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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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gemacht hat, die er nicht bis auf ihren untersten Grund durchschaut hat. Daher
kommt es denn auch, daß er nicht von seinem Gegenstände in ruhiger, klarer
und verständlicher Weise erzählt, sondern sich von ihm fassen und in unglaub¬
lichen Wirbeln herumjagen läßt. Soeben ist von Handlung die Rede ge¬
wesen, aber man darf sich dadurch nicht etwa zu dem Glauben verleiten
lassen, daß davon mehr als eine leise Spur in der Erzählung vorhanden sei.
Man müßte denn Reflexion, verständig sein sollende Erörterung, ein Übermaß
in der Schilderung, wüste Traumbilder und unverständliche Bisionen für Hand¬
lung nehmen. Nachdem Laeryma und "er," ich meine nicht den Dichter,
sondern den, an dem sie ihre Mediumskraft Probiren soll, sich zuerst auf der
Rosenthaler Straße in Berlin begegnet sind, sind sie bald durch einige Zwischen-
stationen -- die eine ist eine religiöse Versammlung, in der ein amerikanischer
Sektirer Vorträge hält, die andre ein geistreich sein sollender Journalisten¬
zirkel -- zu dem Punkte gelangt, wo Adam den Apfel pflücken darf. Wie man sich
denken kann, ist er auch sehr bereit dazu, aber Laeryma sagt: "Nur das wirst
du nicht von mir verlangen." Sie weigert sich, weil dann die öde graue All¬
täglichkeit folgt, in der alles Leben erstorben ist, weil dann das Streben nach
der Vollkommenheit aufhört. Und min hebt jener grauenhafte Zustand an,
den der Dichter -- Sehnsucht nennt, und den er mit der Schilderung der
widerwärtigsten Leibes- und der unglaublichsten Seelenzustände unter einer
martervollen Verrenkung der Sprache in unser Verständnis einführen will.
Vergebliches Bemühen! Denn was als natürlich Thatsächliches zu Grunde liegt,
wissen wir und kann sich jeder nach Bedürfnis ausmalen, während seine eignen
Zuthaten an Reflexion und Schilderung, an Phantasien und Halluzinationen
die graue Achtlosigkeit uur vermehren. Wenn nur irgend etwas Wirkliches
in diese verlassene Welt hineinragte, an der sich nur das geringste Thun derer,
die darin leben, emporranken könnte! Aber Thatsache ist nur das Gieren der
beiden, bis es endlich uach Ausschweifungen, an deren Schilderung jeder
Tropfen Tinte verloren ist, doch in die Erfüllung zusammenklappt.

Nun ist die Öde und Leere, die Alltäglichkeit da, vor der die empfind¬
same Seele Lacrhmas ein so entsetzliches Grauen hatte. Aber warum hatte
sie dieses Grauen? Wenn ihr der Dichter nur eiuen Tropfen thätigen Blutes
in die Adern gegossen hätte, anstatt sie mit jener Medialitüt auszustatten, die
ihr bloß den Aufenthalt zwischen Himmel und Erde erträglich macht, dann
würde sie jetzt, nachdem sie in Wahrheit Weib geworden ist, den Beweis liefern,
daß gerade die Alltäglichkeit, die gewohnheitsmüßige, geringfügige Arbeit, nur
ab und zu vom Genuß, von der Freude und der Feiertagsstimmung unter¬
brochen, das eigentlich Wahre im Menschenleben ist. Wer von uns allen darf
denn den Anspruch machen, immer in den Himmel sehen zu dürfen? Wenn
die Richter vou der Kriminaljustiz einen Fall unter den Händen haben, dessen
Urheber noch nicht entdeckt ist, so stellen sie die Frage: oui bono? Fragen


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gemacht hat, die er nicht bis auf ihren untersten Grund durchschaut hat. Daher
kommt es denn auch, daß er nicht von seinem Gegenstände in ruhiger, klarer
und verständlicher Weise erzählt, sondern sich von ihm fassen und in unglaub¬
lichen Wirbeln herumjagen läßt. Soeben ist von Handlung die Rede ge¬
wesen, aber man darf sich dadurch nicht etwa zu dem Glauben verleiten
lassen, daß davon mehr als eine leise Spur in der Erzählung vorhanden sei.
Man müßte denn Reflexion, verständig sein sollende Erörterung, ein Übermaß
in der Schilderung, wüste Traumbilder und unverständliche Bisionen für Hand¬
lung nehmen. Nachdem Laeryma und „er," ich meine nicht den Dichter,
sondern den, an dem sie ihre Mediumskraft Probiren soll, sich zuerst auf der
Rosenthaler Straße in Berlin begegnet sind, sind sie bald durch einige Zwischen-
stationen — die eine ist eine religiöse Versammlung, in der ein amerikanischer
Sektirer Vorträge hält, die andre ein geistreich sein sollender Journalisten¬
zirkel — zu dem Punkte gelangt, wo Adam den Apfel pflücken darf. Wie man sich
denken kann, ist er auch sehr bereit dazu, aber Laeryma sagt: „Nur das wirst
du nicht von mir verlangen." Sie weigert sich, weil dann die öde graue All¬
täglichkeit folgt, in der alles Leben erstorben ist, weil dann das Streben nach
der Vollkommenheit aufhört. Und min hebt jener grauenhafte Zustand an,
den der Dichter — Sehnsucht nennt, und den er mit der Schilderung der
widerwärtigsten Leibes- und der unglaublichsten Seelenzustände unter einer
martervollen Verrenkung der Sprache in unser Verständnis einführen will.
Vergebliches Bemühen! Denn was als natürlich Thatsächliches zu Grunde liegt,
wissen wir und kann sich jeder nach Bedürfnis ausmalen, während seine eignen
Zuthaten an Reflexion und Schilderung, an Phantasien und Halluzinationen
die graue Achtlosigkeit uur vermehren. Wenn nur irgend etwas Wirkliches
in diese verlassene Welt hineinragte, an der sich nur das geringste Thun derer,
die darin leben, emporranken könnte! Aber Thatsache ist nur das Gieren der
beiden, bis es endlich uach Ausschweifungen, an deren Schilderung jeder
Tropfen Tinte verloren ist, doch in die Erfüllung zusammenklappt.

Nun ist die Öde und Leere, die Alltäglichkeit da, vor der die empfind¬
same Seele Lacrhmas ein so entsetzliches Grauen hatte. Aber warum hatte
sie dieses Grauen? Wenn ihr der Dichter nur eiuen Tropfen thätigen Blutes
in die Adern gegossen hätte, anstatt sie mit jener Medialitüt auszustatten, die
ihr bloß den Aufenthalt zwischen Himmel und Erde erträglich macht, dann
würde sie jetzt, nachdem sie in Wahrheit Weib geworden ist, den Beweis liefern,
daß gerade die Alltäglichkeit, die gewohnheitsmüßige, geringfügige Arbeit, nur
ab und zu vom Genuß, von der Freude und der Feiertagsstimmung unter¬
brochen, das eigentlich Wahre im Menschenleben ist. Wer von uns allen darf
denn den Anspruch machen, immer in den Himmel sehen zu dürfen? Wenn
die Richter vou der Kriminaljustiz einen Fall unter den Händen haben, dessen
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[0077] Auch ein Einbänder gemacht hat, die er nicht bis auf ihren untersten Grund durchschaut hat. Daher kommt es denn auch, daß er nicht von seinem Gegenstände in ruhiger, klarer und verständlicher Weise erzählt, sondern sich von ihm fassen und in unglaub¬ lichen Wirbeln herumjagen läßt. Soeben ist von Handlung die Rede ge¬ wesen, aber man darf sich dadurch nicht etwa zu dem Glauben verleiten lassen, daß davon mehr als eine leise Spur in der Erzählung vorhanden sei. Man müßte denn Reflexion, verständig sein sollende Erörterung, ein Übermaß in der Schilderung, wüste Traumbilder und unverständliche Bisionen für Hand¬ lung nehmen. Nachdem Laeryma und „er," ich meine nicht den Dichter, sondern den, an dem sie ihre Mediumskraft Probiren soll, sich zuerst auf der Rosenthaler Straße in Berlin begegnet sind, sind sie bald durch einige Zwischen- stationen — die eine ist eine religiöse Versammlung, in der ein amerikanischer Sektirer Vorträge hält, die andre ein geistreich sein sollender Journalisten¬ zirkel — zu dem Punkte gelangt, wo Adam den Apfel pflücken darf. Wie man sich denken kann, ist er auch sehr bereit dazu, aber Laeryma sagt: „Nur das wirst du nicht von mir verlangen." Sie weigert sich, weil dann die öde graue All¬ täglichkeit folgt, in der alles Leben erstorben ist, weil dann das Streben nach der Vollkommenheit aufhört. Und min hebt jener grauenhafte Zustand an, den der Dichter — Sehnsucht nennt, und den er mit der Schilderung der widerwärtigsten Leibes- und der unglaublichsten Seelenzustände unter einer martervollen Verrenkung der Sprache in unser Verständnis einführen will. Vergebliches Bemühen! Denn was als natürlich Thatsächliches zu Grunde liegt, wissen wir und kann sich jeder nach Bedürfnis ausmalen, während seine eignen Zuthaten an Reflexion und Schilderung, an Phantasien und Halluzinationen die graue Achtlosigkeit uur vermehren. Wenn nur irgend etwas Wirkliches in diese verlassene Welt hineinragte, an der sich nur das geringste Thun derer, die darin leben, emporranken könnte! Aber Thatsache ist nur das Gieren der beiden, bis es endlich uach Ausschweifungen, an deren Schilderung jeder Tropfen Tinte verloren ist, doch in die Erfüllung zusammenklappt. Nun ist die Öde und Leere, die Alltäglichkeit da, vor der die empfind¬ same Seele Lacrhmas ein so entsetzliches Grauen hatte. Aber warum hatte sie dieses Grauen? Wenn ihr der Dichter nur eiuen Tropfen thätigen Blutes in die Adern gegossen hätte, anstatt sie mit jener Medialitüt auszustatten, die ihr bloß den Aufenthalt zwischen Himmel und Erde erträglich macht, dann würde sie jetzt, nachdem sie in Wahrheit Weib geworden ist, den Beweis liefern, daß gerade die Alltäglichkeit, die gewohnheitsmüßige, geringfügige Arbeit, nur ab und zu vom Genuß, von der Freude und der Feiertagsstimmung unter¬ brochen, das eigentlich Wahre im Menschenleben ist. Wer von uns allen darf denn den Anspruch machen, immer in den Himmel sehen zu dürfen? Wenn die Richter vou der Kriminaljustiz einen Fall unter den Händen haben, dessen Urheber noch nicht entdeckt ist, so stellen sie die Frage: oui bono? Fragen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/77>, abgerufen am 22.07.2024.