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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Landarbeiterfrage

lischen Sklaventhevrie. Daß diese Wesen dem Schulzwnng unterwürfen werden,
ist das widernatürlichste und unzweckmäßigste, was sich denken läßt. Denn
die Schule weckt geistige, gemütliche, ästhetische und sittliche Bedürfnisse in
ihnen, lehrt sogar verfeinerte leibliche Bedürfnisse kennen. Dadurch wird der
Mann nicht bloß unzufrieden mit seiner Lage, sondern geradezu unglücklich
und entweder zur Verzweiflung oder zum Fortlaufen getrieben.'') Der wackre
Wittenberg freilich protestirt mit Entrüstung gegen die Zumutung, daß man
die Arbeiter auf einer niedrigen Bildungsstufe zurückhalten solle. "Je intelli¬
genter der Arbeiterstand ist, um so besser wird er gut und schlecht unter¬
scheiden, um so besser wird er allerdings auch wissen, was er verlangen kann,
und da liegt der Hund begrabe", das paßt manchen Leuten nicht in ihren
Kram." (S. 49 bis 50.) Die Arbeiter, mit deuen es Wittenberg zu thun hat,
gehören nach Einkommen und Lebensführung zur Aristokratie des Landarbeiter-
staudes. Aber sie haben keinen Sonntag, ihre Kinder sind überangestrengt,
und nur etwa der fünfte Teil ist in der Lage, einen Sparpfennig zurückzu¬
legen, während nach des Verfassers Ansicht von Rechts Wege" alle in solcher
Lage sein müßten. Er sieht allerdings nicht, wie sie dahin gebracht werden
könnten, da der Gutsbesitzer auf Rügen und in Neuvorpommern wirklich nicht
mehr zahlen könne. Die Arbeitslöhne verzehrten hier ungefähr ^0 Prozent
der Bruttoeinnahme; die Lage der Besitzer sei also nicht so gut wie in andern
Gegenden Pommerns, wo Pastor Quistorp welche kennt, die nur 15 Prozent
ihrer Bruttoeinnahme auf Arbeitslöhne zu verwenden brauchen. Damit mag
es nun stehen, wie es will, jedenfalls geht ans Wittenbergs Angaben hervor,
daß die Gutsherren einen Lohn, der die Arbeiter über die vmrclitio "örvili^
hinanshöbe, entweder nicht zahlen können oder nicht zahlen wollen, oder teils
nicht können, teils nicht wollen, daß also diese Lage des Nrbeiterstcmdes Da-
seinsbediugung für die dortigen großen Güter ist.

Zur Louäitio "örvilis gehöre" auch die Prügel. Die Berichte des Ver¬
eins für Sozialpolitik gebe" darüber keine Auskunft. Im polnischen Teile
Oberschlesiens, wird uns von einem genauen Kenner versichert, schwingt der
Inspektor täglich den Stock oder die Peitsche. Der geprügelte Arbeiter be¬
dankt sich regelmäßig für die empfangne Züchtigung durch Handkuß. Wie es
anderwärts steht, wissen wir nicht. Wie der Sozialdemokrat Mehring Mene
Zeit, Ur. 5) in der Gegend von Stolp erfahren haben will, wäre dort vor




'1 Wenn eine herrschende Klasse Sklave" braucht und diesen Bildung aufzwingt, so be¬
geht sie einen Selbstmord oder ein Verbrechen. Selbstmord in dem Falle, daß die Sklaven
in der Lage sind, das Joch abschütteln zu können; Verbrechen im andern Falle; denn es ist
dann so viel, wie wenn ein böser Zauberer das Eisen, das er glüht und schmiedet, beseelen
"der einem Lasttier Menschenverstand und menschliche Empfindung einflößen wollte.
Die Auslintzung der.Kinder für den Erwerb bleibt nur einmal das Schand- "ich
Brandmal des neunzehnten Jahrhunderts.
Die Landarbeiterfrage

lischen Sklaventhevrie. Daß diese Wesen dem Schulzwnng unterwürfen werden,
ist das widernatürlichste und unzweckmäßigste, was sich denken läßt. Denn
die Schule weckt geistige, gemütliche, ästhetische und sittliche Bedürfnisse in
ihnen, lehrt sogar verfeinerte leibliche Bedürfnisse kennen. Dadurch wird der
Mann nicht bloß unzufrieden mit seiner Lage, sondern geradezu unglücklich
und entweder zur Verzweiflung oder zum Fortlaufen getrieben.'') Der wackre
Wittenberg freilich protestirt mit Entrüstung gegen die Zumutung, daß man
die Arbeiter auf einer niedrigen Bildungsstufe zurückhalten solle. „Je intelli¬
genter der Arbeiterstand ist, um so besser wird er gut und schlecht unter¬
scheiden, um so besser wird er allerdings auch wissen, was er verlangen kann,
und da liegt der Hund begrabe», das paßt manchen Leuten nicht in ihren
Kram." (S. 49 bis 50.) Die Arbeiter, mit deuen es Wittenberg zu thun hat,
gehören nach Einkommen und Lebensführung zur Aristokratie des Landarbeiter-
staudes. Aber sie haben keinen Sonntag, ihre Kinder sind überangestrengt,
und nur etwa der fünfte Teil ist in der Lage, einen Sparpfennig zurückzu¬
legen, während nach des Verfassers Ansicht von Rechts Wege» alle in solcher
Lage sein müßten. Er sieht allerdings nicht, wie sie dahin gebracht werden
könnten, da der Gutsbesitzer auf Rügen und in Neuvorpommern wirklich nicht
mehr zahlen könne. Die Arbeitslöhne verzehrten hier ungefähr ^0 Prozent
der Bruttoeinnahme; die Lage der Besitzer sei also nicht so gut wie in andern
Gegenden Pommerns, wo Pastor Quistorp welche kennt, die nur 15 Prozent
ihrer Bruttoeinnahme auf Arbeitslöhne zu verwenden brauchen. Damit mag
es nun stehen, wie es will, jedenfalls geht ans Wittenbergs Angaben hervor,
daß die Gutsherren einen Lohn, der die Arbeiter über die vmrclitio «örvili^
hinanshöbe, entweder nicht zahlen können oder nicht zahlen wollen, oder teils
nicht können, teils nicht wollen, daß also diese Lage des Nrbeiterstcmdes Da-
seinsbediugung für die dortigen großen Güter ist.

Zur Louäitio «örvilis gehöre» auch die Prügel. Die Berichte des Ver¬
eins für Sozialpolitik gebe» darüber keine Auskunft. Im polnischen Teile
Oberschlesiens, wird uns von einem genauen Kenner versichert, schwingt der
Inspektor täglich den Stock oder die Peitsche. Der geprügelte Arbeiter be¬
dankt sich regelmäßig für die empfangne Züchtigung durch Handkuß. Wie es
anderwärts steht, wissen wir nicht. Wie der Sozialdemokrat Mehring Mene
Zeit, Ur. 5) in der Gegend von Stolp erfahren haben will, wäre dort vor




'1 Wenn eine herrschende Klasse Sklave» braucht und diesen Bildung aufzwingt, so be¬
geht sie einen Selbstmord oder ein Verbrechen. Selbstmord in dem Falle, daß die Sklaven
in der Lage sind, das Joch abschütteln zu können; Verbrechen im andern Falle; denn es ist
dann so viel, wie wenn ein böser Zauberer das Eisen, das er glüht und schmiedet, beseelen
»der einem Lasttier Menschenverstand und menschliche Empfindung einflößen wollte.
Die Auslintzung der.Kinder für den Erwerb bleibt nur einmal das Schand- »ich
Brandmal des neunzehnten Jahrhunderts.
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[0415] Die Landarbeiterfrage lischen Sklaventhevrie. Daß diese Wesen dem Schulzwnng unterwürfen werden, ist das widernatürlichste und unzweckmäßigste, was sich denken läßt. Denn die Schule weckt geistige, gemütliche, ästhetische und sittliche Bedürfnisse in ihnen, lehrt sogar verfeinerte leibliche Bedürfnisse kennen. Dadurch wird der Mann nicht bloß unzufrieden mit seiner Lage, sondern geradezu unglücklich und entweder zur Verzweiflung oder zum Fortlaufen getrieben.'') Der wackre Wittenberg freilich protestirt mit Entrüstung gegen die Zumutung, daß man die Arbeiter auf einer niedrigen Bildungsstufe zurückhalten solle. „Je intelli¬ genter der Arbeiterstand ist, um so besser wird er gut und schlecht unter¬ scheiden, um so besser wird er allerdings auch wissen, was er verlangen kann, und da liegt der Hund begrabe», das paßt manchen Leuten nicht in ihren Kram." (S. 49 bis 50.) Die Arbeiter, mit deuen es Wittenberg zu thun hat, gehören nach Einkommen und Lebensführung zur Aristokratie des Landarbeiter- staudes. Aber sie haben keinen Sonntag, ihre Kinder sind überangestrengt, und nur etwa der fünfte Teil ist in der Lage, einen Sparpfennig zurückzu¬ legen, während nach des Verfassers Ansicht von Rechts Wege» alle in solcher Lage sein müßten. Er sieht allerdings nicht, wie sie dahin gebracht werden könnten, da der Gutsbesitzer auf Rügen und in Neuvorpommern wirklich nicht mehr zahlen könne. Die Arbeitslöhne verzehrten hier ungefähr ^0 Prozent der Bruttoeinnahme; die Lage der Besitzer sei also nicht so gut wie in andern Gegenden Pommerns, wo Pastor Quistorp welche kennt, die nur 15 Prozent ihrer Bruttoeinnahme auf Arbeitslöhne zu verwenden brauchen. Damit mag es nun stehen, wie es will, jedenfalls geht ans Wittenbergs Angaben hervor, daß die Gutsherren einen Lohn, der die Arbeiter über die vmrclitio «örvili^ hinanshöbe, entweder nicht zahlen können oder nicht zahlen wollen, oder teils nicht können, teils nicht wollen, daß also diese Lage des Nrbeiterstcmdes Da- seinsbediugung für die dortigen großen Güter ist. Zur Louäitio «örvilis gehöre» auch die Prügel. Die Berichte des Ver¬ eins für Sozialpolitik gebe» darüber keine Auskunft. Im polnischen Teile Oberschlesiens, wird uns von einem genauen Kenner versichert, schwingt der Inspektor täglich den Stock oder die Peitsche. Der geprügelte Arbeiter be¬ dankt sich regelmäßig für die empfangne Züchtigung durch Handkuß. Wie es anderwärts steht, wissen wir nicht. Wie der Sozialdemokrat Mehring Mene Zeit, Ur. 5) in der Gegend von Stolp erfahren haben will, wäre dort vor '1 Wenn eine herrschende Klasse Sklave» braucht und diesen Bildung aufzwingt, so be¬ geht sie einen Selbstmord oder ein Verbrechen. Selbstmord in dem Falle, daß die Sklaven in der Lage sind, das Joch abschütteln zu können; Verbrechen im andern Falle; denn es ist dann so viel, wie wenn ein böser Zauberer das Eisen, das er glüht und schmiedet, beseelen »der einem Lasttier Menschenverstand und menschliche Empfindung einflößen wollte. Die Auslintzung der.Kinder für den Erwerb bleibt nur einmal das Schand- »ich Brandmal des neunzehnten Jahrhunderts.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/415>, abgerufen am 22.07.2024.