Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sozialdemokratie und Antisemitismus

Wasferblauen, sondern einer heißblütigen, roten Demokratie, die ihre Gründe
nicht aus dem Altertum oder von England, sondern unmittelbar aus dem
Herzen heraufholt. Dagegen kann die schnlgemäße, buchgelehrte Beweisführung
nicht ohne weiteres aufkommen. Auch hier muß warmes, rasch fließendes
Blut Pulsiren; wenn das Leben dem Tode gegenüber Recht hat, so muß in
jenem selber das den Vorsprung haben, was die meiste Thatkraft entwickelt.

Auch im Leitartikelschreiben. Das hat die Mehrzahl unsrer Journalisten
eingesehen, und aus diesem Grunde lesen sich die Zeitungen von heute ganz
anders als die vor dreißig Jahren. Zwar giebt es auch jetzt noch, na¬
mentlich in unsern großen und reichen Provinzialstndten, alte, auf gutem
Grunde ruhende Tagesblätter, die im Laufe der Jahre wenig von ihrem
Äußern aufgegeben haben. Sie haben es nicht nötig, dem Zeitgeiste, den sie
gern zur Mode stempeln möchten, nachzulaufen. Stolz auf ihren Liberalismus,
den sie gewissermaßen in Erbpacht haben, sind die Leute, die dahinter stecken,
im Grnnde sehr konservativ. Respektabel vom Wirbel bis zur Sohle, tragen
sie ihr steifleinenes Gewand wie Don Quixote sein Barbierbecken, das er für
einen'Turnierhelm hielt. Es geht nichts über den Ernst, mit dem sie sich
selber einreden, daß der von ihnen angewandte Divisor ohne Rest in der
Weltzahl aufgehe: was sollte über ihre Weisheit hinaus die Menschheit Wohl
noch zu denken oder zu sorgen haben?

Da konnte man vor einigen Wochen in einem dieser vornehmen patrizischen
Blätter einen Leitartikel über den Antisemitismus lesen, der an Geradlinigkcit
der Gesinnung hinter nichts zurückblieb, was jemals von dieser Seite zur
Emanzipation der Juden gesagt worden ist. Daß die Gleichberechtigung der
semitischen Rasse und ihrer Religion bei freisinnigen Leuten ein Axiom ist,
auch ohne daß sie ihre Aufnahmefähigkeit in die Gemeinschaft des christlichen
Staates nachgewiesen hat, darüber brauchen wir an dieser Stelle kein Wort
zu verlieren. Der siegreiche Kampf gegen den absoluten Staat hat mit der
bürgerlichen Freiheit auch die Gleichstellung der Juden gebracht, ohne daß
sie dafür auch nur die geringste moralische Verpflichtung haben zu übernehmen
brauchen.

Daß das so hat kommen können, daran ist nicht die Unanfechtbarkeit der
liberalen Forderung schuld, sondern die Schwäche in der Stellung der kon¬
servativen Gegner. Es ist eine alte Wahrheit, daß Revolutionen niemals
zustande kommen können, wenn die Zugeständnisse, die gemacht werden müssen,
zur rechten Zeit gemacht werden. Die konservative Politik, die dein Ansturm
unsrer Revolution entgegenstand, wollte alles behaupten, auch das, was sie
uicht behaupten durfte, und deshalb verlor sie alles, auch das, was sie be¬
hauptet, mußte. Der in der Wolle gefärbte Liberalismus hat uatiirlich davon
keine Ahnung. Die Vorteile, die er in den mittlern Jahrzehnten unsers Jahr¬
hunderts errungen hat, hat er nicht bloß mit großem Behagen in sein Gewinn-


Sozialdemokratie und Antisemitismus

Wasferblauen, sondern einer heißblütigen, roten Demokratie, die ihre Gründe
nicht aus dem Altertum oder von England, sondern unmittelbar aus dem
Herzen heraufholt. Dagegen kann die schnlgemäße, buchgelehrte Beweisführung
nicht ohne weiteres aufkommen. Auch hier muß warmes, rasch fließendes
Blut Pulsiren; wenn das Leben dem Tode gegenüber Recht hat, so muß in
jenem selber das den Vorsprung haben, was die meiste Thatkraft entwickelt.

Auch im Leitartikelschreiben. Das hat die Mehrzahl unsrer Journalisten
eingesehen, und aus diesem Grunde lesen sich die Zeitungen von heute ganz
anders als die vor dreißig Jahren. Zwar giebt es auch jetzt noch, na¬
mentlich in unsern großen und reichen Provinzialstndten, alte, auf gutem
Grunde ruhende Tagesblätter, die im Laufe der Jahre wenig von ihrem
Äußern aufgegeben haben. Sie haben es nicht nötig, dem Zeitgeiste, den sie
gern zur Mode stempeln möchten, nachzulaufen. Stolz auf ihren Liberalismus,
den sie gewissermaßen in Erbpacht haben, sind die Leute, die dahinter stecken,
im Grnnde sehr konservativ. Respektabel vom Wirbel bis zur Sohle, tragen
sie ihr steifleinenes Gewand wie Don Quixote sein Barbierbecken, das er für
einen'Turnierhelm hielt. Es geht nichts über den Ernst, mit dem sie sich
selber einreden, daß der von ihnen angewandte Divisor ohne Rest in der
Weltzahl aufgehe: was sollte über ihre Weisheit hinaus die Menschheit Wohl
noch zu denken oder zu sorgen haben?

Da konnte man vor einigen Wochen in einem dieser vornehmen patrizischen
Blätter einen Leitartikel über den Antisemitismus lesen, der an Geradlinigkcit
der Gesinnung hinter nichts zurückblieb, was jemals von dieser Seite zur
Emanzipation der Juden gesagt worden ist. Daß die Gleichberechtigung der
semitischen Rasse und ihrer Religion bei freisinnigen Leuten ein Axiom ist,
auch ohne daß sie ihre Aufnahmefähigkeit in die Gemeinschaft des christlichen
Staates nachgewiesen hat, darüber brauchen wir an dieser Stelle kein Wort
zu verlieren. Der siegreiche Kampf gegen den absoluten Staat hat mit der
bürgerlichen Freiheit auch die Gleichstellung der Juden gebracht, ohne daß
sie dafür auch nur die geringste moralische Verpflichtung haben zu übernehmen
brauchen.

Daß das so hat kommen können, daran ist nicht die Unanfechtbarkeit der
liberalen Forderung schuld, sondern die Schwäche in der Stellung der kon¬
servativen Gegner. Es ist eine alte Wahrheit, daß Revolutionen niemals
zustande kommen können, wenn die Zugeständnisse, die gemacht werden müssen,
zur rechten Zeit gemacht werden. Die konservative Politik, die dein Ansturm
unsrer Revolution entgegenstand, wollte alles behaupten, auch das, was sie
uicht behaupten durfte, und deshalb verlor sie alles, auch das, was sie be¬
hauptet, mußte. Der in der Wolle gefärbte Liberalismus hat uatiirlich davon
keine Ahnung. Die Vorteile, die er in den mittlern Jahrzehnten unsers Jahr¬
hunderts errungen hat, hat er nicht bloß mit großem Behagen in sein Gewinn-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0610" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216334"/>
          <fw type="header" place="top"> Sozialdemokratie und Antisemitismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2390" prev="#ID_2389"> Wasferblauen, sondern einer heißblütigen, roten Demokratie, die ihre Gründe<lb/>
nicht aus dem Altertum oder von England, sondern unmittelbar aus dem<lb/>
Herzen heraufholt. Dagegen kann die schnlgemäße, buchgelehrte Beweisführung<lb/>
nicht ohne weiteres aufkommen. Auch hier muß warmes, rasch fließendes<lb/>
Blut Pulsiren; wenn das Leben dem Tode gegenüber Recht hat, so muß in<lb/>
jenem selber das den Vorsprung haben, was die meiste Thatkraft entwickelt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2391"> Auch im Leitartikelschreiben. Das hat die Mehrzahl unsrer Journalisten<lb/>
eingesehen, und aus diesem Grunde lesen sich die Zeitungen von heute ganz<lb/>
anders als die vor dreißig Jahren. Zwar giebt es auch jetzt noch, na¬<lb/>
mentlich in unsern großen und reichen Provinzialstndten, alte, auf gutem<lb/>
Grunde ruhende Tagesblätter, die im Laufe der Jahre wenig von ihrem<lb/>
Äußern aufgegeben haben. Sie haben es nicht nötig, dem Zeitgeiste, den sie<lb/>
gern zur Mode stempeln möchten, nachzulaufen. Stolz auf ihren Liberalismus,<lb/>
den sie gewissermaßen in Erbpacht haben, sind die Leute, die dahinter stecken,<lb/>
im Grnnde sehr konservativ. Respektabel vom Wirbel bis zur Sohle, tragen<lb/>
sie ihr steifleinenes Gewand wie Don Quixote sein Barbierbecken, das er für<lb/>
einen'Turnierhelm hielt. Es geht nichts über den Ernst, mit dem sie sich<lb/>
selber einreden, daß der von ihnen angewandte Divisor ohne Rest in der<lb/>
Weltzahl aufgehe: was sollte über ihre Weisheit hinaus die Menschheit Wohl<lb/>
noch zu denken oder zu sorgen haben?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2392"> Da konnte man vor einigen Wochen in einem dieser vornehmen patrizischen<lb/>
Blätter einen Leitartikel über den Antisemitismus lesen, der an Geradlinigkcit<lb/>
der Gesinnung hinter nichts zurückblieb, was jemals von dieser Seite zur<lb/>
Emanzipation der Juden gesagt worden ist. Daß die Gleichberechtigung der<lb/>
semitischen Rasse und ihrer Religion bei freisinnigen Leuten ein Axiom ist,<lb/>
auch ohne daß sie ihre Aufnahmefähigkeit in die Gemeinschaft des christlichen<lb/>
Staates nachgewiesen hat, darüber brauchen wir an dieser Stelle kein Wort<lb/>
zu verlieren. Der siegreiche Kampf gegen den absoluten Staat hat mit der<lb/>
bürgerlichen Freiheit auch die Gleichstellung der Juden gebracht, ohne daß<lb/>
sie dafür auch nur die geringste moralische Verpflichtung haben zu übernehmen<lb/>
brauchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2393" next="#ID_2394"> Daß das so hat kommen können, daran ist nicht die Unanfechtbarkeit der<lb/>
liberalen Forderung schuld, sondern die Schwäche in der Stellung der kon¬<lb/>
servativen Gegner. Es ist eine alte Wahrheit, daß Revolutionen niemals<lb/>
zustande kommen können, wenn die Zugeständnisse, die gemacht werden müssen,<lb/>
zur rechten Zeit gemacht werden. Die konservative Politik, die dein Ansturm<lb/>
unsrer Revolution entgegenstand, wollte alles behaupten, auch das, was sie<lb/>
uicht behaupten durfte, und deshalb verlor sie alles, auch das, was sie be¬<lb/>
hauptet, mußte. Der in der Wolle gefärbte Liberalismus hat uatiirlich davon<lb/>
keine Ahnung. Die Vorteile, die er in den mittlern Jahrzehnten unsers Jahr¬<lb/>
hunderts errungen hat, hat er nicht bloß mit großem Behagen in sein Gewinn-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0610] Sozialdemokratie und Antisemitismus Wasferblauen, sondern einer heißblütigen, roten Demokratie, die ihre Gründe nicht aus dem Altertum oder von England, sondern unmittelbar aus dem Herzen heraufholt. Dagegen kann die schnlgemäße, buchgelehrte Beweisführung nicht ohne weiteres aufkommen. Auch hier muß warmes, rasch fließendes Blut Pulsiren; wenn das Leben dem Tode gegenüber Recht hat, so muß in jenem selber das den Vorsprung haben, was die meiste Thatkraft entwickelt. Auch im Leitartikelschreiben. Das hat die Mehrzahl unsrer Journalisten eingesehen, und aus diesem Grunde lesen sich die Zeitungen von heute ganz anders als die vor dreißig Jahren. Zwar giebt es auch jetzt noch, na¬ mentlich in unsern großen und reichen Provinzialstndten, alte, auf gutem Grunde ruhende Tagesblätter, die im Laufe der Jahre wenig von ihrem Äußern aufgegeben haben. Sie haben es nicht nötig, dem Zeitgeiste, den sie gern zur Mode stempeln möchten, nachzulaufen. Stolz auf ihren Liberalismus, den sie gewissermaßen in Erbpacht haben, sind die Leute, die dahinter stecken, im Grnnde sehr konservativ. Respektabel vom Wirbel bis zur Sohle, tragen sie ihr steifleinenes Gewand wie Don Quixote sein Barbierbecken, das er für einen'Turnierhelm hielt. Es geht nichts über den Ernst, mit dem sie sich selber einreden, daß der von ihnen angewandte Divisor ohne Rest in der Weltzahl aufgehe: was sollte über ihre Weisheit hinaus die Menschheit Wohl noch zu denken oder zu sorgen haben? Da konnte man vor einigen Wochen in einem dieser vornehmen patrizischen Blätter einen Leitartikel über den Antisemitismus lesen, der an Geradlinigkcit der Gesinnung hinter nichts zurückblieb, was jemals von dieser Seite zur Emanzipation der Juden gesagt worden ist. Daß die Gleichberechtigung der semitischen Rasse und ihrer Religion bei freisinnigen Leuten ein Axiom ist, auch ohne daß sie ihre Aufnahmefähigkeit in die Gemeinschaft des christlichen Staates nachgewiesen hat, darüber brauchen wir an dieser Stelle kein Wort zu verlieren. Der siegreiche Kampf gegen den absoluten Staat hat mit der bürgerlichen Freiheit auch die Gleichstellung der Juden gebracht, ohne daß sie dafür auch nur die geringste moralische Verpflichtung haben zu übernehmen brauchen. Daß das so hat kommen können, daran ist nicht die Unanfechtbarkeit der liberalen Forderung schuld, sondern die Schwäche in der Stellung der kon¬ servativen Gegner. Es ist eine alte Wahrheit, daß Revolutionen niemals zustande kommen können, wenn die Zugeständnisse, die gemacht werden müssen, zur rechten Zeit gemacht werden. Die konservative Politik, die dein Ansturm unsrer Revolution entgegenstand, wollte alles behaupten, auch das, was sie uicht behaupten durfte, und deshalb verlor sie alles, auch das, was sie be¬ hauptet, mußte. Der in der Wolle gefärbte Liberalismus hat uatiirlich davon keine Ahnung. Die Vorteile, die er in den mittlern Jahrzehnten unsers Jahr¬ hunderts errungen hat, hat er nicht bloß mit großem Behagen in sein Gewinn-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/610
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/610>, abgerufen am 04.07.2024.