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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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vor Scham erröten. Mit Sir oder Madam erspart sich der Engländer alle
diese quälenden Gewissenskämpfe, für das Weihevolle des Titels fehlt ihm
aber selbst das elementarste Verständnis. Ich hatte, um mich in volle Über¬
einstimmung mit meiner Paßkarte zu setzen, meine Briefe unter meinem be¬
scheidnen Amtstitel an mich richten lassen und bemerkte immer wieder das Er¬
stannen der Postbeamten, die mir die Sendungen aushändigten. In Glasgow
fragte mich endlich einer, was denn eigentlich das erste Wort vor meinem
Namen bedeutete, schüttelte den Kopf und meinte nachdenklich, das sei hierzu¬
lande nicht Mode. Ich kann auch nicht sagen, daß ich darunter gelitten hätte,
in den Gasthäusern, wo man stets nach dem Namen gefragt wird, als ganz
gewöhnlicher "Mr. T" zu Buche gebracht zu werden. Heilig habe ich
mir aber vorgenommen, nunmehr dem hiesigen Antihutabnehmerverein beizu¬
treten. Kommen doch über 400 000 Deutsche, darunter sämtliche Sekonde-
leutnants, sonst nächst den Engländern die mustergiltigen Vorbilder sür Au¬
stand und Benehmen unsrer deutschen Dandies, jahraus jahrein damit aus,
ihren Höflichkeitspflichten gleich den Engländern durch eine einfache Armbewe-
gung zu genügen. Eine freie und edle Männlichkeit spricht sich darin aus,
daß der Engländer, anßer vor seinem Souverän, vor keinen: Menschen Rücken
und Nacken beugt, der Freimut in Schrift und Rede, in Schranke" gehalten
durch ein sichres Schicklichkeitsgefühl und guten Humor, hatte meine aufrich¬
tige Bewunderung. Die englische Journalistik steht heute auf der Höhe ihrer
Aufgabe; ich habe in London einen ganz prächtigen Vertreter dieses Standes,
einen Gentleman im besten Sinne kennen gelernt. Auch die erbitterten poli¬
tischen Parteikämpfe scheinen in England doch nicht in so persönliche Gehässig¬
keiten auszuarten wie anderswo. Ich erkundigte mich natürlich eifrig nach den
Ansichten meiner englischen Freunde über Homerule. Ich habe durchweg und
in den verschiedensten Ständen nur Gegner kennen gelernt. Alle ergossen sich
in leidenschaftlichen Anklagen gegen Glndstone, viele hatten ihm wegen Home¬
rule die frühere Freundschaft gekündigt, aber keiner verfehlte zum Schlüsse zu
bemerken, Mr. Gladstone sei doch mit seinen vierundachtzig Jahren g, vonävrkul
man. Mein Cityman meinte übrigens resignirt, Homerule werde doch schlie߬
lich Gesetz werden, die xoor seien dafür, und die hätten in England heute die
politische Macht. Wiederholt rühmte man mir die englische Freiheit, die
jedem Briten gestatte, selbst die Königin öffentlich und ungestraft mit dem für
eine Dame beleidigendsten Schimpfworte zu belegen. Ich will nicht unter¬
suchen, ob diese Art von Freiheit so begehrenswert sei. Sie kann wohl auch
nur in einem Lande aufrecht erhalten werden, wo die Sitte heute noch mächtig
genug ist, jede Pöbelhaftigkeit zu unterdrücken, bei Strafe, aus der guten Ge¬
sellschaft ausgeschlossen zu werden, und wo dieser Ausschluß noch als eine
härtere Ahndung empfunden wird, als ein Kriminalprozeß und eine vergitterte
Zelle. Thatsache ist, daß ich über die .Königin und die Mitglieder des könig-


vor Scham erröten. Mit Sir oder Madam erspart sich der Engländer alle
diese quälenden Gewissenskämpfe, für das Weihevolle des Titels fehlt ihm
aber selbst das elementarste Verständnis. Ich hatte, um mich in volle Über¬
einstimmung mit meiner Paßkarte zu setzen, meine Briefe unter meinem be¬
scheidnen Amtstitel an mich richten lassen und bemerkte immer wieder das Er¬
stannen der Postbeamten, die mir die Sendungen aushändigten. In Glasgow
fragte mich endlich einer, was denn eigentlich das erste Wort vor meinem
Namen bedeutete, schüttelte den Kopf und meinte nachdenklich, das sei hierzu¬
lande nicht Mode. Ich kann auch nicht sagen, daß ich darunter gelitten hätte,
in den Gasthäusern, wo man stets nach dem Namen gefragt wird, als ganz
gewöhnlicher „Mr. T" zu Buche gebracht zu werden. Heilig habe ich
mir aber vorgenommen, nunmehr dem hiesigen Antihutabnehmerverein beizu¬
treten. Kommen doch über 400 000 Deutsche, darunter sämtliche Sekonde-
leutnants, sonst nächst den Engländern die mustergiltigen Vorbilder sür Au¬
stand und Benehmen unsrer deutschen Dandies, jahraus jahrein damit aus,
ihren Höflichkeitspflichten gleich den Engländern durch eine einfache Armbewe-
gung zu genügen. Eine freie und edle Männlichkeit spricht sich darin aus,
daß der Engländer, anßer vor seinem Souverän, vor keinen: Menschen Rücken
und Nacken beugt, der Freimut in Schrift und Rede, in Schranke» gehalten
durch ein sichres Schicklichkeitsgefühl und guten Humor, hatte meine aufrich¬
tige Bewunderung. Die englische Journalistik steht heute auf der Höhe ihrer
Aufgabe; ich habe in London einen ganz prächtigen Vertreter dieses Standes,
einen Gentleman im besten Sinne kennen gelernt. Auch die erbitterten poli¬
tischen Parteikämpfe scheinen in England doch nicht in so persönliche Gehässig¬
keiten auszuarten wie anderswo. Ich erkundigte mich natürlich eifrig nach den
Ansichten meiner englischen Freunde über Homerule. Ich habe durchweg und
in den verschiedensten Ständen nur Gegner kennen gelernt. Alle ergossen sich
in leidenschaftlichen Anklagen gegen Glndstone, viele hatten ihm wegen Home¬
rule die frühere Freundschaft gekündigt, aber keiner verfehlte zum Schlüsse zu
bemerken, Mr. Gladstone sei doch mit seinen vierundachtzig Jahren g, vonävrkul
man. Mein Cityman meinte übrigens resignirt, Homerule werde doch schlie߬
lich Gesetz werden, die xoor seien dafür, und die hätten in England heute die
politische Macht. Wiederholt rühmte man mir die englische Freiheit, die
jedem Briten gestatte, selbst die Königin öffentlich und ungestraft mit dem für
eine Dame beleidigendsten Schimpfworte zu belegen. Ich will nicht unter¬
suchen, ob diese Art von Freiheit so begehrenswert sei. Sie kann wohl auch
nur in einem Lande aufrecht erhalten werden, wo die Sitte heute noch mächtig
genug ist, jede Pöbelhaftigkeit zu unterdrücken, bei Strafe, aus der guten Ge¬
sellschaft ausgeschlossen zu werden, und wo dieser Ausschluß noch als eine
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/230>, abgerufen am 25.08.2024.