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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Reiseeindrücke aus England

perenz bereits verpöntem Apfelwein wohl sein lassen, mich auch nicht gescheut,
von der in den Temperenzhotels mit großer Freigebigkeit aufgebotenen Tafel¬
erfrischung, bestehend in reinem Quellwasser, reichen Gebrauch zu machen. Da
ich die Gelübde nicht abgelegt hatte, ließ ich mir gegen das Übermaß des
Wassers einen Tropfen ans der Cognaeflasche einen heimlichen Tröster sein.
Man ist übrigens in den bessern Temperenzhotels, die alle dicht gefüllt waren,
ganz ebenso komfortabel und dabei viel billiger aufgehoben, als in den noch
der Sünde des Alkohols fröhnenden Häusern. Nur in Glasgow schien sich
die Temperenz in dem einen Hotel auch auf die Speisen erstreckt zu haben.

Bei den Abendvergnügungen, die ich unter allen Ständen beobachtet habe,
herrschte überall eine ungezwungene und doch durch keine Roheit gestörte
Fröhlichkeit. Der Verkehr der Geschlechter unter einander ist bekanntlich drüben
allgemein viel freier als bei uns. Die Begleitung von Müttern und Tanten
scheint auch für ein junges Mädchen aus guter Familie für entbehrlich ge¬
halten zu werden. Ich sah wenigstens die weibliche Jugend fast überall allein,
die Eisen bahnzüge hatten regelmäßig mindestens eben so viel allein reisende
Damen als Herren zu Passagieren, Girls von kaum zehn Jahren flanirten
allein oder zu zweien und dreien noch in später Abendstunde auf den Straßen
der Großstädte. Dabei habe ich -- London allerdings ausgenommen -- auch
kein Frauenzimmer gesehen, das ich der Demimonde hätte zuzählen mögen,
und es scheint, als sei die englische Dame zu keiner Stunde der Nacht den
Gefahren ausgesetzt, die ihr heute leider in den deutschen Großstädten von
den sogenannten Flegeln in Glacehandschuhen drohen. Der "Flirt" ist freilich
überall im schönsten Gange. Als der Dampfer in Antwerpen die Taue löste,
gaben sich eine Lady und ein Gentleman, aber keine Verlobten, vor aller Welt
einen herzhaften Abschiedskuß und scherzten dann, während das Schiff langsam
wendete, darüber mit lauten Neckereien. Ein Arbeiter in Manchester verab¬
schiedete sich, als er in die Pferdebahn stieg, von seinen beiden Begleiterinnen,
die doch unmöglich beide seine Geliebten sein konnten, gleichfalls mit Hand
und Kuß. Auch in der guten Gesellschaft, so an Bord der Dampfer, war
überall eine fröhliche Neckerei im Gange, auf deu weit in das Meer heraus¬
gebauten Piers saßen zahlreiche einsame und zum Teil noch sehr junge Pär¬
chen unter dem dunkeln Sternenhimmel. Man beginnt ja auch in England
selbst über Mangel an Formen gegenüber dem schönen Geschlecht zu klagen.
Mir schien aber, als beanspruche die englische Lady selbst nicht mehr, mit
der ehrerbietigen Ergebenheit behandelt zu werden, die in der guten deutschen
Gesellschaft doch noch die Regel bildet. Und in der That kann das Weib,
wenn es, wie in England, fast alle Vorrechte des stärkern Geschlechts für sich
mit in Anspruch nimmt, kaum noch auf besondern ihm geschuldeten Pflichten
bestehen. Vielleicht sind die Engländerinnen kältere, weniger sinnliche Naturen.
Mir schien diese Fessellosigkeit entweder sehr viel Unbefangenheit, die zugleich


Reiseeindrücke aus England

perenz bereits verpöntem Apfelwein wohl sein lassen, mich auch nicht gescheut,
von der in den Temperenzhotels mit großer Freigebigkeit aufgebotenen Tafel¬
erfrischung, bestehend in reinem Quellwasser, reichen Gebrauch zu machen. Da
ich die Gelübde nicht abgelegt hatte, ließ ich mir gegen das Übermaß des
Wassers einen Tropfen ans der Cognaeflasche einen heimlichen Tröster sein.
Man ist übrigens in den bessern Temperenzhotels, die alle dicht gefüllt waren,
ganz ebenso komfortabel und dabei viel billiger aufgehoben, als in den noch
der Sünde des Alkohols fröhnenden Häusern. Nur in Glasgow schien sich
die Temperenz in dem einen Hotel auch auf die Speisen erstreckt zu haben.

Bei den Abendvergnügungen, die ich unter allen Ständen beobachtet habe,
herrschte überall eine ungezwungene und doch durch keine Roheit gestörte
Fröhlichkeit. Der Verkehr der Geschlechter unter einander ist bekanntlich drüben
allgemein viel freier als bei uns. Die Begleitung von Müttern und Tanten
scheint auch für ein junges Mädchen aus guter Familie für entbehrlich ge¬
halten zu werden. Ich sah wenigstens die weibliche Jugend fast überall allein,
die Eisen bahnzüge hatten regelmäßig mindestens eben so viel allein reisende
Damen als Herren zu Passagieren, Girls von kaum zehn Jahren flanirten
allein oder zu zweien und dreien noch in später Abendstunde auf den Straßen
der Großstädte. Dabei habe ich — London allerdings ausgenommen — auch
kein Frauenzimmer gesehen, das ich der Demimonde hätte zuzählen mögen,
und es scheint, als sei die englische Dame zu keiner Stunde der Nacht den
Gefahren ausgesetzt, die ihr heute leider in den deutschen Großstädten von
den sogenannten Flegeln in Glacehandschuhen drohen. Der „Flirt" ist freilich
überall im schönsten Gange. Als der Dampfer in Antwerpen die Taue löste,
gaben sich eine Lady und ein Gentleman, aber keine Verlobten, vor aller Welt
einen herzhaften Abschiedskuß und scherzten dann, während das Schiff langsam
wendete, darüber mit lauten Neckereien. Ein Arbeiter in Manchester verab¬
schiedete sich, als er in die Pferdebahn stieg, von seinen beiden Begleiterinnen,
die doch unmöglich beide seine Geliebten sein konnten, gleichfalls mit Hand
und Kuß. Auch in der guten Gesellschaft, so an Bord der Dampfer, war
überall eine fröhliche Neckerei im Gange, auf deu weit in das Meer heraus¬
gebauten Piers saßen zahlreiche einsame und zum Teil noch sehr junge Pär¬
chen unter dem dunkeln Sternenhimmel. Man beginnt ja auch in England
selbst über Mangel an Formen gegenüber dem schönen Geschlecht zu klagen.
Mir schien aber, als beanspruche die englische Lady selbst nicht mehr, mit
der ehrerbietigen Ergebenheit behandelt zu werden, die in der guten deutschen
Gesellschaft doch noch die Regel bildet. Und in der That kann das Weib,
wenn es, wie in England, fast alle Vorrechte des stärkern Geschlechts für sich
mit in Anspruch nimmt, kaum noch auf besondern ihm geschuldeten Pflichten
bestehen. Vielleicht sind die Engländerinnen kältere, weniger sinnliche Naturen.
Mir schien diese Fessellosigkeit entweder sehr viel Unbefangenheit, die zugleich


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[0234] Reiseeindrücke aus England perenz bereits verpöntem Apfelwein wohl sein lassen, mich auch nicht gescheut, von der in den Temperenzhotels mit großer Freigebigkeit aufgebotenen Tafel¬ erfrischung, bestehend in reinem Quellwasser, reichen Gebrauch zu machen. Da ich die Gelübde nicht abgelegt hatte, ließ ich mir gegen das Übermaß des Wassers einen Tropfen ans der Cognaeflasche einen heimlichen Tröster sein. Man ist übrigens in den bessern Temperenzhotels, die alle dicht gefüllt waren, ganz ebenso komfortabel und dabei viel billiger aufgehoben, als in den noch der Sünde des Alkohols fröhnenden Häusern. Nur in Glasgow schien sich die Temperenz in dem einen Hotel auch auf die Speisen erstreckt zu haben. Bei den Abendvergnügungen, die ich unter allen Ständen beobachtet habe, herrschte überall eine ungezwungene und doch durch keine Roheit gestörte Fröhlichkeit. Der Verkehr der Geschlechter unter einander ist bekanntlich drüben allgemein viel freier als bei uns. Die Begleitung von Müttern und Tanten scheint auch für ein junges Mädchen aus guter Familie für entbehrlich ge¬ halten zu werden. Ich sah wenigstens die weibliche Jugend fast überall allein, die Eisen bahnzüge hatten regelmäßig mindestens eben so viel allein reisende Damen als Herren zu Passagieren, Girls von kaum zehn Jahren flanirten allein oder zu zweien und dreien noch in später Abendstunde auf den Straßen der Großstädte. Dabei habe ich — London allerdings ausgenommen — auch kein Frauenzimmer gesehen, das ich der Demimonde hätte zuzählen mögen, und es scheint, als sei die englische Dame zu keiner Stunde der Nacht den Gefahren ausgesetzt, die ihr heute leider in den deutschen Großstädten von den sogenannten Flegeln in Glacehandschuhen drohen. Der „Flirt" ist freilich überall im schönsten Gange. Als der Dampfer in Antwerpen die Taue löste, gaben sich eine Lady und ein Gentleman, aber keine Verlobten, vor aller Welt einen herzhaften Abschiedskuß und scherzten dann, während das Schiff langsam wendete, darüber mit lauten Neckereien. Ein Arbeiter in Manchester verab¬ schiedete sich, als er in die Pferdebahn stieg, von seinen beiden Begleiterinnen, die doch unmöglich beide seine Geliebten sein konnten, gleichfalls mit Hand und Kuß. Auch in der guten Gesellschaft, so an Bord der Dampfer, war überall eine fröhliche Neckerei im Gange, auf deu weit in das Meer heraus¬ gebauten Piers saßen zahlreiche einsame und zum Teil noch sehr junge Pär¬ chen unter dem dunkeln Sternenhimmel. Man beginnt ja auch in England selbst über Mangel an Formen gegenüber dem schönen Geschlecht zu klagen. Mir schien aber, als beanspruche die englische Lady selbst nicht mehr, mit der ehrerbietigen Ergebenheit behandelt zu werden, die in der guten deutschen Gesellschaft doch noch die Regel bildet. Und in der That kann das Weib, wenn es, wie in England, fast alle Vorrechte des stärkern Geschlechts für sich mit in Anspruch nimmt, kaum noch auf besondern ihm geschuldeten Pflichten bestehen. Vielleicht sind die Engländerinnen kältere, weniger sinnliche Naturen. Mir schien diese Fessellosigkeit entweder sehr viel Unbefangenheit, die zugleich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/234>, abgerufen am 25.08.2024.