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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Nation so bedeutungsvollen Frage entscheiden will. Wir haben ja guten
Grund, zu glauben, daß die auch von uns vertretne Auffassung darüber,
wie sich der Staat und die bürgerliche Gesellschaft zu den arbeitenden
Klassen stellen sollen, innerhalb der letzten Jahre die große Mehrheit der
bürgerlichen Kreise mehr und mehr durchdrungen hat, ja daß sie dort, wo
man den großen sozialen Problemen überhaupt ernste Aufmerksamkeit widmet,
die herrschende geworden ist. Ein ausgezeichneter Gewährsmann ist uns
hierfür wiederum der Freiherr von Stumm, der auch im Reichstage das
Überhandnehmen eben dieser Anschauungen unter den gebildeten, namentlich
den akademisch gebildeten Klassen, so beweglich beklagt hat. Immerhin können
wir uns in dieser Annahme täuschen, nur eine Ncichstagswahl unter dem
Zeichen der Umsturzvorlage könnte darüber Gewißheit schaffen. Auch der
Streit mit Worten fruchtet nichts mehr, die scharfsinnigsten Gründe, die
reichhaltigsten Materialiensammlungen, mit denen uns auch die Reichstags¬
verhandlungen wieder überschüttet haben, machen weder hüben noch drüben
jemand mehr in der einmal gewonnenen Auffassung wankend. Es kann
auch nicht wohl anders sein, da in der ganzen Frage doch nicht die verstandes¬
mäßigen Erwägungen, sondern die Gemütsanlage des Einzelnen, das Vor¬
herrschen optimistischer oder pessimistischer Neigungen und das Gewissen den
Ausschlag dafür geben, was jeder für recht und gut, dem Wohle des Vater¬
landes für ersprießlich hält.

Entscheidet sich das deutsche Volk in seiner Mehrheit für den neuen Ver¬
such einer gewaltsamen Unterdrückung politischer Gegner und zögert es nicht,
zu diesem Zwecke auch einen wesentlichen Teil der allgemeinen bürgerlichen
Freiheit daranzugeben, so werden wir zwar diesen Entschluß als den ersten
Schritt zu einer Katastrophe bedauern, aber doch als Deutsche die Folgen
willig mit auf uns zu nehmen haben. Wir leben jedoch der Zuversicht, das
deutsche Volk werde sich mit überwältigender Mehrheit dahin aussprechen, daß
die in den Verfassungen und den Gesetzen verbrieften Rechte auch künftig
ohne Unterschied der Gesinnung jedem Volksgenossen gegenüber geachtet
werden sollen, "selber auf die Gefahr hin, daß ein geringerer Grad der ein¬
förmigen Ruhe und Stille erfolge, und daß das Regieren ein wenig schwerer
und mühsamer werde," daß die Nation erklären werde, auch mit den ar¬
beitenden Klassen als Deutsche mit Deutschen in Frieden leben zu wollen, so
lange diese ihr nicht durch offene Auflehnung die Waffe zur Verteidigung
des Bestehenden in die Hand zwingen. Dem deutschen Volke sind, auch
abgesehen von der sozialen Frage, von der Vorsehung so große Aufgaben ge¬
stellt, daß es nicht rasch genug die Bahn frei bekommen kann, um für die
Vervollkommnung der innern Wohlfahrt aller seiner Stände und für die Auf¬
rechterhaltung seiner Stellung im Rate der Völker die ganze Kraft der Nation
einsetzen zu können. Fällt die Entscheidung des Volkes dahin aus, daß es


Nation so bedeutungsvollen Frage entscheiden will. Wir haben ja guten
Grund, zu glauben, daß die auch von uns vertretne Auffassung darüber,
wie sich der Staat und die bürgerliche Gesellschaft zu den arbeitenden
Klassen stellen sollen, innerhalb der letzten Jahre die große Mehrheit der
bürgerlichen Kreise mehr und mehr durchdrungen hat, ja daß sie dort, wo
man den großen sozialen Problemen überhaupt ernste Aufmerksamkeit widmet,
die herrschende geworden ist. Ein ausgezeichneter Gewährsmann ist uns
hierfür wiederum der Freiherr von Stumm, der auch im Reichstage das
Überhandnehmen eben dieser Anschauungen unter den gebildeten, namentlich
den akademisch gebildeten Klassen, so beweglich beklagt hat. Immerhin können
wir uns in dieser Annahme täuschen, nur eine Ncichstagswahl unter dem
Zeichen der Umsturzvorlage könnte darüber Gewißheit schaffen. Auch der
Streit mit Worten fruchtet nichts mehr, die scharfsinnigsten Gründe, die
reichhaltigsten Materialiensammlungen, mit denen uns auch die Reichstags¬
verhandlungen wieder überschüttet haben, machen weder hüben noch drüben
jemand mehr in der einmal gewonnenen Auffassung wankend. Es kann
auch nicht wohl anders sein, da in der ganzen Frage doch nicht die verstandes¬
mäßigen Erwägungen, sondern die Gemütsanlage des Einzelnen, das Vor¬
herrschen optimistischer oder pessimistischer Neigungen und das Gewissen den
Ausschlag dafür geben, was jeder für recht und gut, dem Wohle des Vater¬
landes für ersprießlich hält.

Entscheidet sich das deutsche Volk in seiner Mehrheit für den neuen Ver¬
such einer gewaltsamen Unterdrückung politischer Gegner und zögert es nicht,
zu diesem Zwecke auch einen wesentlichen Teil der allgemeinen bürgerlichen
Freiheit daranzugeben, so werden wir zwar diesen Entschluß als den ersten
Schritt zu einer Katastrophe bedauern, aber doch als Deutsche die Folgen
willig mit auf uns zu nehmen haben. Wir leben jedoch der Zuversicht, das
deutsche Volk werde sich mit überwältigender Mehrheit dahin aussprechen, daß
die in den Verfassungen und den Gesetzen verbrieften Rechte auch künftig
ohne Unterschied der Gesinnung jedem Volksgenossen gegenüber geachtet
werden sollen, „selber auf die Gefahr hin, daß ein geringerer Grad der ein¬
förmigen Ruhe und Stille erfolge, und daß das Regieren ein wenig schwerer
und mühsamer werde," daß die Nation erklären werde, auch mit den ar¬
beitenden Klassen als Deutsche mit Deutschen in Frieden leben zu wollen, so
lange diese ihr nicht durch offene Auflehnung die Waffe zur Verteidigung
des Bestehenden in die Hand zwingen. Dem deutschen Volke sind, auch
abgesehen von der sozialen Frage, von der Vorsehung so große Aufgaben ge¬
stellt, daß es nicht rasch genug die Bahn frei bekommen kann, um für die
Vervollkommnung der innern Wohlfahrt aller seiner Stände und für die Auf¬
rechterhaltung seiner Stellung im Rate der Völker die ganze Kraft der Nation
einsetzen zu können. Fällt die Entscheidung des Volkes dahin aus, daß es


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[0146] Nation so bedeutungsvollen Frage entscheiden will. Wir haben ja guten Grund, zu glauben, daß die auch von uns vertretne Auffassung darüber, wie sich der Staat und die bürgerliche Gesellschaft zu den arbeitenden Klassen stellen sollen, innerhalb der letzten Jahre die große Mehrheit der bürgerlichen Kreise mehr und mehr durchdrungen hat, ja daß sie dort, wo man den großen sozialen Problemen überhaupt ernste Aufmerksamkeit widmet, die herrschende geworden ist. Ein ausgezeichneter Gewährsmann ist uns hierfür wiederum der Freiherr von Stumm, der auch im Reichstage das Überhandnehmen eben dieser Anschauungen unter den gebildeten, namentlich den akademisch gebildeten Klassen, so beweglich beklagt hat. Immerhin können wir uns in dieser Annahme täuschen, nur eine Ncichstagswahl unter dem Zeichen der Umsturzvorlage könnte darüber Gewißheit schaffen. Auch der Streit mit Worten fruchtet nichts mehr, die scharfsinnigsten Gründe, die reichhaltigsten Materialiensammlungen, mit denen uns auch die Reichstags¬ verhandlungen wieder überschüttet haben, machen weder hüben noch drüben jemand mehr in der einmal gewonnenen Auffassung wankend. Es kann auch nicht wohl anders sein, da in der ganzen Frage doch nicht die verstandes¬ mäßigen Erwägungen, sondern die Gemütsanlage des Einzelnen, das Vor¬ herrschen optimistischer oder pessimistischer Neigungen und das Gewissen den Ausschlag dafür geben, was jeder für recht und gut, dem Wohle des Vater¬ landes für ersprießlich hält. Entscheidet sich das deutsche Volk in seiner Mehrheit für den neuen Ver¬ such einer gewaltsamen Unterdrückung politischer Gegner und zögert es nicht, zu diesem Zwecke auch einen wesentlichen Teil der allgemeinen bürgerlichen Freiheit daranzugeben, so werden wir zwar diesen Entschluß als den ersten Schritt zu einer Katastrophe bedauern, aber doch als Deutsche die Folgen willig mit auf uns zu nehmen haben. Wir leben jedoch der Zuversicht, das deutsche Volk werde sich mit überwältigender Mehrheit dahin aussprechen, daß die in den Verfassungen und den Gesetzen verbrieften Rechte auch künftig ohne Unterschied der Gesinnung jedem Volksgenossen gegenüber geachtet werden sollen, „selber auf die Gefahr hin, daß ein geringerer Grad der ein¬ förmigen Ruhe und Stille erfolge, und daß das Regieren ein wenig schwerer und mühsamer werde," daß die Nation erklären werde, auch mit den ar¬ beitenden Klassen als Deutsche mit Deutschen in Frieden leben zu wollen, so lange diese ihr nicht durch offene Auflehnung die Waffe zur Verteidigung des Bestehenden in die Hand zwingen. Dem deutschen Volke sind, auch abgesehen von der sozialen Frage, von der Vorsehung so große Aufgaben ge¬ stellt, daß es nicht rasch genug die Bahn frei bekommen kann, um für die Vervollkommnung der innern Wohlfahrt aller seiner Stände und für die Auf¬ rechterhaltung seiner Stellung im Rate der Völker die ganze Kraft der Nation einsetzen zu können. Fällt die Entscheidung des Volkes dahin aus, daß es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/146>, abgerufen am 22.07.2024.