Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vais Königreich Ivestfale"

A. Kleinschmidt hat für die Heeren-Ukertsche Sammlung (Gotha, Perthes)
eine Geschichte des Königreichs Westfalen geschrieben. Auf Grund
eingehender archivalischer Studien giebt er im wesentlichen ein Bild der po¬
litischen Schicksale Westfalens, während die innern Zustande nur gestreift werden.
Darum müssen wir einem jungen Gelehrten, Friedrich Thinae, Dank zollen,
daß er auch Die innern Zustände des Kurfürstentums Hannover
unter der französisch-westfälischen Herrschaft (Hannover, Hahnschc
Buchhandlung) in einem zweibändigen Werke ausführlich behandelt hat. Wenn
man auch den Eindruck gewinnt, als ob er seines reichen Stoffes nicht immer
Herr geworden wäre, so kann man doch seiner aktenmäßigen Darstellung un¬
gemein viel Lehrreiches entnehmen. Beide Werke zusammen gestatten einen
genauen Einblick in das Innere des westfälischen Staatswesens.

Als Napoleon die genannten deutschen Gebiete zum Königreich Westfalen
vereinigte, versäumte er nicht, den Unterthanen nach seiner Art goldne Berge
zu versprechen. Durch die Lobpreisung der in Aussicht gestellten Konstitution,
die anstatt der frühern Fürsten- und Adelswillkür walten sollte, suchte er sie
zu ködern. "Die Völker Deutschlands -- schrieb er an Jerome -- wünschen
mit Ungeduld, daß die uichtadlichen, aber talentvollen Leute ein gleiches Recht
aus Ihre Achtung und auf Ämter erhalten, daß jede Art Unterthänigkeit und
Mittelstellung zwischen dem Souverän und der untersten Volk'sklasfe gänzlich
abgeschafft werde." Zu einem segensreichen Wirken war die Konstitution schon
deshalb nicht geeignet, weil sie auf die Eigentümlichkeiten der Länder keine Rück¬
sicht nahm, sondern einfach nach französischem Rezept ausgearbeitet war. Freilich
hätte sie trotzdem mehr Nutzen stiften können, wenn sie von geschickter" Händen
gehandhabt worden wäre.

Die wichtigste Bestimmung der neuen Verfassung war die Erklärung der
völligen Gleichberechtigung aller Unterthauen, die Aufhebung der noch etwa
vorhandnen Leibeigenschaft und die Abschaffung der ehemaligen Stände. Nament¬
lich im Kurfürstentum Hannover hatten sich unter der Regierung Georgs II.
allerhand Mißstände gebildet, deren Beseitigung deshalb sehr schwer war, weil
der König allen Reformen abgeneigt war. Während die Lage des Bürger¬
und Bauernstandes höchst unbefriedigend war und sich unter den schweren Er¬
pressungen der französischen Okkupation immer ungünstiger gestaltet hatte, war
die Aristokratie und der höhere Beamtenstand fortgesetzt darauf bedacht, für
sich allem zu sorgen. Die gutbesoldeten Stellen waren stets in der Hand
der bevorrechtigten Familien, sodaß es für einen Neuling, anch wenn er her¬
vorragendes leistete, ganz unmöglich war, dazu zu gelangen. Noch schwieriger
war es natürlich für den Fremden, zu den bessern Kreisen Beziehung zu ge¬
winnen, nur der Engländer wurde mit freundlichen Angen angesehen, und aus
der Vorliebe für diese Nation entsprang eine geradezu lächerliche Anglomanie,
die besonders in Adelskreisen gepflegt wurde, ohne daß man damit zugleich die


vais Königreich Ivestfale»

A. Kleinschmidt hat für die Heeren-Ukertsche Sammlung (Gotha, Perthes)
eine Geschichte des Königreichs Westfalen geschrieben. Auf Grund
eingehender archivalischer Studien giebt er im wesentlichen ein Bild der po¬
litischen Schicksale Westfalens, während die innern Zustande nur gestreift werden.
Darum müssen wir einem jungen Gelehrten, Friedrich Thinae, Dank zollen,
daß er auch Die innern Zustände des Kurfürstentums Hannover
unter der französisch-westfälischen Herrschaft (Hannover, Hahnschc
Buchhandlung) in einem zweibändigen Werke ausführlich behandelt hat. Wenn
man auch den Eindruck gewinnt, als ob er seines reichen Stoffes nicht immer
Herr geworden wäre, so kann man doch seiner aktenmäßigen Darstellung un¬
gemein viel Lehrreiches entnehmen. Beide Werke zusammen gestatten einen
genauen Einblick in das Innere des westfälischen Staatswesens.

Als Napoleon die genannten deutschen Gebiete zum Königreich Westfalen
vereinigte, versäumte er nicht, den Unterthanen nach seiner Art goldne Berge
zu versprechen. Durch die Lobpreisung der in Aussicht gestellten Konstitution,
die anstatt der frühern Fürsten- und Adelswillkür walten sollte, suchte er sie
zu ködern. „Die Völker Deutschlands — schrieb er an Jerome — wünschen
mit Ungeduld, daß die uichtadlichen, aber talentvollen Leute ein gleiches Recht
aus Ihre Achtung und auf Ämter erhalten, daß jede Art Unterthänigkeit und
Mittelstellung zwischen dem Souverän und der untersten Volk'sklasfe gänzlich
abgeschafft werde." Zu einem segensreichen Wirken war die Konstitution schon
deshalb nicht geeignet, weil sie auf die Eigentümlichkeiten der Länder keine Rück¬
sicht nahm, sondern einfach nach französischem Rezept ausgearbeitet war. Freilich
hätte sie trotzdem mehr Nutzen stiften können, wenn sie von geschickter» Händen
gehandhabt worden wäre.

Die wichtigste Bestimmung der neuen Verfassung war die Erklärung der
völligen Gleichberechtigung aller Unterthauen, die Aufhebung der noch etwa
vorhandnen Leibeigenschaft und die Abschaffung der ehemaligen Stände. Nament¬
lich im Kurfürstentum Hannover hatten sich unter der Regierung Georgs II.
allerhand Mißstände gebildet, deren Beseitigung deshalb sehr schwer war, weil
der König allen Reformen abgeneigt war. Während die Lage des Bürger¬
und Bauernstandes höchst unbefriedigend war und sich unter den schweren Er¬
pressungen der französischen Okkupation immer ungünstiger gestaltet hatte, war
die Aristokratie und der höhere Beamtenstand fortgesetzt darauf bedacht, für
sich allem zu sorgen. Die gutbesoldeten Stellen waren stets in der Hand
der bevorrechtigten Familien, sodaß es für einen Neuling, anch wenn er her¬
vorragendes leistete, ganz unmöglich war, dazu zu gelangen. Noch schwieriger
war es natürlich für den Fremden, zu den bessern Kreisen Beziehung zu ge¬
winnen, nur der Engländer wurde mit freundlichen Angen angesehen, und aus
der Vorliebe für diese Nation entsprang eine geradezu lächerliche Anglomanie,
die besonders in Adelskreisen gepflegt wurde, ohne daß man damit zugleich die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215754"/>
          <fw type="header" place="top"> vais Königreich Ivestfale»</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_49" prev="#ID_48"> A. Kleinschmidt hat für die Heeren-Ukertsche Sammlung (Gotha, Perthes)<lb/>
eine Geschichte des Königreichs Westfalen geschrieben. Auf Grund<lb/>
eingehender archivalischer Studien giebt er im wesentlichen ein Bild der po¬<lb/>
litischen Schicksale Westfalens, während die innern Zustande nur gestreift werden.<lb/>
Darum müssen wir einem jungen Gelehrten, Friedrich Thinae, Dank zollen,<lb/>
daß er auch Die innern Zustände des Kurfürstentums Hannover<lb/>
unter der französisch-westfälischen Herrschaft (Hannover, Hahnschc<lb/>
Buchhandlung) in einem zweibändigen Werke ausführlich behandelt hat. Wenn<lb/>
man auch den Eindruck gewinnt, als ob er seines reichen Stoffes nicht immer<lb/>
Herr geworden wäre, so kann man doch seiner aktenmäßigen Darstellung un¬<lb/>
gemein viel Lehrreiches entnehmen. Beide Werke zusammen gestatten einen<lb/>
genauen Einblick in das Innere des westfälischen Staatswesens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_50"> Als Napoleon die genannten deutschen Gebiete zum Königreich Westfalen<lb/>
vereinigte, versäumte er nicht, den Unterthanen nach seiner Art goldne Berge<lb/>
zu versprechen. Durch die Lobpreisung der in Aussicht gestellten Konstitution,<lb/>
die anstatt der frühern Fürsten- und Adelswillkür walten sollte, suchte er sie<lb/>
zu ködern. &#x201E;Die Völker Deutschlands &#x2014; schrieb er an Jerome &#x2014; wünschen<lb/>
mit Ungeduld, daß die uichtadlichen, aber talentvollen Leute ein gleiches Recht<lb/>
aus Ihre Achtung und auf Ämter erhalten, daß jede Art Unterthänigkeit und<lb/>
Mittelstellung zwischen dem Souverän und der untersten Volk'sklasfe gänzlich<lb/>
abgeschafft werde." Zu einem segensreichen Wirken war die Konstitution schon<lb/>
deshalb nicht geeignet, weil sie auf die Eigentümlichkeiten der Länder keine Rück¬<lb/>
sicht nahm, sondern einfach nach französischem Rezept ausgearbeitet war. Freilich<lb/>
hätte sie trotzdem mehr Nutzen stiften können, wenn sie von geschickter» Händen<lb/>
gehandhabt worden wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_51" next="#ID_52"> Die wichtigste Bestimmung der neuen Verfassung war die Erklärung der<lb/>
völligen Gleichberechtigung aller Unterthauen, die Aufhebung der noch etwa<lb/>
vorhandnen Leibeigenschaft und die Abschaffung der ehemaligen Stände. Nament¬<lb/>
lich im Kurfürstentum Hannover hatten sich unter der Regierung Georgs II.<lb/>
allerhand Mißstände gebildet, deren Beseitigung deshalb sehr schwer war, weil<lb/>
der König allen Reformen abgeneigt war. Während die Lage des Bürger¬<lb/>
und Bauernstandes höchst unbefriedigend war und sich unter den schweren Er¬<lb/>
pressungen der französischen Okkupation immer ungünstiger gestaltet hatte, war<lb/>
die Aristokratie und der höhere Beamtenstand fortgesetzt darauf bedacht, für<lb/>
sich allem zu sorgen. Die gutbesoldeten Stellen waren stets in der Hand<lb/>
der bevorrechtigten Familien, sodaß es für einen Neuling, anch wenn er her¬<lb/>
vorragendes leistete, ganz unmöglich war, dazu zu gelangen. Noch schwieriger<lb/>
war es natürlich für den Fremden, zu den bessern Kreisen Beziehung zu ge¬<lb/>
winnen, nur der Engländer wurde mit freundlichen Angen angesehen, und aus<lb/>
der Vorliebe für diese Nation entsprang eine geradezu lächerliche Anglomanie,<lb/>
die besonders in Adelskreisen gepflegt wurde, ohne daß man damit zugleich die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0030] vais Königreich Ivestfale» A. Kleinschmidt hat für die Heeren-Ukertsche Sammlung (Gotha, Perthes) eine Geschichte des Königreichs Westfalen geschrieben. Auf Grund eingehender archivalischer Studien giebt er im wesentlichen ein Bild der po¬ litischen Schicksale Westfalens, während die innern Zustande nur gestreift werden. Darum müssen wir einem jungen Gelehrten, Friedrich Thinae, Dank zollen, daß er auch Die innern Zustände des Kurfürstentums Hannover unter der französisch-westfälischen Herrschaft (Hannover, Hahnschc Buchhandlung) in einem zweibändigen Werke ausführlich behandelt hat. Wenn man auch den Eindruck gewinnt, als ob er seines reichen Stoffes nicht immer Herr geworden wäre, so kann man doch seiner aktenmäßigen Darstellung un¬ gemein viel Lehrreiches entnehmen. Beide Werke zusammen gestatten einen genauen Einblick in das Innere des westfälischen Staatswesens. Als Napoleon die genannten deutschen Gebiete zum Königreich Westfalen vereinigte, versäumte er nicht, den Unterthanen nach seiner Art goldne Berge zu versprechen. Durch die Lobpreisung der in Aussicht gestellten Konstitution, die anstatt der frühern Fürsten- und Adelswillkür walten sollte, suchte er sie zu ködern. „Die Völker Deutschlands — schrieb er an Jerome — wünschen mit Ungeduld, daß die uichtadlichen, aber talentvollen Leute ein gleiches Recht aus Ihre Achtung und auf Ämter erhalten, daß jede Art Unterthänigkeit und Mittelstellung zwischen dem Souverän und der untersten Volk'sklasfe gänzlich abgeschafft werde." Zu einem segensreichen Wirken war die Konstitution schon deshalb nicht geeignet, weil sie auf die Eigentümlichkeiten der Länder keine Rück¬ sicht nahm, sondern einfach nach französischem Rezept ausgearbeitet war. Freilich hätte sie trotzdem mehr Nutzen stiften können, wenn sie von geschickter» Händen gehandhabt worden wäre. Die wichtigste Bestimmung der neuen Verfassung war die Erklärung der völligen Gleichberechtigung aller Unterthauen, die Aufhebung der noch etwa vorhandnen Leibeigenschaft und die Abschaffung der ehemaligen Stände. Nament¬ lich im Kurfürstentum Hannover hatten sich unter der Regierung Georgs II. allerhand Mißstände gebildet, deren Beseitigung deshalb sehr schwer war, weil der König allen Reformen abgeneigt war. Während die Lage des Bürger¬ und Bauernstandes höchst unbefriedigend war und sich unter den schweren Er¬ pressungen der französischen Okkupation immer ungünstiger gestaltet hatte, war die Aristokratie und der höhere Beamtenstand fortgesetzt darauf bedacht, für sich allem zu sorgen. Die gutbesoldeten Stellen waren stets in der Hand der bevorrechtigten Familien, sodaß es für einen Neuling, anch wenn er her¬ vorragendes leistete, ganz unmöglich war, dazu zu gelangen. Noch schwieriger war es natürlich für den Fremden, zu den bessern Kreisen Beziehung zu ge¬ winnen, nur der Engländer wurde mit freundlichen Angen angesehen, und aus der Vorliebe für diese Nation entsprang eine geradezu lächerliche Anglomanie, die besonders in Adelskreisen gepflegt wurde, ohne daß man damit zugleich die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/30
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/30>, abgerufen am 04.07.2024.