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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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aber solche Anlagen, so liegt es schon im Interesse des ärztlichen Dienstes,
daß auch frische Verletzungen aufgenommen werden. Nur so kann sich die Ge¬
nossenschaft tüchtige und urteilsfähige Ärzte bilden.

Wir kommen nun zu dem zweiten Teil der Aufgabe, dafür zu sorgen,
daß der Verletzte zur rechten Zeit der Kasse der Genossenschaft wieder ab¬
genommen und der Arbeit zurückgegeben werde. Wenn auf der einen Seite
verlangt wird, daß die Genossenschaft den Arbeiter und seine Familie vor Not
schützt, so muß die Genossenschaft auch von dem Arbeiter verlangen, daß er
die Wohlthat, die ihm zu teil wird, nicht mißbraucht, daß er nicht über die
wirklich notwendige Zeit hinaus von der Arbeit wegbleibt. Die Zahl derer,
die die Arbeit verspätet wieder aufnehmen -- wenn sie uicht wirklich anerkannt
invalid sind --, besteht ans solchen, die sich in der That für leistungsunfähig
halten, und aus solchen, die in böswilliger Absicht behaupte", daß sie leistungs¬
unfähig seien, indem sie zum Teil wirklich vorhandne Leiden übertreiben, zum
Teil Leiden geradezu simulireu. Eine Zwischeuklasfe zwischen den ängstlichen
Gemütern und den böswilligen Arbeitsverweigerern bilden die, die ihre Ge¬
nesung verzögern, dadurch daß sie nichts dasür thun. Sie sollen ihre Arme
üben, sie sollen gehe", um ihre Gelenke flott zu machen, aber sie thun es nicht,
weil sie zu faul dazu sind, sie wollen sich nicht wehe thun, denn sie werden
ja unterstützt. Solchen Menschen ist das Gesetz zum Nachteil gemacht, sie
haben eine leichte Verletzung gehabt, sie würden längst wieder arbeiten, wenn
es kein Unfallgesetz gäbe; aber es ist ja so bequem, abzuwarten, bis die Ar¬
beitsfähigkeit von selbst kommt, und es thut weniger weh. Die Zahl dieser
Menschen ist groß. Wer Kriegsbehandlnng mitgemacht hat, kennt sie schon aus
jener Zeit. Der Offizier, der die gleiche Verletzung davongetragen hatte, wie
der gemeine Soldat, ging nach vier Wochen wieder zur Truppe; sein ganzes
Sinnen und Trachten ging darauf, daß er genese und seinein Beruf zurück¬
gegeben werde. Eine große Zahl Soldaten dagegen blieb mit steifem Arm,
uut sinkendem Bein im Lazarett, bis der Krieg vorüber war. sie warteten auf
Jnvnlidisirnng.

Die erste der drei genannten Gruppen spielt keine große Rolle. Meist sind
es ungesunde, zur Nervosität neigende Personen, die von einem taktvollen Arzt
leicht eines bessern belehrt werden. Auch die Zwischeuklasfe bereitet dem Arzt
keine besondre Schwierigkeit. Aber schwierig sind für ihn die böswilligen Über¬
treiber und die Simulanten. Auch sie sind selbstverständlich ein Produkt des
Unfallgesetzes. Denn wenn früher die eiserne Notwendigkeit den verletzten Ar¬
beiter zwang, auch wenn seine Kräfte noch nicht ganz zurückgekehrt waren, die
Arbeit wieder aufzunehmen und so seine Kräfte wieder zu üben und herzustellen,
findet es hente gar mancher bequemer, seiue Beschwerden so zu übertreiben,
daß er steif und fest behauptet, uicht arbeiten zu können, oder gar Beschwerden zu
heucheln, die ihn angeblich vollkommen leistungsunfähig machen. Faulheit und


Ärenzboten IV 1893 64

aber solche Anlagen, so liegt es schon im Interesse des ärztlichen Dienstes,
daß auch frische Verletzungen aufgenommen werden. Nur so kann sich die Ge¬
nossenschaft tüchtige und urteilsfähige Ärzte bilden.

Wir kommen nun zu dem zweiten Teil der Aufgabe, dafür zu sorgen,
daß der Verletzte zur rechten Zeit der Kasse der Genossenschaft wieder ab¬
genommen und der Arbeit zurückgegeben werde. Wenn auf der einen Seite
verlangt wird, daß die Genossenschaft den Arbeiter und seine Familie vor Not
schützt, so muß die Genossenschaft auch von dem Arbeiter verlangen, daß er
die Wohlthat, die ihm zu teil wird, nicht mißbraucht, daß er nicht über die
wirklich notwendige Zeit hinaus von der Arbeit wegbleibt. Die Zahl derer,
die die Arbeit verspätet wieder aufnehmen — wenn sie uicht wirklich anerkannt
invalid sind —, besteht ans solchen, die sich in der That für leistungsunfähig
halten, und aus solchen, die in böswilliger Absicht behaupte», daß sie leistungs¬
unfähig seien, indem sie zum Teil wirklich vorhandne Leiden übertreiben, zum
Teil Leiden geradezu simulireu. Eine Zwischeuklasfe zwischen den ängstlichen
Gemütern und den böswilligen Arbeitsverweigerern bilden die, die ihre Ge¬
nesung verzögern, dadurch daß sie nichts dasür thun. Sie sollen ihre Arme
üben, sie sollen gehe», um ihre Gelenke flott zu machen, aber sie thun es nicht,
weil sie zu faul dazu sind, sie wollen sich nicht wehe thun, denn sie werden
ja unterstützt. Solchen Menschen ist das Gesetz zum Nachteil gemacht, sie
haben eine leichte Verletzung gehabt, sie würden längst wieder arbeiten, wenn
es kein Unfallgesetz gäbe; aber es ist ja so bequem, abzuwarten, bis die Ar¬
beitsfähigkeit von selbst kommt, und es thut weniger weh. Die Zahl dieser
Menschen ist groß. Wer Kriegsbehandlnng mitgemacht hat, kennt sie schon aus
jener Zeit. Der Offizier, der die gleiche Verletzung davongetragen hatte, wie
der gemeine Soldat, ging nach vier Wochen wieder zur Truppe; sein ganzes
Sinnen und Trachten ging darauf, daß er genese und seinein Beruf zurück¬
gegeben werde. Eine große Zahl Soldaten dagegen blieb mit steifem Arm,
uut sinkendem Bein im Lazarett, bis der Krieg vorüber war. sie warteten auf
Jnvnlidisirnng.

Die erste der drei genannten Gruppen spielt keine große Rolle. Meist sind
es ungesunde, zur Nervosität neigende Personen, die von einem taktvollen Arzt
leicht eines bessern belehrt werden. Auch die Zwischeuklasfe bereitet dem Arzt
keine besondre Schwierigkeit. Aber schwierig sind für ihn die böswilligen Über¬
treiber und die Simulanten. Auch sie sind selbstverständlich ein Produkt des
Unfallgesetzes. Denn wenn früher die eiserne Notwendigkeit den verletzten Ar¬
beiter zwang, auch wenn seine Kräfte noch nicht ganz zurückgekehrt waren, die
Arbeit wieder aufzunehmen und so seine Kräfte wieder zu üben und herzustellen,
findet es hente gar mancher bequemer, seiue Beschwerden so zu übertreiben,
daß er steif und fest behauptet, uicht arbeiten zu können, oder gar Beschwerden zu
heucheln, die ihn angeblich vollkommen leistungsunfähig machen. Faulheit und


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[0513] aber solche Anlagen, so liegt es schon im Interesse des ärztlichen Dienstes, daß auch frische Verletzungen aufgenommen werden. Nur so kann sich die Ge¬ nossenschaft tüchtige und urteilsfähige Ärzte bilden. Wir kommen nun zu dem zweiten Teil der Aufgabe, dafür zu sorgen, daß der Verletzte zur rechten Zeit der Kasse der Genossenschaft wieder ab¬ genommen und der Arbeit zurückgegeben werde. Wenn auf der einen Seite verlangt wird, daß die Genossenschaft den Arbeiter und seine Familie vor Not schützt, so muß die Genossenschaft auch von dem Arbeiter verlangen, daß er die Wohlthat, die ihm zu teil wird, nicht mißbraucht, daß er nicht über die wirklich notwendige Zeit hinaus von der Arbeit wegbleibt. Die Zahl derer, die die Arbeit verspätet wieder aufnehmen — wenn sie uicht wirklich anerkannt invalid sind —, besteht ans solchen, die sich in der That für leistungsunfähig halten, und aus solchen, die in böswilliger Absicht behaupte», daß sie leistungs¬ unfähig seien, indem sie zum Teil wirklich vorhandne Leiden übertreiben, zum Teil Leiden geradezu simulireu. Eine Zwischeuklasfe zwischen den ängstlichen Gemütern und den böswilligen Arbeitsverweigerern bilden die, die ihre Ge¬ nesung verzögern, dadurch daß sie nichts dasür thun. Sie sollen ihre Arme üben, sie sollen gehe», um ihre Gelenke flott zu machen, aber sie thun es nicht, weil sie zu faul dazu sind, sie wollen sich nicht wehe thun, denn sie werden ja unterstützt. Solchen Menschen ist das Gesetz zum Nachteil gemacht, sie haben eine leichte Verletzung gehabt, sie würden längst wieder arbeiten, wenn es kein Unfallgesetz gäbe; aber es ist ja so bequem, abzuwarten, bis die Ar¬ beitsfähigkeit von selbst kommt, und es thut weniger weh. Die Zahl dieser Menschen ist groß. Wer Kriegsbehandlnng mitgemacht hat, kennt sie schon aus jener Zeit. Der Offizier, der die gleiche Verletzung davongetragen hatte, wie der gemeine Soldat, ging nach vier Wochen wieder zur Truppe; sein ganzes Sinnen und Trachten ging darauf, daß er genese und seinein Beruf zurück¬ gegeben werde. Eine große Zahl Soldaten dagegen blieb mit steifem Arm, uut sinkendem Bein im Lazarett, bis der Krieg vorüber war. sie warteten auf Jnvnlidisirnng. Die erste der drei genannten Gruppen spielt keine große Rolle. Meist sind es ungesunde, zur Nervosität neigende Personen, die von einem taktvollen Arzt leicht eines bessern belehrt werden. Auch die Zwischeuklasfe bereitet dem Arzt keine besondre Schwierigkeit. Aber schwierig sind für ihn die böswilligen Über¬ treiber und die Simulanten. Auch sie sind selbstverständlich ein Produkt des Unfallgesetzes. Denn wenn früher die eiserne Notwendigkeit den verletzten Ar¬ beiter zwang, auch wenn seine Kräfte noch nicht ganz zurückgekehrt waren, die Arbeit wieder aufzunehmen und so seine Kräfte wieder zu üben und herzustellen, findet es hente gar mancher bequemer, seiue Beschwerden so zu übertreiben, daß er steif und fest behauptet, uicht arbeiten zu können, oder gar Beschwerden zu heucheln, die ihn angeblich vollkommen leistungsunfähig machen. Faulheit und Ärenzboten IV 1893 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/513>, abgerufen am 22.07.2024.