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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Der Arzt und das Unstillgesetz

im Krankenhause behüten, wenn er ein offnes Auge und ein warmes Herz hat,
so ist er vor allem geeignet, über Leid und Freud seines Schutzbefohlnen Beob¬
achtungen zu machen. Wer aber längere Jahre in diesem Sinne wirkt, der ist
gewiß auch geeignet, über die Veränderungen, die die hier besprochnen Gesetze
hervorgerufen haben, Beobachtungen zu machen. Er hat aber auch eine ge¬
wisse Verpflichtung, solche Beobachtungen mitzuteilen, wenn er der Meinung
ist, daß dies für die Sache von Nutzen sei. Darum gebe ich, der ich länger
als drei Jahrzehnte der leidenden Menschheit im Krankenhause gedient habe,
die folgenden, sich auf den Mechanismus und die Wirkung des Krankeukassen-
und namentlich des Unfallgesetzes beziehenden Bemerkungen.

Die Aufgaben, die ein Gesetz zu lösen hat, das bestimmt ist, so viel als
möglich die Härte zu mildern, die den besitzlosen Arbeiter mit seiner Familie
trifft, wenn er durch jähe Krankheit oder durch Verletzung, die ein Unfall bei
der Arbeit herbeigeführt hat, verdienstlvs geworden ist, diese Aufgaben sind
zweifacher Art. Die erste und Hauptaufgabe ist die, den Kranken, den Ver¬
letzte" wieder gesund zu machen. Faßt man diese Aufgabe uur nationalökono-
misch, so hieße das: es soll gesorgt werde", daß der Verletzte möglichst rasch
im Besitz seiner volle" Kraft und Gesundheit seiiier Arbeit zurückgegebe" werde.
Diese Aufgabe ist nicht nur eine humnue, sondern auch eine volkswirtschaft¬
liche, und nur wenn sie gut durchgeführt wird, ist eine Wirkung des Gesetzes
im Sinne des Gesetzgebers zu erwarten.

Die zweite Aufgabe besteht darin, daß Mittel beschafft werden, die nicht
uur die Durchführung der erste" ermögliche", sondern auch die Existenz des
Arbeiters und seiner Familie während der Heilnngsdaner und darüber hinaus,
während der Invalidität sicherstellen. Auch die zweckmäßige Verteilung dieser
Mittel gehört zu dieser Aufgabe.

Diese zweite Aufgabe gehört nicht unmittelbar zur Kompetenz des Arztes.
Wir wollen uns hier nnr mit der ersten beschäftige" und wollen sehen, in
welcher Art sie bisher durch die Art der Ausftthruug des Gesetzes gelöst worden
ist. Denn sie gehört in erster Linie vor das Forum des Arztes.

Um einen Überblick über die Fragen zu gewinnen, die uus bei dieser Auf¬
gabe beschäftigen, müssen wir sie in ihre einzelnen Teile zerlegen. Wenn
der gestellten Aufgabe entsprochen werden soll, so müssen:

1. solche Einrichtungen getroffen sein, die Bürgschaft leisten, daß die Be¬
handlung sachgemäß sei und den Verletzten in möglichst kurzer Zeit seiner
Arbeit zurückgebe. Die Behandlung darf sich also nicht nur auf die unmittel¬
bare Heilung der Verletzung, sondern auch auf die Beseitigung der mittelbaren
und unmittelbaren die Arbeitsfähigkeit des Verletzten schädigenden Folgen der
Verletzung erstrecken.

2. Die Einrichtungen müssen derart getroffen sein, daß der Verletzte
weder zu früh noch zu spät der Arbeit zurückgegeben werde. Dabei ist die


Der Arzt und das Unstillgesetz

im Krankenhause behüten, wenn er ein offnes Auge und ein warmes Herz hat,
so ist er vor allem geeignet, über Leid und Freud seines Schutzbefohlnen Beob¬
achtungen zu machen. Wer aber längere Jahre in diesem Sinne wirkt, der ist
gewiß auch geeignet, über die Veränderungen, die die hier besprochnen Gesetze
hervorgerufen haben, Beobachtungen zu machen. Er hat aber auch eine ge¬
wisse Verpflichtung, solche Beobachtungen mitzuteilen, wenn er der Meinung
ist, daß dies für die Sache von Nutzen sei. Darum gebe ich, der ich länger
als drei Jahrzehnte der leidenden Menschheit im Krankenhause gedient habe,
die folgenden, sich auf den Mechanismus und die Wirkung des Krankeukassen-
und namentlich des Unfallgesetzes beziehenden Bemerkungen.

Die Aufgaben, die ein Gesetz zu lösen hat, das bestimmt ist, so viel als
möglich die Härte zu mildern, die den besitzlosen Arbeiter mit seiner Familie
trifft, wenn er durch jähe Krankheit oder durch Verletzung, die ein Unfall bei
der Arbeit herbeigeführt hat, verdienstlvs geworden ist, diese Aufgaben sind
zweifacher Art. Die erste und Hauptaufgabe ist die, den Kranken, den Ver¬
letzte» wieder gesund zu machen. Faßt man diese Aufgabe uur nationalökono-
misch, so hieße das: es soll gesorgt werde», daß der Verletzte möglichst rasch
im Besitz seiner volle» Kraft und Gesundheit seiiier Arbeit zurückgegebe» werde.
Diese Aufgabe ist nicht nur eine humnue, sondern auch eine volkswirtschaft¬
liche, und nur wenn sie gut durchgeführt wird, ist eine Wirkung des Gesetzes
im Sinne des Gesetzgebers zu erwarten.

Die zweite Aufgabe besteht darin, daß Mittel beschafft werden, die nicht
uur die Durchführung der erste» ermögliche», sondern auch die Existenz des
Arbeiters und seiner Familie während der Heilnngsdaner und darüber hinaus,
während der Invalidität sicherstellen. Auch die zweckmäßige Verteilung dieser
Mittel gehört zu dieser Aufgabe.

Diese zweite Aufgabe gehört nicht unmittelbar zur Kompetenz des Arztes.
Wir wollen uns hier nnr mit der ersten beschäftige» und wollen sehen, in
welcher Art sie bisher durch die Art der Ausftthruug des Gesetzes gelöst worden
ist. Denn sie gehört in erster Linie vor das Forum des Arztes.

Um einen Überblick über die Fragen zu gewinnen, die uus bei dieser Auf¬
gabe beschäftigen, müssen wir sie in ihre einzelnen Teile zerlegen. Wenn
der gestellten Aufgabe entsprochen werden soll, so müssen:

1. solche Einrichtungen getroffen sein, die Bürgschaft leisten, daß die Be¬
handlung sachgemäß sei und den Verletzten in möglichst kurzer Zeit seiner
Arbeit zurückgebe. Die Behandlung darf sich also nicht nur auf die unmittel¬
bare Heilung der Verletzung, sondern auch auf die Beseitigung der mittelbaren
und unmittelbaren die Arbeitsfähigkeit des Verletzten schädigenden Folgen der
Verletzung erstrecken.

2. Die Einrichtungen müssen derart getroffen sein, daß der Verletzte
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[0510] Der Arzt und das Unstillgesetz im Krankenhause behüten, wenn er ein offnes Auge und ein warmes Herz hat, so ist er vor allem geeignet, über Leid und Freud seines Schutzbefohlnen Beob¬ achtungen zu machen. Wer aber längere Jahre in diesem Sinne wirkt, der ist gewiß auch geeignet, über die Veränderungen, die die hier besprochnen Gesetze hervorgerufen haben, Beobachtungen zu machen. Er hat aber auch eine ge¬ wisse Verpflichtung, solche Beobachtungen mitzuteilen, wenn er der Meinung ist, daß dies für die Sache von Nutzen sei. Darum gebe ich, der ich länger als drei Jahrzehnte der leidenden Menschheit im Krankenhause gedient habe, die folgenden, sich auf den Mechanismus und die Wirkung des Krankeukassen- und namentlich des Unfallgesetzes beziehenden Bemerkungen. Die Aufgaben, die ein Gesetz zu lösen hat, das bestimmt ist, so viel als möglich die Härte zu mildern, die den besitzlosen Arbeiter mit seiner Familie trifft, wenn er durch jähe Krankheit oder durch Verletzung, die ein Unfall bei der Arbeit herbeigeführt hat, verdienstlvs geworden ist, diese Aufgaben sind zweifacher Art. Die erste und Hauptaufgabe ist die, den Kranken, den Ver¬ letzte» wieder gesund zu machen. Faßt man diese Aufgabe uur nationalökono- misch, so hieße das: es soll gesorgt werde», daß der Verletzte möglichst rasch im Besitz seiner volle» Kraft und Gesundheit seiiier Arbeit zurückgegebe» werde. Diese Aufgabe ist nicht nur eine humnue, sondern auch eine volkswirtschaft¬ liche, und nur wenn sie gut durchgeführt wird, ist eine Wirkung des Gesetzes im Sinne des Gesetzgebers zu erwarten. Die zweite Aufgabe besteht darin, daß Mittel beschafft werden, die nicht uur die Durchführung der erste» ermögliche», sondern auch die Existenz des Arbeiters und seiner Familie während der Heilnngsdaner und darüber hinaus, während der Invalidität sicherstellen. Auch die zweckmäßige Verteilung dieser Mittel gehört zu dieser Aufgabe. Diese zweite Aufgabe gehört nicht unmittelbar zur Kompetenz des Arztes. Wir wollen uns hier nnr mit der ersten beschäftige» und wollen sehen, in welcher Art sie bisher durch die Art der Ausftthruug des Gesetzes gelöst worden ist. Denn sie gehört in erster Linie vor das Forum des Arztes. Um einen Überblick über die Fragen zu gewinnen, die uus bei dieser Auf¬ gabe beschäftigen, müssen wir sie in ihre einzelnen Teile zerlegen. Wenn der gestellten Aufgabe entsprochen werden soll, so müssen: 1. solche Einrichtungen getroffen sein, die Bürgschaft leisten, daß die Be¬ handlung sachgemäß sei und den Verletzten in möglichst kurzer Zeit seiner Arbeit zurückgebe. Die Behandlung darf sich also nicht nur auf die unmittel¬ bare Heilung der Verletzung, sondern auch auf die Beseitigung der mittelbaren und unmittelbaren die Arbeitsfähigkeit des Verletzten schädigenden Folgen der Verletzung erstrecken. 2. Die Einrichtungen müssen derart getroffen sein, daß der Verletzte weder zu früh noch zu spät der Arbeit zurückgegeben werde. Dabei ist die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/510>, abgerufen am 24.08.2024.