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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Würdigung der gegenwärtigen Kunstbestrebungen

staunen, denn was da gesagt wird, ist das ganz alltägliche, was man von
jedem beliebigen sogenannten Jungen und von jedem beliebigen Wortführer
der heutigen Mode -- nur oft viel besser ausgedrückt -- hören kann.

Kunstwerke sind nur fürs Auge da. Wehe dein "gebildeten oder vielmehr
dem bebrillten Deutschen -- so sagt Herr Vegas --, der weniger Wert auf
die Erscheinung des Kunstwerks als ans das, was es vorstellen soll, legt."
Also hinweg mit jedem Gedanken aus dem Kunstwerk! Nur sinnlich sehen!
Nur Natur ohne eignes Denken und Empfinden! Nur Natur, so unbewußt
wie mit den "Augen eines Tieres gesehen"! Reine Natureindrücke!

Das ist ja die Weisheit, die schon Ende der siebziger Jahre in Frank¬
reich von den Malern, die sich iinprsssiouistss nannten, verkündet wurde, und
die sich schnell verbreitete. Ihre Tochter war die sogenannte Freilichtmalerei,
das MW g,ir, d. h. die naturwidrige Licht-in-Lichtmalerei ohne Schatten. Ver-
schiedne deutsche Maler machten das flugs nach und erhoben samt ihren Lob¬
rednern helle Jubelrufe über die neue Offenbarung. Die neue Richtung breitete
sich auch bei uns schnell aus, und viele fingen an, daran zu glauben. Mit
dieser Ausbreitung entwickelte sich aber eine blöde Mißachtung des geistigen
Teils der Kunst und ein blinder Haß gegen alles Ideale. Herr Vegas hat
sich zu einem der Hauptführer in dieser verhängnisvollen Bewegung gemacht.

Beim Kunstwerk -- so sagt er weiter -- soll man nicht fragen, "was
es vorstelle," man soll sich dabei ja nicht irgend "etwas denken" wollen, man
soll es "durch das Auge allein genießen." Wer mehr verlangt, der "gehe in
die Berliner Nationalgalerie, um die papiernen Gedanken eines Cornelius zu
genießen." Er schilt also von oben herunter die Leute, die sich beim Anblick
von Kunstwerken "etwas denken wollen," und dennoch sagt er: "Ein großes
Kunstwerk kann immer nur von einem erdacht werden" und: "In der Kunst
müssen sich Form und Gedanke decken." Nun, wer erklärt, daß ein großes Kunst¬
werk, also doch wohl auch ein kleineres, erdacht werden müsse, und verlangt,
daß in der deckenden, also völlig entsprechenden und aussprechenden Form ein
Gedanke stecke, wie kann der mir verwehren wollen, daß ich nach diesem Ge¬
danken frage und suche? Die Verhöhnung derer, die sich bei einem Kunst¬
werke auch "etwas denken wollen," kann angesichts der eignen Worte des Ver¬
fassers nur als ein schlechter Witz verstanden werden, wenn man nicht, was
wohl noch näher liegt, Oberflächlichkeit des Denkens annehmen will.

In der Malerei gilt nach den "Aphorismen" nur irgend ein alltäglicher
Gegenstand, den sie "durch Farbe, Licht und Schatten geschmackvoll serviren
darf," weiter nichts. Die Bildhauerei steht höher, sie "verlangt vom Beschauer
une höhere Bildungsstufe, sie darf sich nicht von dem visionären, dichterischen
Element entfernen, ohne banal und geschmacklos zu werden." Warum? Was
hat das Dichterische, also etwas Geistiges, ein Gedanke mit dem Auge zu
thun, das doch das Kunstwerk allein, rein sinnlich, genießen und dessen Eigen-


Grcnzboten I 1895 16
Zur Würdigung der gegenwärtigen Kunstbestrebungen

staunen, denn was da gesagt wird, ist das ganz alltägliche, was man von
jedem beliebigen sogenannten Jungen und von jedem beliebigen Wortführer
der heutigen Mode — nur oft viel besser ausgedrückt — hören kann.

Kunstwerke sind nur fürs Auge da. Wehe dein „gebildeten oder vielmehr
dem bebrillten Deutschen — so sagt Herr Vegas —, der weniger Wert auf
die Erscheinung des Kunstwerks als ans das, was es vorstellen soll, legt."
Also hinweg mit jedem Gedanken aus dem Kunstwerk! Nur sinnlich sehen!
Nur Natur ohne eignes Denken und Empfinden! Nur Natur, so unbewußt
wie mit den „Augen eines Tieres gesehen"! Reine Natureindrücke!

Das ist ja die Weisheit, die schon Ende der siebziger Jahre in Frank¬
reich von den Malern, die sich iinprsssiouistss nannten, verkündet wurde, und
die sich schnell verbreitete. Ihre Tochter war die sogenannte Freilichtmalerei,
das MW g,ir, d. h. die naturwidrige Licht-in-Lichtmalerei ohne Schatten. Ver-
schiedne deutsche Maler machten das flugs nach und erhoben samt ihren Lob¬
rednern helle Jubelrufe über die neue Offenbarung. Die neue Richtung breitete
sich auch bei uns schnell aus, und viele fingen an, daran zu glauben. Mit
dieser Ausbreitung entwickelte sich aber eine blöde Mißachtung des geistigen
Teils der Kunst und ein blinder Haß gegen alles Ideale. Herr Vegas hat
sich zu einem der Hauptführer in dieser verhängnisvollen Bewegung gemacht.

Beim Kunstwerk — so sagt er weiter — soll man nicht fragen, „was
es vorstelle," man soll sich dabei ja nicht irgend „etwas denken" wollen, man
soll es „durch das Auge allein genießen." Wer mehr verlangt, der „gehe in
die Berliner Nationalgalerie, um die papiernen Gedanken eines Cornelius zu
genießen." Er schilt also von oben herunter die Leute, die sich beim Anblick
von Kunstwerken „etwas denken wollen," und dennoch sagt er: „Ein großes
Kunstwerk kann immer nur von einem erdacht werden" und: „In der Kunst
müssen sich Form und Gedanke decken." Nun, wer erklärt, daß ein großes Kunst¬
werk, also doch wohl auch ein kleineres, erdacht werden müsse, und verlangt,
daß in der deckenden, also völlig entsprechenden und aussprechenden Form ein
Gedanke stecke, wie kann der mir verwehren wollen, daß ich nach diesem Ge¬
danken frage und suche? Die Verhöhnung derer, die sich bei einem Kunst¬
werke auch „etwas denken wollen," kann angesichts der eignen Worte des Ver¬
fassers nur als ein schlechter Witz verstanden werden, wenn man nicht, was
wohl noch näher liegt, Oberflächlichkeit des Denkens annehmen will.

In der Malerei gilt nach den „Aphorismen" nur irgend ein alltäglicher
Gegenstand, den sie „durch Farbe, Licht und Schatten geschmackvoll serviren
darf," weiter nichts. Die Bildhauerei steht höher, sie „verlangt vom Beschauer
une höhere Bildungsstufe, sie darf sich nicht von dem visionären, dichterischen
Element entfernen, ohne banal und geschmacklos zu werden." Warum? Was
hat das Dichterische, also etwas Geistiges, ein Gedanke mit dem Auge zu
thun, das doch das Kunstwerk allein, rein sinnlich, genießen und dessen Eigen-


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[0129] Zur Würdigung der gegenwärtigen Kunstbestrebungen staunen, denn was da gesagt wird, ist das ganz alltägliche, was man von jedem beliebigen sogenannten Jungen und von jedem beliebigen Wortführer der heutigen Mode — nur oft viel besser ausgedrückt — hören kann. Kunstwerke sind nur fürs Auge da. Wehe dein „gebildeten oder vielmehr dem bebrillten Deutschen — so sagt Herr Vegas —, der weniger Wert auf die Erscheinung des Kunstwerks als ans das, was es vorstellen soll, legt." Also hinweg mit jedem Gedanken aus dem Kunstwerk! Nur sinnlich sehen! Nur Natur ohne eignes Denken und Empfinden! Nur Natur, so unbewußt wie mit den „Augen eines Tieres gesehen"! Reine Natureindrücke! Das ist ja die Weisheit, die schon Ende der siebziger Jahre in Frank¬ reich von den Malern, die sich iinprsssiouistss nannten, verkündet wurde, und die sich schnell verbreitete. Ihre Tochter war die sogenannte Freilichtmalerei, das MW g,ir, d. h. die naturwidrige Licht-in-Lichtmalerei ohne Schatten. Ver- schiedne deutsche Maler machten das flugs nach und erhoben samt ihren Lob¬ rednern helle Jubelrufe über die neue Offenbarung. Die neue Richtung breitete sich auch bei uns schnell aus, und viele fingen an, daran zu glauben. Mit dieser Ausbreitung entwickelte sich aber eine blöde Mißachtung des geistigen Teils der Kunst und ein blinder Haß gegen alles Ideale. Herr Vegas hat sich zu einem der Hauptführer in dieser verhängnisvollen Bewegung gemacht. Beim Kunstwerk — so sagt er weiter — soll man nicht fragen, „was es vorstelle," man soll sich dabei ja nicht irgend „etwas denken" wollen, man soll es „durch das Auge allein genießen." Wer mehr verlangt, der „gehe in die Berliner Nationalgalerie, um die papiernen Gedanken eines Cornelius zu genießen." Er schilt also von oben herunter die Leute, die sich beim Anblick von Kunstwerken „etwas denken wollen," und dennoch sagt er: „Ein großes Kunstwerk kann immer nur von einem erdacht werden" und: „In der Kunst müssen sich Form und Gedanke decken." Nun, wer erklärt, daß ein großes Kunst¬ werk, also doch wohl auch ein kleineres, erdacht werden müsse, und verlangt, daß in der deckenden, also völlig entsprechenden und aussprechenden Form ein Gedanke stecke, wie kann der mir verwehren wollen, daß ich nach diesem Ge¬ danken frage und suche? Die Verhöhnung derer, die sich bei einem Kunst¬ werke auch „etwas denken wollen," kann angesichts der eignen Worte des Ver¬ fassers nur als ein schlechter Witz verstanden werden, wenn man nicht, was wohl noch näher liegt, Oberflächlichkeit des Denkens annehmen will. In der Malerei gilt nach den „Aphorismen" nur irgend ein alltäglicher Gegenstand, den sie „durch Farbe, Licht und Schatten geschmackvoll serviren darf," weiter nichts. Die Bildhauerei steht höher, sie „verlangt vom Beschauer une höhere Bildungsstufe, sie darf sich nicht von dem visionären, dichterischen Element entfernen, ohne banal und geschmacklos zu werden." Warum? Was hat das Dichterische, also etwas Geistiges, ein Gedanke mit dem Auge zu thun, das doch das Kunstwerk allein, rein sinnlich, genießen und dessen Eigen- Grcnzboten I 1895 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/129>, abgerufen am 22.07.2024.