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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

seiner Welt- und Lebensanschauung zu sprechen, er redet überhaupt nicht viel,
aber er hat eine, und was mehr ist, er lebt sie. Und nun halte man gegen
diesen Mann die Töchter und den Sohn des Kammerherrn, dem er dient;
wie reißt ihre "Bildung," sobald es sich um etwas andres als Visiten und
Konversation handelt, in Fetzen und läßt überall die Formlosigkeit des Innen¬
lebens in trauriger Blöße zu Tage treten!

Auf gewisse Weise können wir nun aber dem Sprachgebrauch entgegen¬
kommen, indem wir nämlich eine engere und weitere Bildung unterscheiden,
denn so wollen wir lieber sagen, als niedere und höhere, wie der Sprach¬
gebrauch unterscheidet. Die Weite der Bildung ist abhängig von dem Umkreis
der Wirklichkeit, mit dem der Geist in Berührung tritt. Und in dieser Hin¬
sicht findet nun allerdings ein großer Unterschied statt zwischen einem Bauer,
der nie die Heimat verlassen, und einem Manu, der "vieler Menschen Städte
gesehen und ihren Sinn erkannt hat," zwischen einem Tagelöhner, der bloß
in der Dorfschule deu Katechismus gelernt, und einem Manne, der sich auf
gelehrten Schulen und Universitäten sprachlichen und geschichtlichen, natur¬
wissenschaftlichen und philosophische" Studien gewidmet hat; das Material,
das diesem zur Bildung seines innern Menschen, zum Aufbau einer Welt-
und Lebensanschauung zur Verfügung steht, ist unendlich viel reicher. Hier¬
auf allein blickend, nennt der Sprachgebrauch den und nur den einen Gebil¬
deten, der durch Schulunterricht, Reisen und Verkehr in der Gesellschaft zu
vielfältiger Berührung mit der Welt und den Menschen geführt worden ist,
ziemlich unbekümmert darum, ob dabei sein innerer Mensch Gestalt gewonnen
hat oder nicht. Dem gegenüber werden wir sagen: Bildung setzt vor allem
und zuerst voraus eine von innen heraus gewachsene eigentümliche Gestalt;
zur Bildung im engern Sinne, wie ihn der Sprachgebrauch abgegrenzt hat,
gehört dann noch eine gewisse Weite der Beziehungen zur Wirklichkeit, be¬
sonders eine umfassende Berührung mit der geistig-geschichtlichen Welt.
Die Bildung eines Mannes ist um so umfassender und gründlicher, je reicher
seine Erkenntnis und je tiefer sein Verständnis menschlicher Dinge ist. Der
Geist des Einzelnen entfaltet sich nur in der Berührung mit dem allgemeinen
Geist, wie er sich im geschichtlichen Leben der Menschheit entwickelt.

Von hier aus ist uns nun auch einleuchtend, warum der Sprachgebrauch
Bildung in so enge Beziehung zu Litteratur und Kunst, Philosophie und
Poesie setzt, mehr als zu Naturwissenschaft und Technik, Politik und Wirt¬
schaftsleben; in jenen erscheint das geistige Leben eines Volks am freiesten
und eigentümlichsten. Nicht minder ist von hier aus verständlich, warum
Sprachkenntnisse gern als Gradmesser der Bildung verwendet werden: durch
den Besitz der Sprache tritt man in unmittelbare Berührung mit dem geistigen
Leben des Volkes, das sie spricht, und darum heißt eine fremde Sprache lernen
sich den Zugang zu einer neuen Provinz des Reichs der Humanität öffnen.


Bildung

seiner Welt- und Lebensanschauung zu sprechen, er redet überhaupt nicht viel,
aber er hat eine, und was mehr ist, er lebt sie. Und nun halte man gegen
diesen Mann die Töchter und den Sohn des Kammerherrn, dem er dient;
wie reißt ihre „Bildung," sobald es sich um etwas andres als Visiten und
Konversation handelt, in Fetzen und läßt überall die Formlosigkeit des Innen¬
lebens in trauriger Blöße zu Tage treten!

Auf gewisse Weise können wir nun aber dem Sprachgebrauch entgegen¬
kommen, indem wir nämlich eine engere und weitere Bildung unterscheiden,
denn so wollen wir lieber sagen, als niedere und höhere, wie der Sprach¬
gebrauch unterscheidet. Die Weite der Bildung ist abhängig von dem Umkreis
der Wirklichkeit, mit dem der Geist in Berührung tritt. Und in dieser Hin¬
sicht findet nun allerdings ein großer Unterschied statt zwischen einem Bauer,
der nie die Heimat verlassen, und einem Manu, der „vieler Menschen Städte
gesehen und ihren Sinn erkannt hat," zwischen einem Tagelöhner, der bloß
in der Dorfschule deu Katechismus gelernt, und einem Manne, der sich auf
gelehrten Schulen und Universitäten sprachlichen und geschichtlichen, natur¬
wissenschaftlichen und philosophische» Studien gewidmet hat; das Material,
das diesem zur Bildung seines innern Menschen, zum Aufbau einer Welt-
und Lebensanschauung zur Verfügung steht, ist unendlich viel reicher. Hier¬
auf allein blickend, nennt der Sprachgebrauch den und nur den einen Gebil¬
deten, der durch Schulunterricht, Reisen und Verkehr in der Gesellschaft zu
vielfältiger Berührung mit der Welt und den Menschen geführt worden ist,
ziemlich unbekümmert darum, ob dabei sein innerer Mensch Gestalt gewonnen
hat oder nicht. Dem gegenüber werden wir sagen: Bildung setzt vor allem
und zuerst voraus eine von innen heraus gewachsene eigentümliche Gestalt;
zur Bildung im engern Sinne, wie ihn der Sprachgebrauch abgegrenzt hat,
gehört dann noch eine gewisse Weite der Beziehungen zur Wirklichkeit, be¬
sonders eine umfassende Berührung mit der geistig-geschichtlichen Welt.
Die Bildung eines Mannes ist um so umfassender und gründlicher, je reicher
seine Erkenntnis und je tiefer sein Verständnis menschlicher Dinge ist. Der
Geist des Einzelnen entfaltet sich nur in der Berührung mit dem allgemeinen
Geist, wie er sich im geschichtlichen Leben der Menschheit entwickelt.

Von hier aus ist uns nun auch einleuchtend, warum der Sprachgebrauch
Bildung in so enge Beziehung zu Litteratur und Kunst, Philosophie und
Poesie setzt, mehr als zu Naturwissenschaft und Technik, Politik und Wirt¬
schaftsleben; in jenen erscheint das geistige Leben eines Volks am freiesten
und eigentümlichsten. Nicht minder ist von hier aus verständlich, warum
Sprachkenntnisse gern als Gradmesser der Bildung verwendet werden: durch
den Besitz der Sprache tritt man in unmittelbare Berührung mit dem geistigen
Leben des Volkes, das sie spricht, und darum heißt eine fremde Sprache lernen
sich den Zugang zu einer neuen Provinz des Reichs der Humanität öffnen.


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[0432] Bildung seiner Welt- und Lebensanschauung zu sprechen, er redet überhaupt nicht viel, aber er hat eine, und was mehr ist, er lebt sie. Und nun halte man gegen diesen Mann die Töchter und den Sohn des Kammerherrn, dem er dient; wie reißt ihre „Bildung," sobald es sich um etwas andres als Visiten und Konversation handelt, in Fetzen und läßt überall die Formlosigkeit des Innen¬ lebens in trauriger Blöße zu Tage treten! Auf gewisse Weise können wir nun aber dem Sprachgebrauch entgegen¬ kommen, indem wir nämlich eine engere und weitere Bildung unterscheiden, denn so wollen wir lieber sagen, als niedere und höhere, wie der Sprach¬ gebrauch unterscheidet. Die Weite der Bildung ist abhängig von dem Umkreis der Wirklichkeit, mit dem der Geist in Berührung tritt. Und in dieser Hin¬ sicht findet nun allerdings ein großer Unterschied statt zwischen einem Bauer, der nie die Heimat verlassen, und einem Manu, der „vieler Menschen Städte gesehen und ihren Sinn erkannt hat," zwischen einem Tagelöhner, der bloß in der Dorfschule deu Katechismus gelernt, und einem Manne, der sich auf gelehrten Schulen und Universitäten sprachlichen und geschichtlichen, natur¬ wissenschaftlichen und philosophische» Studien gewidmet hat; das Material, das diesem zur Bildung seines innern Menschen, zum Aufbau einer Welt- und Lebensanschauung zur Verfügung steht, ist unendlich viel reicher. Hier¬ auf allein blickend, nennt der Sprachgebrauch den und nur den einen Gebil¬ deten, der durch Schulunterricht, Reisen und Verkehr in der Gesellschaft zu vielfältiger Berührung mit der Welt und den Menschen geführt worden ist, ziemlich unbekümmert darum, ob dabei sein innerer Mensch Gestalt gewonnen hat oder nicht. Dem gegenüber werden wir sagen: Bildung setzt vor allem und zuerst voraus eine von innen heraus gewachsene eigentümliche Gestalt; zur Bildung im engern Sinne, wie ihn der Sprachgebrauch abgegrenzt hat, gehört dann noch eine gewisse Weite der Beziehungen zur Wirklichkeit, be¬ sonders eine umfassende Berührung mit der geistig-geschichtlichen Welt. Die Bildung eines Mannes ist um so umfassender und gründlicher, je reicher seine Erkenntnis und je tiefer sein Verständnis menschlicher Dinge ist. Der Geist des Einzelnen entfaltet sich nur in der Berührung mit dem allgemeinen Geist, wie er sich im geschichtlichen Leben der Menschheit entwickelt. Von hier aus ist uns nun auch einleuchtend, warum der Sprachgebrauch Bildung in so enge Beziehung zu Litteratur und Kunst, Philosophie und Poesie setzt, mehr als zu Naturwissenschaft und Technik, Politik und Wirt¬ schaftsleben; in jenen erscheint das geistige Leben eines Volks am freiesten und eigentümlichsten. Nicht minder ist von hier aus verständlich, warum Sprachkenntnisse gern als Gradmesser der Bildung verwendet werden: durch den Besitz der Sprache tritt man in unmittelbare Berührung mit dem geistigen Leben des Volkes, das sie spricht, und darum heißt eine fremde Sprache lernen sich den Zugang zu einer neuen Provinz des Reichs der Humanität öffnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/432>, abgerufen am 04.07.2024.