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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Reiseeindriicke aus England

auch mancher kleinen Mitbürger durch mächtige, ihren Namen tragende Ge¬
bäude, Denkmäler, Parks und Plätze, Schottland widmet den Manen Walter
Scotts und seines Reformators John Knox eine Art nationaler Heiligenver-
ehrung, Edingburg lebt heute noch dem Gedenken an seine schöne und un¬
glückliche Königin. Alle Kirchen, die ich besuchte, trugen Erinnerungstafeln,
vielfach von alten Regimentsfahnen beschattet, an die in allen Weltteilen für
Englands Größe gefallnen Offiziere und Soldaten der heimatlichen Truppen¬
teile, seit den Tagen von Malplaqnet, den nordamerikanischen Befreiungskriegen,
den napoleonischen Feldzügen bis in die jüngsten Tage von Indien, Birma,
Ägypten und Afghanistan. Alle diese Erinnerungszeichen, deren zum guten
Teil geschmacklose Form dem patriotischen Gefühle keinen Eintrag thut, sind
durchweg liebevoll in Stand gehalten, werden täglich von Männern, Frauen
und Kindern aufgesucht, die nationalen Geschichtswerke sind die gelesensten
Bücher der öffentlichen Bibliotheken, und jeder Engländer scheint mit der Ver¬
gangenheit seines Landes wohl vertraut zu sein. So traf ich in den Ruinen
von Kenilworth zwei Londoner Frauen mittlern Standes, die in den Zeiten
Cromwells, der Elisabeth und sogar Johann von Gaunts recht gut Bescheid
wußten. Nun haben zwar weder in Athen noch in Rom die in die Nachwelt
hineinragenden Zeugen einer großen Vergangenheit den schließlichen Verfall
aufzuhalten vermocht. Aber das heutige englische Volk ist eine germanische,
eine religiöse und eine nichts weniger als verweichlichte Nation. Ich sah
namentlich unter den jüngern Gentlemen eine Fülle gutgewachsener muskulöser
Gestalten, wenn ihnen auch meist die Haltung abgeht, an die unser militärisches
Auge gewöhnt ist, und bemerkte unter den Männern jeden Alters wenig Em-
bonpoint, augenscheinlich eine Folge des starken Fleischgenusses. Ich habe mit
besondrer Aufmerksamkeit das Aussehen der arbeitenden Klassen in den großen
Judustrieplcitzen Birmingham, Liverpool, Manchester, Oldham, Glasgow und
Sheffield beobachtet. Sie machten mit verhältnismüßig wenigen, freilich um
so krassern Ausnahmen einen durchaus wohlgenährten Eindruck. Die Schil¬
derungen von Engels, die ja für das Jahr 1844 leider getren gewesen sind,
treffen heute nicht entfernt mehr zu. Ich habe mich namentlich in Manchester
bemüht, das Engelssche Buch in der Hand, die von ihm geschilderten verwahr¬
losten Arbeiterquartiere aufzusuchen, bin auch gelegentlich in eine Arbeiter¬
wohnung und in die Hinterhäuser eingetreten, fand aber in allen den genannten
Platzen durchaus befriedigende hygieinische Verhältnisse. Auch die Frauen und
Mädchen der Arbeiterklasse sahen im Durchschnitt recht gut aus. Meist waren
sie, selbst während der Arbeit, nett und sogar kokett gekleidet, in einer großen
Stahlfederfabrik zu Birmingham und selbst in einer Banmwollspinuerei zu
Oldham fielen mir die hübsche Figur und die gute Farbe der Mädchen auf.
Ein großes, ständiges, mit Menageriegerüchen erfülltes Vergniiguugslokal im
Südosten von Manchester, Bellevue Gartens, war an einem schönen Sommer-


Reiseeindriicke aus England

auch mancher kleinen Mitbürger durch mächtige, ihren Namen tragende Ge¬
bäude, Denkmäler, Parks und Plätze, Schottland widmet den Manen Walter
Scotts und seines Reformators John Knox eine Art nationaler Heiligenver-
ehrung, Edingburg lebt heute noch dem Gedenken an seine schöne und un¬
glückliche Königin. Alle Kirchen, die ich besuchte, trugen Erinnerungstafeln,
vielfach von alten Regimentsfahnen beschattet, an die in allen Weltteilen für
Englands Größe gefallnen Offiziere und Soldaten der heimatlichen Truppen¬
teile, seit den Tagen von Malplaqnet, den nordamerikanischen Befreiungskriegen,
den napoleonischen Feldzügen bis in die jüngsten Tage von Indien, Birma,
Ägypten und Afghanistan. Alle diese Erinnerungszeichen, deren zum guten
Teil geschmacklose Form dem patriotischen Gefühle keinen Eintrag thut, sind
durchweg liebevoll in Stand gehalten, werden täglich von Männern, Frauen
und Kindern aufgesucht, die nationalen Geschichtswerke sind die gelesensten
Bücher der öffentlichen Bibliotheken, und jeder Engländer scheint mit der Ver¬
gangenheit seines Landes wohl vertraut zu sein. So traf ich in den Ruinen
von Kenilworth zwei Londoner Frauen mittlern Standes, die in den Zeiten
Cromwells, der Elisabeth und sogar Johann von Gaunts recht gut Bescheid
wußten. Nun haben zwar weder in Athen noch in Rom die in die Nachwelt
hineinragenden Zeugen einer großen Vergangenheit den schließlichen Verfall
aufzuhalten vermocht. Aber das heutige englische Volk ist eine germanische,
eine religiöse und eine nichts weniger als verweichlichte Nation. Ich sah
namentlich unter den jüngern Gentlemen eine Fülle gutgewachsener muskulöser
Gestalten, wenn ihnen auch meist die Haltung abgeht, an die unser militärisches
Auge gewöhnt ist, und bemerkte unter den Männern jeden Alters wenig Em-
bonpoint, augenscheinlich eine Folge des starken Fleischgenusses. Ich habe mit
besondrer Aufmerksamkeit das Aussehen der arbeitenden Klassen in den großen
Judustrieplcitzen Birmingham, Liverpool, Manchester, Oldham, Glasgow und
Sheffield beobachtet. Sie machten mit verhältnismüßig wenigen, freilich um
so krassern Ausnahmen einen durchaus wohlgenährten Eindruck. Die Schil¬
derungen von Engels, die ja für das Jahr 1844 leider getren gewesen sind,
treffen heute nicht entfernt mehr zu. Ich habe mich namentlich in Manchester
bemüht, das Engelssche Buch in der Hand, die von ihm geschilderten verwahr¬
losten Arbeiterquartiere aufzusuchen, bin auch gelegentlich in eine Arbeiter¬
wohnung und in die Hinterhäuser eingetreten, fand aber in allen den genannten
Platzen durchaus befriedigende hygieinische Verhältnisse. Auch die Frauen und
Mädchen der Arbeiterklasse sahen im Durchschnitt recht gut aus. Meist waren
sie, selbst während der Arbeit, nett und sogar kokett gekleidet, in einer großen
Stahlfederfabrik zu Birmingham und selbst in einer Banmwollspinuerei zu
Oldham fielen mir die hübsche Figur und die gute Farbe der Mädchen auf.
Ein großes, ständiges, mit Menageriegerüchen erfülltes Vergniiguugslokal im
Südosten von Manchester, Bellevue Gartens, war an einem schönen Sommer-


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[0232] Reiseeindriicke aus England auch mancher kleinen Mitbürger durch mächtige, ihren Namen tragende Ge¬ bäude, Denkmäler, Parks und Plätze, Schottland widmet den Manen Walter Scotts und seines Reformators John Knox eine Art nationaler Heiligenver- ehrung, Edingburg lebt heute noch dem Gedenken an seine schöne und un¬ glückliche Königin. Alle Kirchen, die ich besuchte, trugen Erinnerungstafeln, vielfach von alten Regimentsfahnen beschattet, an die in allen Weltteilen für Englands Größe gefallnen Offiziere und Soldaten der heimatlichen Truppen¬ teile, seit den Tagen von Malplaqnet, den nordamerikanischen Befreiungskriegen, den napoleonischen Feldzügen bis in die jüngsten Tage von Indien, Birma, Ägypten und Afghanistan. Alle diese Erinnerungszeichen, deren zum guten Teil geschmacklose Form dem patriotischen Gefühle keinen Eintrag thut, sind durchweg liebevoll in Stand gehalten, werden täglich von Männern, Frauen und Kindern aufgesucht, die nationalen Geschichtswerke sind die gelesensten Bücher der öffentlichen Bibliotheken, und jeder Engländer scheint mit der Ver¬ gangenheit seines Landes wohl vertraut zu sein. So traf ich in den Ruinen von Kenilworth zwei Londoner Frauen mittlern Standes, die in den Zeiten Cromwells, der Elisabeth und sogar Johann von Gaunts recht gut Bescheid wußten. Nun haben zwar weder in Athen noch in Rom die in die Nachwelt hineinragenden Zeugen einer großen Vergangenheit den schließlichen Verfall aufzuhalten vermocht. Aber das heutige englische Volk ist eine germanische, eine religiöse und eine nichts weniger als verweichlichte Nation. Ich sah namentlich unter den jüngern Gentlemen eine Fülle gutgewachsener muskulöser Gestalten, wenn ihnen auch meist die Haltung abgeht, an die unser militärisches Auge gewöhnt ist, und bemerkte unter den Männern jeden Alters wenig Em- bonpoint, augenscheinlich eine Folge des starken Fleischgenusses. Ich habe mit besondrer Aufmerksamkeit das Aussehen der arbeitenden Klassen in den großen Judustrieplcitzen Birmingham, Liverpool, Manchester, Oldham, Glasgow und Sheffield beobachtet. Sie machten mit verhältnismüßig wenigen, freilich um so krassern Ausnahmen einen durchaus wohlgenährten Eindruck. Die Schil¬ derungen von Engels, die ja für das Jahr 1844 leider getren gewesen sind, treffen heute nicht entfernt mehr zu. Ich habe mich namentlich in Manchester bemüht, das Engelssche Buch in der Hand, die von ihm geschilderten verwahr¬ losten Arbeiterquartiere aufzusuchen, bin auch gelegentlich in eine Arbeiter¬ wohnung und in die Hinterhäuser eingetreten, fand aber in allen den genannten Platzen durchaus befriedigende hygieinische Verhältnisse. Auch die Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse sahen im Durchschnitt recht gut aus. Meist waren sie, selbst während der Arbeit, nett und sogar kokett gekleidet, in einer großen Stahlfederfabrik zu Birmingham und selbst in einer Banmwollspinuerei zu Oldham fielen mir die hübsche Figur und die gute Farbe der Mädchen auf. Ein großes, ständiges, mit Menageriegerüchen erfülltes Vergniiguugslokal im Südosten von Manchester, Bellevue Gartens, war an einem schönen Sommer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/232>, abgerufen am 22.07.2024.