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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Europa und England

Irland, die doch mit zwingender Notwendigkeit die gleiche Einrichtung für
Schottland und Wales nach sich ziehen muß. Wie kann mau aber die not-
wendigsten Reformen durchführen. wenn man einer liberalen Doktrin zuliebe
das Land in Stücke schneidet; wie will man die Stellung einer Großmacht
behaupten, wie sie zur Aufrechterhaltung der britischen Welthandclspolitik un¬
bedingt notwendig ist, wenn man daran arbeitet, daheim das Reich in eine
Art von deutschem Bund aufzulösen? Freilich, Reden dafür und dagegen zu
halten mag geeigneter sein, eine zur Übernahme der Negierung notwendige
Mehrheit zusammenzuhalten oder zusammenzubringen, als die unpopuläre For¬
derung einer Heeresreform, die dem "freien" Sohne Albions persönliche Pflichten
auferlegen würde, die er bisher verabscheute. Die Kosten dafür -- die ein¬
maligen ersten Ausrüstungskosten abgerechnet -- würden nicht ins Gewicht fallen,
da das gegenwärtige englische Hecresbudget dem deutschen wenig nachsteht.

Nachdem alle Mächte des europäischen Festlandes ihre Heereskraft auf
die höchste Stufe der Entwicklung gebracht haben, ist die Zeit unwiederbringlich
dahin, wo England, im Schlafrock sitzend und hinter dem Pulte jobbernd, mit
einer Handvoll bezahlter Soldaten und einigen Häuflein etwas ausgebildeter
Milizen, mit unzureichend bewaffneten Plätzen und einem durch parlamentarische
Knauserei und unfähige Verwaltung heruutergckvmmnen Heer- und Marine¬
wesen eine Rolle in Enropa spielen konnte. Auch jener Politik ist die Spitze
abgebrochen, die darauf hinauslief, Mißtrauen zu säen und europäische Kon¬
flikte zu schüren, sich aber gänzlich zurückzuhalten, wenn wirklich ein Krieg
ausbrach. .Konflikte stehen heutzutage in Enropa nicht in Aussicht, auch ein
erneuter Ausbruch der überreizten nationalen Eitelkeit der Franzosen ist nicht
zu erwarten. Es liegt eine gewisse Wahrheit in dem Wort, daß durch das
"ungeschriebene" Bündnis zwischen Rußland und Frankreich das politische Gleich¬
gewicht in Europa wieder hergestellt worden sei. Jedenfalls ist ein ungefähres
militärisches Gleichgewicht vorhanden, das einen Kampf zwischen Dreibund und
Zweibund aussichtslos erscheinen läßt. Aber der Zweibuud besteht aus zwei
Staaten, in deren Bevölkerung ein Drängen nach außen, eine kriegerische
Strömung seit Jahren gepflegt worden ist, was sich seither als Haß gegen
Deutschland äußerte. Da ist doch die Frage am Platze: Was soll schließlich
aus diesem Haß werden, wenn ein Angriff auf Deutschland -- also deu Drei¬
bund -- keinen Erfolg verspricht? Wird mau versuchen, diesen Haß von oben
herab zu dämpfen? Wir glauben das nicht, denn ein solcher Versuch wäre sür
jede französische Regierung verderblich, und dem zarischen Regiment würden
daraus neue erbitterte Feinde erwachsen. Es bleibt darum nur übrig, deu
Haß abzulenken, und der Blitzableiter ist schon gefunden: er heißt England.
Wer die kaum zweijährige Geschichte des Zweibuudes verfolgt hat, wird diese
Schlußfolgerung bestätigt finden. Man Hütte doch nach Kronstäbe erwarten
sollen, daß uun ein gemeinsamer politischer Feldzug Frankreichs und Rußlands


Europa und England

Irland, die doch mit zwingender Notwendigkeit die gleiche Einrichtung für
Schottland und Wales nach sich ziehen muß. Wie kann mau aber die not-
wendigsten Reformen durchführen. wenn man einer liberalen Doktrin zuliebe
das Land in Stücke schneidet; wie will man die Stellung einer Großmacht
behaupten, wie sie zur Aufrechterhaltung der britischen Welthandclspolitik un¬
bedingt notwendig ist, wenn man daran arbeitet, daheim das Reich in eine
Art von deutschem Bund aufzulösen? Freilich, Reden dafür und dagegen zu
halten mag geeigneter sein, eine zur Übernahme der Negierung notwendige
Mehrheit zusammenzuhalten oder zusammenzubringen, als die unpopuläre For¬
derung einer Heeresreform, die dem „freien" Sohne Albions persönliche Pflichten
auferlegen würde, die er bisher verabscheute. Die Kosten dafür — die ein¬
maligen ersten Ausrüstungskosten abgerechnet — würden nicht ins Gewicht fallen,
da das gegenwärtige englische Hecresbudget dem deutschen wenig nachsteht.

Nachdem alle Mächte des europäischen Festlandes ihre Heereskraft auf
die höchste Stufe der Entwicklung gebracht haben, ist die Zeit unwiederbringlich
dahin, wo England, im Schlafrock sitzend und hinter dem Pulte jobbernd, mit
einer Handvoll bezahlter Soldaten und einigen Häuflein etwas ausgebildeter
Milizen, mit unzureichend bewaffneten Plätzen und einem durch parlamentarische
Knauserei und unfähige Verwaltung heruutergckvmmnen Heer- und Marine¬
wesen eine Rolle in Enropa spielen konnte. Auch jener Politik ist die Spitze
abgebrochen, die darauf hinauslief, Mißtrauen zu säen und europäische Kon¬
flikte zu schüren, sich aber gänzlich zurückzuhalten, wenn wirklich ein Krieg
ausbrach. .Konflikte stehen heutzutage in Enropa nicht in Aussicht, auch ein
erneuter Ausbruch der überreizten nationalen Eitelkeit der Franzosen ist nicht
zu erwarten. Es liegt eine gewisse Wahrheit in dem Wort, daß durch das
„ungeschriebene" Bündnis zwischen Rußland und Frankreich das politische Gleich¬
gewicht in Europa wieder hergestellt worden sei. Jedenfalls ist ein ungefähres
militärisches Gleichgewicht vorhanden, das einen Kampf zwischen Dreibund und
Zweibund aussichtslos erscheinen läßt. Aber der Zweibuud besteht aus zwei
Staaten, in deren Bevölkerung ein Drängen nach außen, eine kriegerische
Strömung seit Jahren gepflegt worden ist, was sich seither als Haß gegen
Deutschland äußerte. Da ist doch die Frage am Platze: Was soll schließlich
aus diesem Haß werden, wenn ein Angriff auf Deutschland — also deu Drei¬
bund — keinen Erfolg verspricht? Wird mau versuchen, diesen Haß von oben
herab zu dämpfen? Wir glauben das nicht, denn ein solcher Versuch wäre sür
jede französische Regierung verderblich, und dem zarischen Regiment würden
daraus neue erbitterte Feinde erwachsen. Es bleibt darum nur übrig, deu
Haß abzulenken, und der Blitzableiter ist schon gefunden: er heißt England.
Wer die kaum zweijährige Geschichte des Zweibuudes verfolgt hat, wird diese
Schlußfolgerung bestätigt finden. Man Hütte doch nach Kronstäbe erwarten
sollen, daß uun ein gemeinsamer politischer Feldzug Frankreichs und Rußlands


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[0168] Europa und England Irland, die doch mit zwingender Notwendigkeit die gleiche Einrichtung für Schottland und Wales nach sich ziehen muß. Wie kann mau aber die not- wendigsten Reformen durchführen. wenn man einer liberalen Doktrin zuliebe das Land in Stücke schneidet; wie will man die Stellung einer Großmacht behaupten, wie sie zur Aufrechterhaltung der britischen Welthandclspolitik un¬ bedingt notwendig ist, wenn man daran arbeitet, daheim das Reich in eine Art von deutschem Bund aufzulösen? Freilich, Reden dafür und dagegen zu halten mag geeigneter sein, eine zur Übernahme der Negierung notwendige Mehrheit zusammenzuhalten oder zusammenzubringen, als die unpopuläre For¬ derung einer Heeresreform, die dem „freien" Sohne Albions persönliche Pflichten auferlegen würde, die er bisher verabscheute. Die Kosten dafür — die ein¬ maligen ersten Ausrüstungskosten abgerechnet — würden nicht ins Gewicht fallen, da das gegenwärtige englische Hecresbudget dem deutschen wenig nachsteht. Nachdem alle Mächte des europäischen Festlandes ihre Heereskraft auf die höchste Stufe der Entwicklung gebracht haben, ist die Zeit unwiederbringlich dahin, wo England, im Schlafrock sitzend und hinter dem Pulte jobbernd, mit einer Handvoll bezahlter Soldaten und einigen Häuflein etwas ausgebildeter Milizen, mit unzureichend bewaffneten Plätzen und einem durch parlamentarische Knauserei und unfähige Verwaltung heruutergckvmmnen Heer- und Marine¬ wesen eine Rolle in Enropa spielen konnte. Auch jener Politik ist die Spitze abgebrochen, die darauf hinauslief, Mißtrauen zu säen und europäische Kon¬ flikte zu schüren, sich aber gänzlich zurückzuhalten, wenn wirklich ein Krieg ausbrach. .Konflikte stehen heutzutage in Enropa nicht in Aussicht, auch ein erneuter Ausbruch der überreizten nationalen Eitelkeit der Franzosen ist nicht zu erwarten. Es liegt eine gewisse Wahrheit in dem Wort, daß durch das „ungeschriebene" Bündnis zwischen Rußland und Frankreich das politische Gleich¬ gewicht in Europa wieder hergestellt worden sei. Jedenfalls ist ein ungefähres militärisches Gleichgewicht vorhanden, das einen Kampf zwischen Dreibund und Zweibund aussichtslos erscheinen läßt. Aber der Zweibuud besteht aus zwei Staaten, in deren Bevölkerung ein Drängen nach außen, eine kriegerische Strömung seit Jahren gepflegt worden ist, was sich seither als Haß gegen Deutschland äußerte. Da ist doch die Frage am Platze: Was soll schließlich aus diesem Haß werden, wenn ein Angriff auf Deutschland — also deu Drei¬ bund — keinen Erfolg verspricht? Wird mau versuchen, diesen Haß von oben herab zu dämpfen? Wir glauben das nicht, denn ein solcher Versuch wäre sür jede französische Regierung verderblich, und dem zarischen Regiment würden daraus neue erbitterte Feinde erwachsen. Es bleibt darum nur übrig, deu Haß abzulenken, und der Blitzableiter ist schon gefunden: er heißt England. Wer die kaum zweijährige Geschichte des Zweibuudes verfolgt hat, wird diese Schlußfolgerung bestätigt finden. Man Hütte doch nach Kronstäbe erwarten sollen, daß uun ein gemeinsamer politischer Feldzug Frankreichs und Rußlands

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/168>, abgerufen am 25.07.2024.