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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Reiseeindriicke ans England

in der Viertelstunde, die ich dort wartete, gefunden hatten, war der in der
Nähe stationirte Polieeman. Daß die Staatsgewalt in England heute noch
die Energie hat und den Entschluß zu finden weiß, gegen offne Gewalt
kräftig einzuschreiten, bewiesen gerade während meiner Anwesenheit die blu¬
tigen Ereignisse von Pontefract. Die Arbeiter konnten sich die im ganzen
ihnen zugewendeten Sympathien des großen Publikums nicht gründlicher als
durch offnen Aufruhr und Brandstiftung verscherzen.

Was die Vodenfrage für England zu bedeuten hat, kann man schon auf
einer kurzen Wanderung durch das Land beobachten. Den Versuch, von der
öffentlichen Straße abzubiegen, etwa durch ein Wäldchen, über eiuen Hügel
zuzuschneiden oder einen schönen Blick zu genießen, wehrt überall die geheiligte
Aufschrift: ?rivats. Nur die Wiesen der großen öffentlichen Parks, deren
Gras von deu vornehmen Erscheinungen stattlicher Schöpfe kurz gehalten
wird, sind unbeschränkt zugänglich. Zwar scheinen die meisten Großgrund¬
besitzer ihre Privatparks auch dem großen Publikum zu öffnen -- ich sah das
mit unbeschreiblichem Luxus und auserlesenen Geschmack ausgestattete Eaton
Hall des Herzogs von Westminster bei Ehester. Wie wenig sie aber dazu für
verpflichtet angesehen werden, entnahm ich der Bemerkung eines Reisegefährten,
der den Carl von X deshalb, weil er das Publikum zuließ, als einen g'oval
man rühmte. Ob freilich die englische Landwirtschaft von einer neuen Boden¬
verteilung so beträchtliche Vorteile haben würde, steht dahin. Von der ge¬
samten Bodenfläche des vereinigten Königreichs dienen fast 43 Prozent, vom
eigentlichen England ein noch weit höherer Prozentsatz der Wiesen- und Weide¬
wirtschaft. Die Viehzucht wird für den gegenwärtigen Umfang des Weide¬
landes auch dann die durch die Verhältnisse gegebne, einträglichste Wirtschafts¬
form bleiben, wenn die heutigen Pächter zu freien Eigentümern werden sollten.
Gerade diese Wirtschaftsform ist aber für den Kleinbetrieb wenig geeignet.
Die 19 Prozent oder rund 6 Millionen Hektar Ackerlandes mögen noch Platz
für einige tausend und selbst zehntausend kleinere Bauernhöfe hergeben, weitere
tausende lassen sich vielleicht von den 35 Prozent jetzt wüst liegenden Landes
ab- oder vielmehr zurückgewinnen. Für einen zahlreichen und kräftigen Kleiu-
bauernstand bieten aber die britischen Inseln schwerlich noch Raum. Sie
würden ohnedies den eignen Bedarf an Brotfrucht nicht erzeugen können, und
wenn sie bis zum Gipfel des Ben Nevis unter den Pflug genommen würden.
Um zu einem sich selbst genügenden Ackerbau- und Industriestaat zurückkehren
zu können, müßte England zuvor neunundneunzig Hundertel seiner heutigen
Industrie zerstört und seine Einwohnerzahl auf ein Viertel herabgesetzt, mit
andern Worten den nationalen Selbstmord begangen haben. Die Zerschlagung
des Großgrundbesitzes dürfte deshalb, außer den bisherigen Pächtern für ihre
Personen, nur einer verhältnismäßig geringen Anzahl neuer Wirte, in der
Hauptsache vielmehr der städtischen Bevölkerung zu gute kommen. Diese hat


Grenzboten IV 1.393 Jo
Reiseeindriicke ans England

in der Viertelstunde, die ich dort wartete, gefunden hatten, war der in der
Nähe stationirte Polieeman. Daß die Staatsgewalt in England heute noch
die Energie hat und den Entschluß zu finden weiß, gegen offne Gewalt
kräftig einzuschreiten, bewiesen gerade während meiner Anwesenheit die blu¬
tigen Ereignisse von Pontefract. Die Arbeiter konnten sich die im ganzen
ihnen zugewendeten Sympathien des großen Publikums nicht gründlicher als
durch offnen Aufruhr und Brandstiftung verscherzen.

Was die Vodenfrage für England zu bedeuten hat, kann man schon auf
einer kurzen Wanderung durch das Land beobachten. Den Versuch, von der
öffentlichen Straße abzubiegen, etwa durch ein Wäldchen, über eiuen Hügel
zuzuschneiden oder einen schönen Blick zu genießen, wehrt überall die geheiligte
Aufschrift: ?rivats. Nur die Wiesen der großen öffentlichen Parks, deren
Gras von deu vornehmen Erscheinungen stattlicher Schöpfe kurz gehalten
wird, sind unbeschränkt zugänglich. Zwar scheinen die meisten Großgrund¬
besitzer ihre Privatparks auch dem großen Publikum zu öffnen — ich sah das
mit unbeschreiblichem Luxus und auserlesenen Geschmack ausgestattete Eaton
Hall des Herzogs von Westminster bei Ehester. Wie wenig sie aber dazu für
verpflichtet angesehen werden, entnahm ich der Bemerkung eines Reisegefährten,
der den Carl von X deshalb, weil er das Publikum zuließ, als einen g'oval
man rühmte. Ob freilich die englische Landwirtschaft von einer neuen Boden¬
verteilung so beträchtliche Vorteile haben würde, steht dahin. Von der ge¬
samten Bodenfläche des vereinigten Königreichs dienen fast 43 Prozent, vom
eigentlichen England ein noch weit höherer Prozentsatz der Wiesen- und Weide¬
wirtschaft. Die Viehzucht wird für den gegenwärtigen Umfang des Weide¬
landes auch dann die durch die Verhältnisse gegebne, einträglichste Wirtschafts¬
form bleiben, wenn die heutigen Pächter zu freien Eigentümern werden sollten.
Gerade diese Wirtschaftsform ist aber für den Kleinbetrieb wenig geeignet.
Die 19 Prozent oder rund 6 Millionen Hektar Ackerlandes mögen noch Platz
für einige tausend und selbst zehntausend kleinere Bauernhöfe hergeben, weitere
tausende lassen sich vielleicht von den 35 Prozent jetzt wüst liegenden Landes
ab- oder vielmehr zurückgewinnen. Für einen zahlreichen und kräftigen Kleiu-
bauernstand bieten aber die britischen Inseln schwerlich noch Raum. Sie
würden ohnedies den eignen Bedarf an Brotfrucht nicht erzeugen können, und
wenn sie bis zum Gipfel des Ben Nevis unter den Pflug genommen würden.
Um zu einem sich selbst genügenden Ackerbau- und Industriestaat zurückkehren
zu können, müßte England zuvor neunundneunzig Hundertel seiner heutigen
Industrie zerstört und seine Einwohnerzahl auf ein Viertel herabgesetzt, mit
andern Worten den nationalen Selbstmord begangen haben. Die Zerschlagung
des Großgrundbesitzes dürfte deshalb, außer den bisherigen Pächtern für ihre
Personen, nur einer verhältnismäßig geringen Anzahl neuer Wirte, in der
Hauptsache vielmehr der städtischen Bevölkerung zu gute kommen. Diese hat


Grenzboten IV 1.393 Jo
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[0241] Reiseeindriicke ans England in der Viertelstunde, die ich dort wartete, gefunden hatten, war der in der Nähe stationirte Polieeman. Daß die Staatsgewalt in England heute noch die Energie hat und den Entschluß zu finden weiß, gegen offne Gewalt kräftig einzuschreiten, bewiesen gerade während meiner Anwesenheit die blu¬ tigen Ereignisse von Pontefract. Die Arbeiter konnten sich die im ganzen ihnen zugewendeten Sympathien des großen Publikums nicht gründlicher als durch offnen Aufruhr und Brandstiftung verscherzen. Was die Vodenfrage für England zu bedeuten hat, kann man schon auf einer kurzen Wanderung durch das Land beobachten. Den Versuch, von der öffentlichen Straße abzubiegen, etwa durch ein Wäldchen, über eiuen Hügel zuzuschneiden oder einen schönen Blick zu genießen, wehrt überall die geheiligte Aufschrift: ?rivats. Nur die Wiesen der großen öffentlichen Parks, deren Gras von deu vornehmen Erscheinungen stattlicher Schöpfe kurz gehalten wird, sind unbeschränkt zugänglich. Zwar scheinen die meisten Großgrund¬ besitzer ihre Privatparks auch dem großen Publikum zu öffnen — ich sah das mit unbeschreiblichem Luxus und auserlesenen Geschmack ausgestattete Eaton Hall des Herzogs von Westminster bei Ehester. Wie wenig sie aber dazu für verpflichtet angesehen werden, entnahm ich der Bemerkung eines Reisegefährten, der den Carl von X deshalb, weil er das Publikum zuließ, als einen g'oval man rühmte. Ob freilich die englische Landwirtschaft von einer neuen Boden¬ verteilung so beträchtliche Vorteile haben würde, steht dahin. Von der ge¬ samten Bodenfläche des vereinigten Königreichs dienen fast 43 Prozent, vom eigentlichen England ein noch weit höherer Prozentsatz der Wiesen- und Weide¬ wirtschaft. Die Viehzucht wird für den gegenwärtigen Umfang des Weide¬ landes auch dann die durch die Verhältnisse gegebne, einträglichste Wirtschafts¬ form bleiben, wenn die heutigen Pächter zu freien Eigentümern werden sollten. Gerade diese Wirtschaftsform ist aber für den Kleinbetrieb wenig geeignet. Die 19 Prozent oder rund 6 Millionen Hektar Ackerlandes mögen noch Platz für einige tausend und selbst zehntausend kleinere Bauernhöfe hergeben, weitere tausende lassen sich vielleicht von den 35 Prozent jetzt wüst liegenden Landes ab- oder vielmehr zurückgewinnen. Für einen zahlreichen und kräftigen Kleiu- bauernstand bieten aber die britischen Inseln schwerlich noch Raum. Sie würden ohnedies den eignen Bedarf an Brotfrucht nicht erzeugen können, und wenn sie bis zum Gipfel des Ben Nevis unter den Pflug genommen würden. Um zu einem sich selbst genügenden Ackerbau- und Industriestaat zurückkehren zu können, müßte England zuvor neunundneunzig Hundertel seiner heutigen Industrie zerstört und seine Einwohnerzahl auf ein Viertel herabgesetzt, mit andern Worten den nationalen Selbstmord begangen haben. Die Zerschlagung des Großgrundbesitzes dürfte deshalb, außer den bisherigen Pächtern für ihre Personen, nur einer verhältnismäßig geringen Anzahl neuer Wirte, in der Hauptsache vielmehr der städtischen Bevölkerung zu gute kommen. Diese hat Grenzboten IV 1.393 Jo

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/241>, abgerufen am 24.08.2024.