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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Unser Zeitungselend

Uns sind in den letzten Tagen Berichte von der Ausstellung in Chicago durch
die Hand gegangen, die eine Unzahl mittlerer und kleinerer Zeitungen ab¬
drucken; nicht einen Satz hätte man ungeändert stehen lassen können, wenn
man ein halbwegs richtiges Deutsch daraus hätte machen wollen! Hat aber
der Redakteur keine Zeit zum Umarbeiten, so hat er natürlich noch weniger
zu eigner Arbeit. Zu neu auftauchenden Fragen Stellung zu nehmen, darauf
muß er also völlig verzichten. Er wartet, bis von Berlin die Parole aus¬
gegeben ist, oder bis irgend ein großes Blatt seine Meinung gesagt hat. Daß
die entlehnte oder zusammengekleisterte Weisheit dann zäh und trocken ausfällt
wie Leder, ist kein Wunder.

Nun giebt es ja wirklich noch Leute, die Journalisten werden, nicht weil
sie in drei oder vier andern Berufsarten entgleist sind, sondern weil sie das
Zeug in sich fühlen, den Gedanken und Wünschen, die die Masse des Volks
unklar bewegen, eine klare Form zu geben, und so durch die Feder mitzu¬
arbeiten am sausenden Webstuhl der Zeit. Solch eiuer gewöhnt sich zu Anfang
natürlich schwer an das Einerlei der redaktionellen Tretmühle und läßt sich
durch keinerlei Hemmnisse abhalten, auch einmal einen frischen Ton hineinzu¬
werfen in das eintönige Gedudel der gesinnungstüchtigen Parteimusik. Das
bekommt ihm aber meistens sehr schlecht, und das hat seinen Grund in der
Unduldsamkeit des deutschen Lesepublikums. Der Franzose verlangt von seiner
Zeitung vor allein Witz, einen witzigen Artikel liest er mit Behagen, und wäre
er von seinem politischen Todfeinde geschrieben; der Deutsche verlangt von
einer politischen Zeitung vor allem "Charakter," durch lange Überlieferung be¬
währten Charakter. Der Franzose verlangt von seinem Blatte täglich irgend
eine geistige Anregung; der Deutsche verlangt täglich die Versicherung, daß
noch auf dem alten, kreuzlahmen Gaule weitergeritten wird. Man mag einen
ungewohnten Gedanken noch so gut gemeint, noch so gefällig eingekleidet, noch
so schlagend begründet haben, man kann sicher sein, einige Biedermänner vor
den Kopf zu stoßen, die sich darüber ärgern, daß der Parteikarren aus dem
ausgefahruen Geleise herausholt. Die schreiben dann dem Verleger einen groben
Brief, es sei ihnen schlechthin unbegreiflich, wie eine so altbewährte Zeitung
einen solchen Artikel bringen könne; sollte sich der Fall wiederholen, so würden
sie sich zu ihrem Bedauern genötigt sehen, die Zeitung, der sie fünfundzwanzig
Jahre hindurch treu geblieben seien, abzubestellen. Und wenn sich der Ver¬
leger sonst monatelang nicht um sein Geschäft bekümmert, mit einem solchen
Brief rennt er spornstreichs auf die Redaktion, macht einen Heidenlärm und
wirft dem Redakteur vor, er wolle sein Blatt zu Grunde richten. (Es ist
nämlich eine Gewohnheit der deutschen Zeituugsverleger, ihren Redakteuren
jeden Leser vorzuhalten, der dem Blatte abspenstig wird; von denen, die etwa
neu hinzutreten, Pflegen sie dagegen rücksichtsvoll zu schweigen.) Der Redak¬
teur, der sein Bestes gegeben hatte und vielleicht gerade an seinem guten Einfall


Unser Zeitungselend

Uns sind in den letzten Tagen Berichte von der Ausstellung in Chicago durch
die Hand gegangen, die eine Unzahl mittlerer und kleinerer Zeitungen ab¬
drucken; nicht einen Satz hätte man ungeändert stehen lassen können, wenn
man ein halbwegs richtiges Deutsch daraus hätte machen wollen! Hat aber
der Redakteur keine Zeit zum Umarbeiten, so hat er natürlich noch weniger
zu eigner Arbeit. Zu neu auftauchenden Fragen Stellung zu nehmen, darauf
muß er also völlig verzichten. Er wartet, bis von Berlin die Parole aus¬
gegeben ist, oder bis irgend ein großes Blatt seine Meinung gesagt hat. Daß
die entlehnte oder zusammengekleisterte Weisheit dann zäh und trocken ausfällt
wie Leder, ist kein Wunder.

Nun giebt es ja wirklich noch Leute, die Journalisten werden, nicht weil
sie in drei oder vier andern Berufsarten entgleist sind, sondern weil sie das
Zeug in sich fühlen, den Gedanken und Wünschen, die die Masse des Volks
unklar bewegen, eine klare Form zu geben, und so durch die Feder mitzu¬
arbeiten am sausenden Webstuhl der Zeit. Solch eiuer gewöhnt sich zu Anfang
natürlich schwer an das Einerlei der redaktionellen Tretmühle und läßt sich
durch keinerlei Hemmnisse abhalten, auch einmal einen frischen Ton hineinzu¬
werfen in das eintönige Gedudel der gesinnungstüchtigen Parteimusik. Das
bekommt ihm aber meistens sehr schlecht, und das hat seinen Grund in der
Unduldsamkeit des deutschen Lesepublikums. Der Franzose verlangt von seiner
Zeitung vor allein Witz, einen witzigen Artikel liest er mit Behagen, und wäre
er von seinem politischen Todfeinde geschrieben; der Deutsche verlangt von
einer politischen Zeitung vor allem „Charakter," durch lange Überlieferung be¬
währten Charakter. Der Franzose verlangt von seinem Blatte täglich irgend
eine geistige Anregung; der Deutsche verlangt täglich die Versicherung, daß
noch auf dem alten, kreuzlahmen Gaule weitergeritten wird. Man mag einen
ungewohnten Gedanken noch so gut gemeint, noch so gefällig eingekleidet, noch
so schlagend begründet haben, man kann sicher sein, einige Biedermänner vor
den Kopf zu stoßen, die sich darüber ärgern, daß der Parteikarren aus dem
ausgefahruen Geleise herausholt. Die schreiben dann dem Verleger einen groben
Brief, es sei ihnen schlechthin unbegreiflich, wie eine so altbewährte Zeitung
einen solchen Artikel bringen könne; sollte sich der Fall wiederholen, so würden
sie sich zu ihrem Bedauern genötigt sehen, die Zeitung, der sie fünfundzwanzig
Jahre hindurch treu geblieben seien, abzubestellen. Und wenn sich der Ver¬
leger sonst monatelang nicht um sein Geschäft bekümmert, mit einem solchen
Brief rennt er spornstreichs auf die Redaktion, macht einen Heidenlärm und
wirft dem Redakteur vor, er wolle sein Blatt zu Grunde richten. (Es ist
nämlich eine Gewohnheit der deutschen Zeituugsverleger, ihren Redakteuren
jeden Leser vorzuhalten, der dem Blatte abspenstig wird; von denen, die etwa
neu hinzutreten, Pflegen sie dagegen rücksichtsvoll zu schweigen.) Der Redak¬
teur, der sein Bestes gegeben hatte und vielleicht gerade an seinem guten Einfall


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/310>, abgerufen am 22.07.2024.