Ereignisse
zu beurteilen und die Ansichten und Maßregeln zu kritisiren.

Das letzte Heft der Grenzboten wirft die Frage auf: „Ist der Mittel¬
stand im Schwinden begriffen?" Aber das Übel besteht ja gar nicht darin,
daß der Mittelstand schwante, sondern erstens darin, daß seine Zusammen¬
setzung nicht mehr so gesund ist wie früher, und zweitens darin, daß sich
unter ihm die Schicht der Armen immer weiter ausbreitet, daß der Volls-
zuwachs mehr und mehr nicht ihn, sondern die unterste Schicht vergrößert.
Angestellte von Großindustriellen, von Exporthäusern und von Modegeschäftcn,
deren Existenz teils von den Launen der Mode, teils von dem auf- und
abflutenden Weltmarkt und von so unberechenbaren Dingen abhängt, wie
amerikanische Zolltarife sind, die bilden keine so feste Grundlage des Ge¬
sellschaftsbaues wie der Bauernstand. Von den Beamten aber sind uur die
produktiven und die unentbehrlichen, wie die der großen Verkehrsanstalten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/154>, abgerufen am 22.07.2024.