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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Jugend

der von außen kommt, plötzlich zu Heller Flamme emporlodert, denkt mit
Grauen an das ihr drohende Los in der Kerkerzelle des Klosters und wirft
sich fast unbewußt dem Freunde als ihrem Retter und Befreier in die Arme.
Und nun kommt wieder etwas, was eben nur der moderne "Dichter" fertig¬
bringt: das unausbleiblich Geschlechtliche, worin die ganze naturalistische Welt-
uud Lebensanschauung kreist, wie der Ochse im Göpelwerk, worin sie auf- und
untergeht. Daß die beideu sich lieben, genügt nicht. Vor den Augen des
Zuschauers entwickelt sich die sinnliche Begierde durch alle ihre Erregungs-
zustüude. Von dem ersten Kuß an, den sich die "Kinder" auf deu scherzhaften
Vorhalt des Pfarrers geben, wissen wir genan, wie die Geschichte enden wird.
Das Flüsterwort, das ihr der Jüngling ins Ohr raunt, nachdem sie ihm ver¬
sprochen hat, ihn am nächsten Morgen zu wecken, und auf das sie errötend
den Kopf an seiner Brust birgt, ist bloß die letzte sichtbare Bestätigung einer
Einwilligung, an der wir schou lauge uicht mehr gezweifelt haben. Diese
Stelle ist in ihrer verschwiegnen Deutlichkeit zugleich eine der schamlosesten Ver¬
letzungen des öffentlichen Anstands, die sich die moderne Bühne erlaubt hat.
Wenn nachts in der Friedrichstraße in Berlin eine gewisse Sorte von Mädchen
dem aus der Kneipe heimkehrenden Lebemann einen auffordernden Blick zu¬
wirft, so findet das die gesittete Welt empörend; auf der Bühne aber darf
ähnliches geschehen vor den Frauen und Töchtern der guten Gesellschaft, und
sie lassen sichs ruhig gefallen.

Das "sündige Blut" der Mutter hat also auch die Tochter zu Fall ge¬
bracht. Der Kaplan hat Recht behalten, als er den alten Pfarrer warnte, in
zu großer Vertrauensseligkeit die wachsende Zuneigung der jungen Leute zu
begünstigen. Nun ist der Jammer groß. Aber unser "Dichter" löst alle
Fragen, was aus den Schuldigen werden soll: z. B. ob Hänschen moralisch
verpflichtet sei, sein Studium aufzugeben und als ehrsamer Philister ein Brot
zu suchen, das ihm ermögliche, sein schulzahm heimzuführen? auf sehr ein-
fache Art. Da ist nämlich ein blödsinniger Stiefbruder Annas, aus einer
spätern wirklichen Ehe ihrer Mutter. (Auch das ist ein beliebter Kniff der
Modernen, die "Kinder der Liebe" mit allen körperlichen und geistigen Vor¬
zügen auszustatten, die ehelich erzeugten dagegen zu Trotteln zu machen, ge¬
wissermaßen zu Trägern des Fluchs, mit dem alle unsre bürgerlichen Ein¬
richtungen belastet sein sollen.) Dieser Bruder Amandus ist höchst eifer¬
süchtig auf Hans, weil Ärmchen für Haus Waffeln bückt, von denen er nichts
bekommt. Der rachgierige Schwachkopf verschafft sich eine Vogelflinte -- man
weiß nicht recht, wie und woher -- und schießt durchs Fenster ans Hünschen.
Er trifft aber natürlich die Schwester; diese stirbt, und das Stück ist aus.

Das eine wird wohl aus dieser kurzen Darstellung zu erkennen sein,
daß die "Jugend" ihrem Geist und Wesen nach völlig zu der Klasse moderner
Dramen zählt, die nun schon so lange auf unsern Bühnen umgehen. Alle Re-


Jugend

der von außen kommt, plötzlich zu Heller Flamme emporlodert, denkt mit
Grauen an das ihr drohende Los in der Kerkerzelle des Klosters und wirft
sich fast unbewußt dem Freunde als ihrem Retter und Befreier in die Arme.
Und nun kommt wieder etwas, was eben nur der moderne „Dichter" fertig¬
bringt: das unausbleiblich Geschlechtliche, worin die ganze naturalistische Welt-
uud Lebensanschauung kreist, wie der Ochse im Göpelwerk, worin sie auf- und
untergeht. Daß die beideu sich lieben, genügt nicht. Vor den Augen des
Zuschauers entwickelt sich die sinnliche Begierde durch alle ihre Erregungs-
zustüude. Von dem ersten Kuß an, den sich die „Kinder" auf deu scherzhaften
Vorhalt des Pfarrers geben, wissen wir genan, wie die Geschichte enden wird.
Das Flüsterwort, das ihr der Jüngling ins Ohr raunt, nachdem sie ihm ver¬
sprochen hat, ihn am nächsten Morgen zu wecken, und auf das sie errötend
den Kopf an seiner Brust birgt, ist bloß die letzte sichtbare Bestätigung einer
Einwilligung, an der wir schou lauge uicht mehr gezweifelt haben. Diese
Stelle ist in ihrer verschwiegnen Deutlichkeit zugleich eine der schamlosesten Ver¬
letzungen des öffentlichen Anstands, die sich die moderne Bühne erlaubt hat.
Wenn nachts in der Friedrichstraße in Berlin eine gewisse Sorte von Mädchen
dem aus der Kneipe heimkehrenden Lebemann einen auffordernden Blick zu¬
wirft, so findet das die gesittete Welt empörend; auf der Bühne aber darf
ähnliches geschehen vor den Frauen und Töchtern der guten Gesellschaft, und
sie lassen sichs ruhig gefallen.

Das „sündige Blut" der Mutter hat also auch die Tochter zu Fall ge¬
bracht. Der Kaplan hat Recht behalten, als er den alten Pfarrer warnte, in
zu großer Vertrauensseligkeit die wachsende Zuneigung der jungen Leute zu
begünstigen. Nun ist der Jammer groß. Aber unser „Dichter" löst alle
Fragen, was aus den Schuldigen werden soll: z. B. ob Hänschen moralisch
verpflichtet sei, sein Studium aufzugeben und als ehrsamer Philister ein Brot
zu suchen, das ihm ermögliche, sein schulzahm heimzuführen? auf sehr ein-
fache Art. Da ist nämlich ein blödsinniger Stiefbruder Annas, aus einer
spätern wirklichen Ehe ihrer Mutter. (Auch das ist ein beliebter Kniff der
Modernen, die „Kinder der Liebe" mit allen körperlichen und geistigen Vor¬
zügen auszustatten, die ehelich erzeugten dagegen zu Trotteln zu machen, ge¬
wissermaßen zu Trägern des Fluchs, mit dem alle unsre bürgerlichen Ein¬
richtungen belastet sein sollen.) Dieser Bruder Amandus ist höchst eifer¬
süchtig auf Hans, weil Ärmchen für Haus Waffeln bückt, von denen er nichts
bekommt. Der rachgierige Schwachkopf verschafft sich eine Vogelflinte — man
weiß nicht recht, wie und woher — und schießt durchs Fenster ans Hünschen.
Er trifft aber natürlich die Schwester; diese stirbt, und das Stück ist aus.

Das eine wird wohl aus dieser kurzen Darstellung zu erkennen sein,
daß die „Jugend" ihrem Geist und Wesen nach völlig zu der Klasse moderner
Dramen zählt, die nun schon so lange auf unsern Bühnen umgehen. Alle Re-


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[0478] Jugend der von außen kommt, plötzlich zu Heller Flamme emporlodert, denkt mit Grauen an das ihr drohende Los in der Kerkerzelle des Klosters und wirft sich fast unbewußt dem Freunde als ihrem Retter und Befreier in die Arme. Und nun kommt wieder etwas, was eben nur der moderne „Dichter" fertig¬ bringt: das unausbleiblich Geschlechtliche, worin die ganze naturalistische Welt- uud Lebensanschauung kreist, wie der Ochse im Göpelwerk, worin sie auf- und untergeht. Daß die beideu sich lieben, genügt nicht. Vor den Augen des Zuschauers entwickelt sich die sinnliche Begierde durch alle ihre Erregungs- zustüude. Von dem ersten Kuß an, den sich die „Kinder" auf deu scherzhaften Vorhalt des Pfarrers geben, wissen wir genan, wie die Geschichte enden wird. Das Flüsterwort, das ihr der Jüngling ins Ohr raunt, nachdem sie ihm ver¬ sprochen hat, ihn am nächsten Morgen zu wecken, und auf das sie errötend den Kopf an seiner Brust birgt, ist bloß die letzte sichtbare Bestätigung einer Einwilligung, an der wir schou lauge uicht mehr gezweifelt haben. Diese Stelle ist in ihrer verschwiegnen Deutlichkeit zugleich eine der schamlosesten Ver¬ letzungen des öffentlichen Anstands, die sich die moderne Bühne erlaubt hat. Wenn nachts in der Friedrichstraße in Berlin eine gewisse Sorte von Mädchen dem aus der Kneipe heimkehrenden Lebemann einen auffordernden Blick zu¬ wirft, so findet das die gesittete Welt empörend; auf der Bühne aber darf ähnliches geschehen vor den Frauen und Töchtern der guten Gesellschaft, und sie lassen sichs ruhig gefallen. Das „sündige Blut" der Mutter hat also auch die Tochter zu Fall ge¬ bracht. Der Kaplan hat Recht behalten, als er den alten Pfarrer warnte, in zu großer Vertrauensseligkeit die wachsende Zuneigung der jungen Leute zu begünstigen. Nun ist der Jammer groß. Aber unser „Dichter" löst alle Fragen, was aus den Schuldigen werden soll: z. B. ob Hänschen moralisch verpflichtet sei, sein Studium aufzugeben und als ehrsamer Philister ein Brot zu suchen, das ihm ermögliche, sein schulzahm heimzuführen? auf sehr ein- fache Art. Da ist nämlich ein blödsinniger Stiefbruder Annas, aus einer spätern wirklichen Ehe ihrer Mutter. (Auch das ist ein beliebter Kniff der Modernen, die „Kinder der Liebe" mit allen körperlichen und geistigen Vor¬ zügen auszustatten, die ehelich erzeugten dagegen zu Trotteln zu machen, ge¬ wissermaßen zu Trägern des Fluchs, mit dem alle unsre bürgerlichen Ein¬ richtungen belastet sein sollen.) Dieser Bruder Amandus ist höchst eifer¬ süchtig auf Hans, weil Ärmchen für Haus Waffeln bückt, von denen er nichts bekommt. Der rachgierige Schwachkopf verschafft sich eine Vogelflinte — man weiß nicht recht, wie und woher — und schießt durchs Fenster ans Hünschen. Er trifft aber natürlich die Schwester; diese stirbt, und das Stück ist aus. Das eine wird wohl aus dieser kurzen Darstellung zu erkennen sein, daß die „Jugend" ihrem Geist und Wesen nach völlig zu der Klasse moderner Dramen zählt, die nun schon so lange auf unsern Bühnen umgehen. Alle Re-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/478>, abgerufen am 22.07.2024.