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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Laudarbeiterfrage

ungerechtfertigten Grade; sie bringen ihm beabsichtigter- oder unbeabsichtigtcr-
weise die Meinung bei, als ob der Staat, der ihnen ein ebenso großes Wahl¬
recht wie den Arbeitgebern beigelegt habe, ihnen nun auch einen ebenso großen
Anteil um dem materiellen Besitz, vor allem dein Grundbesitz, geben könne und
müsse, als ihn ihre Brodherrn haben." Nun, so dumm sind wohl wenige Tage¬
löhner, daß sie von einem Zustande träumten, wo jeder von ihnen ein Schloß
haben und mit Vieren fahren werde. Aber auch ohne sozialdemokratische Ein¬
flüsse kommt den untern Klassen ans dem Lande wie in der Stadt allmählich
das zum Bewußtsein, was das gleiche Wahlrecht thatsächlich enthält, nämlich
das Recht und die Pflicht, nach einer Lage zu streben, wo der Name eines
Reichsbürgers kein Hohn und keine Lächerlichkeit mehr ist. "Das vielgeschmähte
preußische indirekte Wahlrecht -- sagt v. d. Goltz weiterhin -- hat den ge¬
rade für die ländlichen Verhältnisse des Ostens unschätzbaren Borzug, daß der
einzelne Wähler seine Stimme nur Personen geben kann, die er genau kennt.
Vielleicht mag es zweckmäßig sein, zur Sicherung einer größern Unabhängig¬
keit der Wähler geheime Stimmabgabe oder sonstige Kautelen einzuführen u. s. w."
Ehe der preußische Landtag, in dem der Großgrundbesitz überwiegt, dazu die
Hand bietet, die ländlichen Wähler und namentlich die Arbeiter vom Ritter¬
gutsbesitzer unabhängig zu machen und den Gutsbesitzerstand um sein Über¬
gewicht zu bringen, muß er erst etwas ganz andres werden, als er heute ist.
Vorläufig bleibt die Sache so, wie sie seit Einführung der Verfassung gewesen
ist: die Gutsarbeiter haben auf Kommando zu wählen. Das ist nun eine un¬
würdige Komödie; warum nicht so ehrlich sein, die kleinen Leute von der Last
ihrer Staatsbürgerschaft zu befreie" und von dem abscheulichen Zwange, daß
sie einen Mann wählen müssen, von dein sie wissen, daß er Gesetze machen
wird, die ihnen nicht gefallen? Warum machen die Herren die Gesetze nicht in
ihrem eignen Namen, anstatt sich den Schein zu geben, als ob sie sie im Namen
der angeblich von ihnen vertretnen machten? Das Reichstagswahlrecht -- meint
v. d. Goltz (S. 278) ganz richtig -- habe für die Arbeiter keinen großen Wert
(es hat in der That nur Wert für die Regierungen, als Gradmesser für die
steigende Unzufriedenheit, als Sicherheitsventil und als das Mittel, die Ver¬
antwortung für die Gesetze, die sie erlassen, auf einen scheinbaren Volkswillen
abzuwälzen); "für deu Arbeiter haben wesentliches Interesse nnr die ihn zu¬
nächst persönlich berührenden Dinge." Dasselbe gilt aber auch vom Landtags¬
wahlrecht. Die von Herrn v. d. Goltz hochgepriesene Landgemeindeordnung z. B.
berührt freilich das Interesse des kleinen Mannes, und zwar in wohlthätiger
Weise, aber sie ist gegen den Willen der Großgrundbesitzer zu stände gekommen;
der kleine Mann wäre also dieser ihm angenehmen Neuerung weit sicherer ge¬
wesen, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, zu wählen und so die Gegner
der Vorlage im Abgeordnetenhaus? zu vermehren. Der Grundfehler liegt frei¬
lich darin, daß der ganze Konstitutionalismus eine unglückselige Mißgeburt ist.


Die Laudarbeiterfrage

ungerechtfertigten Grade; sie bringen ihm beabsichtigter- oder unbeabsichtigtcr-
weise die Meinung bei, als ob der Staat, der ihnen ein ebenso großes Wahl¬
recht wie den Arbeitgebern beigelegt habe, ihnen nun auch einen ebenso großen
Anteil um dem materiellen Besitz, vor allem dein Grundbesitz, geben könne und
müsse, als ihn ihre Brodherrn haben." Nun, so dumm sind wohl wenige Tage¬
löhner, daß sie von einem Zustande träumten, wo jeder von ihnen ein Schloß
haben und mit Vieren fahren werde. Aber auch ohne sozialdemokratische Ein¬
flüsse kommt den untern Klassen ans dem Lande wie in der Stadt allmählich
das zum Bewußtsein, was das gleiche Wahlrecht thatsächlich enthält, nämlich
das Recht und die Pflicht, nach einer Lage zu streben, wo der Name eines
Reichsbürgers kein Hohn und keine Lächerlichkeit mehr ist. „Das vielgeschmähte
preußische indirekte Wahlrecht — sagt v. d. Goltz weiterhin — hat den ge¬
rade für die ländlichen Verhältnisse des Ostens unschätzbaren Borzug, daß der
einzelne Wähler seine Stimme nur Personen geben kann, die er genau kennt.
Vielleicht mag es zweckmäßig sein, zur Sicherung einer größern Unabhängig¬
keit der Wähler geheime Stimmabgabe oder sonstige Kautelen einzuführen u. s. w."
Ehe der preußische Landtag, in dem der Großgrundbesitz überwiegt, dazu die
Hand bietet, die ländlichen Wähler und namentlich die Arbeiter vom Ritter¬
gutsbesitzer unabhängig zu machen und den Gutsbesitzerstand um sein Über¬
gewicht zu bringen, muß er erst etwas ganz andres werden, als er heute ist.
Vorläufig bleibt die Sache so, wie sie seit Einführung der Verfassung gewesen
ist: die Gutsarbeiter haben auf Kommando zu wählen. Das ist nun eine un¬
würdige Komödie; warum nicht so ehrlich sein, die kleinen Leute von der Last
ihrer Staatsbürgerschaft zu befreie» und von dem abscheulichen Zwange, daß
sie einen Mann wählen müssen, von dein sie wissen, daß er Gesetze machen
wird, die ihnen nicht gefallen? Warum machen die Herren die Gesetze nicht in
ihrem eignen Namen, anstatt sich den Schein zu geben, als ob sie sie im Namen
der angeblich von ihnen vertretnen machten? Das Reichstagswahlrecht — meint
v. d. Goltz (S. 278) ganz richtig — habe für die Arbeiter keinen großen Wert
(es hat in der That nur Wert für die Regierungen, als Gradmesser für die
steigende Unzufriedenheit, als Sicherheitsventil und als das Mittel, die Ver¬
antwortung für die Gesetze, die sie erlassen, auf einen scheinbaren Volkswillen
abzuwälzen); „für deu Arbeiter haben wesentliches Interesse nnr die ihn zu¬
nächst persönlich berührenden Dinge." Dasselbe gilt aber auch vom Landtags¬
wahlrecht. Die von Herrn v. d. Goltz hochgepriesene Landgemeindeordnung z. B.
berührt freilich das Interesse des kleinen Mannes, und zwar in wohlthätiger
Weise, aber sie ist gegen den Willen der Großgrundbesitzer zu stände gekommen;
der kleine Mann wäre also dieser ihm angenehmen Neuerung weit sicherer ge¬
wesen, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, zu wählen und so die Gegner
der Vorlage im Abgeordnetenhaus? zu vermehren. Der Grundfehler liegt frei¬
lich darin, daß der ganze Konstitutionalismus eine unglückselige Mißgeburt ist.


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[0418] Die Laudarbeiterfrage ungerechtfertigten Grade; sie bringen ihm beabsichtigter- oder unbeabsichtigtcr- weise die Meinung bei, als ob der Staat, der ihnen ein ebenso großes Wahl¬ recht wie den Arbeitgebern beigelegt habe, ihnen nun auch einen ebenso großen Anteil um dem materiellen Besitz, vor allem dein Grundbesitz, geben könne und müsse, als ihn ihre Brodherrn haben." Nun, so dumm sind wohl wenige Tage¬ löhner, daß sie von einem Zustande träumten, wo jeder von ihnen ein Schloß haben und mit Vieren fahren werde. Aber auch ohne sozialdemokratische Ein¬ flüsse kommt den untern Klassen ans dem Lande wie in der Stadt allmählich das zum Bewußtsein, was das gleiche Wahlrecht thatsächlich enthält, nämlich das Recht und die Pflicht, nach einer Lage zu streben, wo der Name eines Reichsbürgers kein Hohn und keine Lächerlichkeit mehr ist. „Das vielgeschmähte preußische indirekte Wahlrecht — sagt v. d. Goltz weiterhin — hat den ge¬ rade für die ländlichen Verhältnisse des Ostens unschätzbaren Borzug, daß der einzelne Wähler seine Stimme nur Personen geben kann, die er genau kennt. Vielleicht mag es zweckmäßig sein, zur Sicherung einer größern Unabhängig¬ keit der Wähler geheime Stimmabgabe oder sonstige Kautelen einzuführen u. s. w." Ehe der preußische Landtag, in dem der Großgrundbesitz überwiegt, dazu die Hand bietet, die ländlichen Wähler und namentlich die Arbeiter vom Ritter¬ gutsbesitzer unabhängig zu machen und den Gutsbesitzerstand um sein Über¬ gewicht zu bringen, muß er erst etwas ganz andres werden, als er heute ist. Vorläufig bleibt die Sache so, wie sie seit Einführung der Verfassung gewesen ist: die Gutsarbeiter haben auf Kommando zu wählen. Das ist nun eine un¬ würdige Komödie; warum nicht so ehrlich sein, die kleinen Leute von der Last ihrer Staatsbürgerschaft zu befreie» und von dem abscheulichen Zwange, daß sie einen Mann wählen müssen, von dein sie wissen, daß er Gesetze machen wird, die ihnen nicht gefallen? Warum machen die Herren die Gesetze nicht in ihrem eignen Namen, anstatt sich den Schein zu geben, als ob sie sie im Namen der angeblich von ihnen vertretnen machten? Das Reichstagswahlrecht — meint v. d. Goltz (S. 278) ganz richtig — habe für die Arbeiter keinen großen Wert (es hat in der That nur Wert für die Regierungen, als Gradmesser für die steigende Unzufriedenheit, als Sicherheitsventil und als das Mittel, die Ver¬ antwortung für die Gesetze, die sie erlassen, auf einen scheinbaren Volkswillen abzuwälzen); „für deu Arbeiter haben wesentliches Interesse nnr die ihn zu¬ nächst persönlich berührenden Dinge." Dasselbe gilt aber auch vom Landtags¬ wahlrecht. Die von Herrn v. d. Goltz hochgepriesene Landgemeindeordnung z. B. berührt freilich das Interesse des kleinen Mannes, und zwar in wohlthätiger Weise, aber sie ist gegen den Willen der Großgrundbesitzer zu stände gekommen; der kleine Mann wäre also dieser ihm angenehmen Neuerung weit sicherer ge¬ wesen, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, zu wählen und so die Gegner der Vorlage im Abgeordnetenhaus? zu vermehren. Der Grundfehler liegt frei¬ lich darin, daß der ganze Konstitutionalismus eine unglückselige Mißgeburt ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/418>, abgerufen am 22.07.2024.