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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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verkehrte Politik

werde, daß Vollmar mit feinem mit jedem Parteitage stärker werdenden An¬
hange bald auch nicht mehr die äußerlichste Gemeinschaft mit der Behelscheu
Richtung werde aufrechterhalten können. Wer die Entwicklung der Partei seit
dem Ausscheiden der "Jungen" schrittweise so verfolgt hat, wie wir es gethan
haben, der konnte darüber nicht im Zweifel sein, daß, wenn man den Dingen
ihren Lauf ließ, eine Spaltung der Partei in absehbarer Zeit eintreten mußte;
nur das eine war ungewiß, wie weit es der einen oder der andern Richtung
gelingen würde, die große Masse der Partei zu sich herüberzuziehen.

Diesen natürlichen Lauf der Dinge hat man nicht abgewartet, sondern es
für gut gehalten, in demselben Augenblicke, wo die gemäßigte Richtung inner¬
halb der Sozialdemokratie, die seit dem Ausscheiden der Jungen Schritt für
Schritt an Boden gewonnen hat, ihren größten Sieg errang, dem deutschem
Volke den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen, das sich von dem frühern So-
zialistengesetze bei seiner Anwendung in der Praxis wohl nur dadurch unter¬
scheiden würde, daß es noch weit mehr Haß und Erbitterung erregen würde,
als jenes Gesetz je zu erregen vermocht hat.

Wir unterlassen es, aus die einzelnen Mängel dieses Gesetzentwurfs noch¬
mals einzugehen, wir haben sie schon in den letzten Heften des verflossenen
Jahres genügend beleuchtet. sein Hauptmangel liegt nicht in dem, was
uns hier dargeboten wird, sondern in der Thatsache, daß überhaupt ein solcher
Gesetzentwurf vorgelegt werden konnte, und daß er in diesem Augenblicke vor¬
gelegt werden konnte.

Mag es auch richtig sein, was übrigens noch keineswegs zugegeben
werden soll, daß Lücken in unserm Strafgesetze vorhanden sind, deren Aus¬
füllung an sich wünschenswert wäre, und mag man auch von der Notwendig¬
keit überzeugt sein, gegen Zügellosigkeiten, die sich im öffentlichen Leben gezeigt
haben, schärfer vorzugehen, darüber kann doch bei denen, die die Sozial¬
demokratie auch nur in oberflächlicher Weise aus den Zeitungen kennen, kein
Zweifel bestehen, daß der gegenwärtige Augenblick für die Durchsicht und Ver¬
schärfung des Strafgesetzbuchs der allerungünstigste ist. Wären auch die Vor¬
teile des Gesetzentwurfs in Bezug auf die Bekämpfung sozialdemokratischer und
andrer politischer Zügellosigkeiten noch so groß, so stünden sie doch in gar
keinem Verhältnis zu dem ungeheuern Nachteil, den allein die Vorlegung und
Durchberatung dieses Gesetzes, von seiner Annahme ganz zu geschweige", für
die friedliche Weiterentwicklung unsers Staatswesens haben muß.

Freude an diesem Gesetzentwurf, der nicht bloß gegen den Anarchismus,
solidem ganz offenbar auch gegen die Sozialdemokratie gerichtet ist, können
doch mir Bebel und seine Freunde auf der einen Seite und auf der andern
die haben, die es ungern sehen, daß die Sozialdemokratie in ein ruhigeres
Fahrwasser gerät, und die den Augenblick herbeisehnen, wo sie den gewalt¬
samen Widerstand der Partei mit Gewalt unterdrücken können. Wer aber den


verkehrte Politik

werde, daß Vollmar mit feinem mit jedem Parteitage stärker werdenden An¬
hange bald auch nicht mehr die äußerlichste Gemeinschaft mit der Behelscheu
Richtung werde aufrechterhalten können. Wer die Entwicklung der Partei seit
dem Ausscheiden der „Jungen" schrittweise so verfolgt hat, wie wir es gethan
haben, der konnte darüber nicht im Zweifel sein, daß, wenn man den Dingen
ihren Lauf ließ, eine Spaltung der Partei in absehbarer Zeit eintreten mußte;
nur das eine war ungewiß, wie weit es der einen oder der andern Richtung
gelingen würde, die große Masse der Partei zu sich herüberzuziehen.

Diesen natürlichen Lauf der Dinge hat man nicht abgewartet, sondern es
für gut gehalten, in demselben Augenblicke, wo die gemäßigte Richtung inner¬
halb der Sozialdemokratie, die seit dem Ausscheiden der Jungen Schritt für
Schritt an Boden gewonnen hat, ihren größten Sieg errang, dem deutschem
Volke den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen, das sich von dem frühern So-
zialistengesetze bei seiner Anwendung in der Praxis wohl nur dadurch unter¬
scheiden würde, daß es noch weit mehr Haß und Erbitterung erregen würde,
als jenes Gesetz je zu erregen vermocht hat.

Wir unterlassen es, aus die einzelnen Mängel dieses Gesetzentwurfs noch¬
mals einzugehen, wir haben sie schon in den letzten Heften des verflossenen
Jahres genügend beleuchtet. sein Hauptmangel liegt nicht in dem, was
uns hier dargeboten wird, sondern in der Thatsache, daß überhaupt ein solcher
Gesetzentwurf vorgelegt werden konnte, und daß er in diesem Augenblicke vor¬
gelegt werden konnte.

Mag es auch richtig sein, was übrigens noch keineswegs zugegeben
werden soll, daß Lücken in unserm Strafgesetze vorhanden sind, deren Aus¬
füllung an sich wünschenswert wäre, und mag man auch von der Notwendig¬
keit überzeugt sein, gegen Zügellosigkeiten, die sich im öffentlichen Leben gezeigt
haben, schärfer vorzugehen, darüber kann doch bei denen, die die Sozial¬
demokratie auch nur in oberflächlicher Weise aus den Zeitungen kennen, kein
Zweifel bestehen, daß der gegenwärtige Augenblick für die Durchsicht und Ver¬
schärfung des Strafgesetzbuchs der allerungünstigste ist. Wären auch die Vor¬
teile des Gesetzentwurfs in Bezug auf die Bekämpfung sozialdemokratischer und
andrer politischer Zügellosigkeiten noch so groß, so stünden sie doch in gar
keinem Verhältnis zu dem ungeheuern Nachteil, den allein die Vorlegung und
Durchberatung dieses Gesetzes, von seiner Annahme ganz zu geschweige«, für
die friedliche Weiterentwicklung unsers Staatswesens haben muß.

Freude an diesem Gesetzentwurf, der nicht bloß gegen den Anarchismus,
solidem ganz offenbar auch gegen die Sozialdemokratie gerichtet ist, können
doch mir Bebel und seine Freunde auf der einen Seite und auf der andern
die haben, die es ungern sehen, daß die Sozialdemokratie in ein ruhigeres
Fahrwasser gerät, und die den Augenblick herbeisehnen, wo sie den gewalt¬
samen Widerstand der Partei mit Gewalt unterdrücken können. Wer aber den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/10>, abgerufen am 22.07.2024.