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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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verkehrte Politik

scheint, daß diese Demonstration nicht vorher verabredet gewesen ist; gewiß ist,
daß sie durchaus im Sinne der Kampfstellung war, die die Sozialdemokratie
gegenüber der Umsturzvorlage wieder einzunehmen gedenkt, und daß Herr
Singer, wenn auch nicht im Namen, so doch im Sinne seiner ganzen Partei
sprach, als er dieses Sitzenbleiben durch einen Hinweis darauf begründete, daß
die Umsturzvorlage die Sozialdemokratie außerhalb des heutigen Staates stelle,
und man daher Achtungsbezeugungen gegenüber den Organen dieses Staates
von den Sozialdemokraten nicht verlangen könne.

Kein Zweifel, daß die Sozialdemokratie mit dieser Demonstration, die
andern taktlos erscheinen mußte, einen Fehler begangen hat. Noch denken
große Teile des Volkes, die svzialdemolratisch wühlen, namentlich in Preußen,
durchaus monarchisch, und noch ist -- Gott sei Dank! -- der deutsche Kaiser
und der König von Preußen in den Augen vieler Tausende von kleinen
Leuten ein Gegenstand der Liebe und Verehrung. Und wie wirksam hätte
gegenüber dem Vordringen der Sozialdemokratie innerhalb der namentlich
königstreuen Landbevölkerung diese Mißachtung und offenbare Verhöhnung
des Ansehens der Krone verwertet werden können, wenn man sie mit dem
Schweigen der Verachtung erwidert hätte! Aber was geschah statt dessen?
Man rief den Staatsanwalt zu Hilfe und versetzte damit die sozialdemokra-
tischen Abgeordneten in die Rolle von Männern, die in ihrer Abgeordneten¬
freiheit bedroht sind!

Der Staatsanwalt war dem Gesetze nach gewiß nicht im Unrecht; streng
genommen befanden sich die Reichstagsmitglieder, als der Reichstagspräsident
die Rede auf den Kaiser hielt, die mit einem Hoch auf den Kaiser endete,
nicht in der Ausübung ihres Berufs als Abgeordnete. Sie erfüllten, als sie
sich von ihren Sitzen erhoben, eine Anstandspslicht, die mit ihrem Beruf an
sich nichts gemein hatte, und die so wenig eine Ausübung ihres Berufes war,
wie es eine Ausübung des Berufes ist, wenn sich z. B. die Abgeordneten zu
Ehren des Andenkens eines verstorbnen Kollegen erheben. Die Herren, die
sitzen blieben, waren nicht in der Ausübung ihres Berufes begriffen, und ihr
Verhalten im Reichstage könnte daher sehr wohl der Beurteilung des Straf¬
richters unterworfen werden. Aber so wenig wie der Reichstag in seiner
Mehrheit, wird auch die Mehrheit des ganzen Volkes für solche feine juri¬
stischen Unterscheidungen Verständnis haben. Im Volke wird, gleichviel ob
nachträglich noch eine Bestrafung eintritt oder nicht, der Eindruck haften
bleiben, daß es auf einen Eingriff in die Rechte der Volksvertreter abgesehen
war, und dieser Eindruck wird so stark sein, daß er den begangnen Mißgriff
der Sozialdemokraten vergessen machen und ihnen die Gelegenheit geben wird,
sich als mutige Verteidiger der Volksfreiheit vor der großen Masse des Volkes
und ihrer Anhänger aufzuspielen. ,

Das Vorspiel des Umsturzdramas ist beendet. Der erste Akt beginnt


verkehrte Politik

scheint, daß diese Demonstration nicht vorher verabredet gewesen ist; gewiß ist,
daß sie durchaus im Sinne der Kampfstellung war, die die Sozialdemokratie
gegenüber der Umsturzvorlage wieder einzunehmen gedenkt, und daß Herr
Singer, wenn auch nicht im Namen, so doch im Sinne seiner ganzen Partei
sprach, als er dieses Sitzenbleiben durch einen Hinweis darauf begründete, daß
die Umsturzvorlage die Sozialdemokratie außerhalb des heutigen Staates stelle,
und man daher Achtungsbezeugungen gegenüber den Organen dieses Staates
von den Sozialdemokraten nicht verlangen könne.

Kein Zweifel, daß die Sozialdemokratie mit dieser Demonstration, die
andern taktlos erscheinen mußte, einen Fehler begangen hat. Noch denken
große Teile des Volkes, die svzialdemolratisch wühlen, namentlich in Preußen,
durchaus monarchisch, und noch ist — Gott sei Dank! — der deutsche Kaiser
und der König von Preußen in den Augen vieler Tausende von kleinen
Leuten ein Gegenstand der Liebe und Verehrung. Und wie wirksam hätte
gegenüber dem Vordringen der Sozialdemokratie innerhalb der namentlich
königstreuen Landbevölkerung diese Mißachtung und offenbare Verhöhnung
des Ansehens der Krone verwertet werden können, wenn man sie mit dem
Schweigen der Verachtung erwidert hätte! Aber was geschah statt dessen?
Man rief den Staatsanwalt zu Hilfe und versetzte damit die sozialdemokra-
tischen Abgeordneten in die Rolle von Männern, die in ihrer Abgeordneten¬
freiheit bedroht sind!

Der Staatsanwalt war dem Gesetze nach gewiß nicht im Unrecht; streng
genommen befanden sich die Reichstagsmitglieder, als der Reichstagspräsident
die Rede auf den Kaiser hielt, die mit einem Hoch auf den Kaiser endete,
nicht in der Ausübung ihres Berufs als Abgeordnete. Sie erfüllten, als sie
sich von ihren Sitzen erhoben, eine Anstandspslicht, die mit ihrem Beruf an
sich nichts gemein hatte, und die so wenig eine Ausübung ihres Berufes war,
wie es eine Ausübung des Berufes ist, wenn sich z. B. die Abgeordneten zu
Ehren des Andenkens eines verstorbnen Kollegen erheben. Die Herren, die
sitzen blieben, waren nicht in der Ausübung ihres Berufes begriffen, und ihr
Verhalten im Reichstage könnte daher sehr wohl der Beurteilung des Straf¬
richters unterworfen werden. Aber so wenig wie der Reichstag in seiner
Mehrheit, wird auch die Mehrheit des ganzen Volkes für solche feine juri¬
stischen Unterscheidungen Verständnis haben. Im Volke wird, gleichviel ob
nachträglich noch eine Bestrafung eintritt oder nicht, der Eindruck haften
bleiben, daß es auf einen Eingriff in die Rechte der Volksvertreter abgesehen
war, und dieser Eindruck wird so stark sein, daß er den begangnen Mißgriff
der Sozialdemokraten vergessen machen und ihnen die Gelegenheit geben wird,
sich als mutige Verteidiger der Volksfreiheit vor der großen Masse des Volkes
und ihrer Anhänger aufzuspielen. ,

Das Vorspiel des Umsturzdramas ist beendet. Der erste Akt beginnt


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[0012] verkehrte Politik scheint, daß diese Demonstration nicht vorher verabredet gewesen ist; gewiß ist, daß sie durchaus im Sinne der Kampfstellung war, die die Sozialdemokratie gegenüber der Umsturzvorlage wieder einzunehmen gedenkt, und daß Herr Singer, wenn auch nicht im Namen, so doch im Sinne seiner ganzen Partei sprach, als er dieses Sitzenbleiben durch einen Hinweis darauf begründete, daß die Umsturzvorlage die Sozialdemokratie außerhalb des heutigen Staates stelle, und man daher Achtungsbezeugungen gegenüber den Organen dieses Staates von den Sozialdemokraten nicht verlangen könne. Kein Zweifel, daß die Sozialdemokratie mit dieser Demonstration, die andern taktlos erscheinen mußte, einen Fehler begangen hat. Noch denken große Teile des Volkes, die svzialdemolratisch wühlen, namentlich in Preußen, durchaus monarchisch, und noch ist — Gott sei Dank! — der deutsche Kaiser und der König von Preußen in den Augen vieler Tausende von kleinen Leuten ein Gegenstand der Liebe und Verehrung. Und wie wirksam hätte gegenüber dem Vordringen der Sozialdemokratie innerhalb der namentlich königstreuen Landbevölkerung diese Mißachtung und offenbare Verhöhnung des Ansehens der Krone verwertet werden können, wenn man sie mit dem Schweigen der Verachtung erwidert hätte! Aber was geschah statt dessen? Man rief den Staatsanwalt zu Hilfe und versetzte damit die sozialdemokra- tischen Abgeordneten in die Rolle von Männern, die in ihrer Abgeordneten¬ freiheit bedroht sind! Der Staatsanwalt war dem Gesetze nach gewiß nicht im Unrecht; streng genommen befanden sich die Reichstagsmitglieder, als der Reichstagspräsident die Rede auf den Kaiser hielt, die mit einem Hoch auf den Kaiser endete, nicht in der Ausübung ihres Berufs als Abgeordnete. Sie erfüllten, als sie sich von ihren Sitzen erhoben, eine Anstandspslicht, die mit ihrem Beruf an sich nichts gemein hatte, und die so wenig eine Ausübung ihres Berufes war, wie es eine Ausübung des Berufes ist, wenn sich z. B. die Abgeordneten zu Ehren des Andenkens eines verstorbnen Kollegen erheben. Die Herren, die sitzen blieben, waren nicht in der Ausübung ihres Berufes begriffen, und ihr Verhalten im Reichstage könnte daher sehr wohl der Beurteilung des Straf¬ richters unterworfen werden. Aber so wenig wie der Reichstag in seiner Mehrheit, wird auch die Mehrheit des ganzen Volkes für solche feine juri¬ stischen Unterscheidungen Verständnis haben. Im Volke wird, gleichviel ob nachträglich noch eine Bestrafung eintritt oder nicht, der Eindruck haften bleiben, daß es auf einen Eingriff in die Rechte der Volksvertreter abgesehen war, und dieser Eindruck wird so stark sein, daß er den begangnen Mißgriff der Sozialdemokraten vergessen machen und ihnen die Gelegenheit geben wird, sich als mutige Verteidiger der Volksfreiheit vor der großen Masse des Volkes und ihrer Anhänger aufzuspielen. , Das Vorspiel des Umsturzdramas ist beendet. Der erste Akt beginnt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/12>, abgerufen am 22.07.2024.