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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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dann aus diesen regelmäßig von einer großen Anzahl von Dampfern belebten
Häfen in einer einzigen Nacht nach England übergesetzt werden könnten. Ob
die Engländer eine solche überraschende Landung zu hindern vermöchten, er¬
scheint zweifelhaft, da sie schwerlich Zeit zu ausreichenden Gegenmaßregeln
finden würden. Frankreich hatte bei der großen Flottenmobilisirung 1891 in
Toulon seine Mittelmeerflotte in vierundzwanzig Stunden seefertig, und nach
weiter" vierundzwanzig Stunden auch die Reservedivisivn. Obgleich die starke
Panzerdivision des Kanalgcschwaders unter Admiral Gervais nach Kronstäbe
abgesandt worden war, blieben in Frankreich doch noch gegen hundert Schiffe
mobilisirt, waren sechs Wochen in Gefechtsbereitschaft in See und befanden
sich während dieser Zeit im besten Stande. Dergleichen ist in England ein¬
fach nicht möglich, denn dort geht bei dem herrschenden Mobilisirungssystem
sehr viel kostbare Zeit verloren, die ein kriegsbereiter Angreifer sich zu Nutze
machen könnte, um drüben zu landen. Dabei würden die französischen Panzer¬
schiffe einen Gegner bilden, dem die englischen kaum gewachsen sein dürsten,
da sie schwerlich sofort sämtlich auf dein Platze und hinreichend bemannt und
bestückt sein können. Pessimistische Engländer haben sogar die Befürchtung
ausgesprochen, daß die Franzosen imstande sein würden, ungehindert die un¬
befestigten Arsenale von Wvolwich zu nehmen. Dort lagert aber alles Ma¬
terial für die Feldarmee; gelänge es dem Angreifer, sich mit schnellem Schlage
in den Besitz des unbefestigten Ortes zu setzen, der uur neunzig Kilometer von
der Südküste entfernt ist, so wäre die Mobilmachung der englischen Armee
ganz unmöglich, da kein zweites Arsenal, keine zweite ähnliche Anstalt vor¬
handen ist. Dann würde das Schicksal Englands in wenigen Tagen ent¬
schieden sein. Vor der Hand ist allerdings die Lage noch nicht der Art, daß
an solche Ereignisse in der nächsten Zukunft zu denken wäre. Uns lag nur
darau, zu zeigen, daß ein französischer Einfall in England wirklich ausführbar
ist, jedenfalls leichter und erfolgversprechender als ein Nevancheangriff auf
Deutschland, und zwar würde er um so eher Aussicht auf Gelingen haben,
wenn Frankreich einen Zeitpunkt abpaßte, wo England durch überseeische Ver¬
wicklungen -- etwa in Indien oder Ägypten -- genötigt gewesen wäre, den
Hauptteil seines stehenden Heeres dahin abgehen zu lassen.

An diesem Punkte scheint es nötig, einen Blick auf die englische Land-
bewafsnung zu werfen. Ein Heerwesen, eine dem Volkstum angepaßte Heeres¬
ordnung hat England immer noch nicht. Es hat nur über ein stehendes Heer
zu verfügen, das sich aus augeworbnen Söldnern zusammensetzt. Daneben
bestehen einige zwar volkstümliche, aber völlig unkriegerische Einrichtungen,
die Miliz und die Vvluuteers. Wenn man, wie es viele Engländer thun,
alles zusammenrechnet, so könnte allerdings Großbritannien mit seinen gesamten
Kolonie" ungefähr 8000V0 Mann auf die Beine bringen, und das wäre, nach
europäischen Hecresverhältnissen bemessen, wenig genug, aber ein warmer


dann aus diesen regelmäßig von einer großen Anzahl von Dampfern belebten
Häfen in einer einzigen Nacht nach England übergesetzt werden könnten. Ob
die Engländer eine solche überraschende Landung zu hindern vermöchten, er¬
scheint zweifelhaft, da sie schwerlich Zeit zu ausreichenden Gegenmaßregeln
finden würden. Frankreich hatte bei der großen Flottenmobilisirung 1891 in
Toulon seine Mittelmeerflotte in vierundzwanzig Stunden seefertig, und nach
weiter» vierundzwanzig Stunden auch die Reservedivisivn. Obgleich die starke
Panzerdivision des Kanalgcschwaders unter Admiral Gervais nach Kronstäbe
abgesandt worden war, blieben in Frankreich doch noch gegen hundert Schiffe
mobilisirt, waren sechs Wochen in Gefechtsbereitschaft in See und befanden
sich während dieser Zeit im besten Stande. Dergleichen ist in England ein¬
fach nicht möglich, denn dort geht bei dem herrschenden Mobilisirungssystem
sehr viel kostbare Zeit verloren, die ein kriegsbereiter Angreifer sich zu Nutze
machen könnte, um drüben zu landen. Dabei würden die französischen Panzer¬
schiffe einen Gegner bilden, dem die englischen kaum gewachsen sein dürsten,
da sie schwerlich sofort sämtlich auf dein Platze und hinreichend bemannt und
bestückt sein können. Pessimistische Engländer haben sogar die Befürchtung
ausgesprochen, daß die Franzosen imstande sein würden, ungehindert die un¬
befestigten Arsenale von Wvolwich zu nehmen. Dort lagert aber alles Ma¬
terial für die Feldarmee; gelänge es dem Angreifer, sich mit schnellem Schlage
in den Besitz des unbefestigten Ortes zu setzen, der uur neunzig Kilometer von
der Südküste entfernt ist, so wäre die Mobilmachung der englischen Armee
ganz unmöglich, da kein zweites Arsenal, keine zweite ähnliche Anstalt vor¬
handen ist. Dann würde das Schicksal Englands in wenigen Tagen ent¬
schieden sein. Vor der Hand ist allerdings die Lage noch nicht der Art, daß
an solche Ereignisse in der nächsten Zukunft zu denken wäre. Uns lag nur
darau, zu zeigen, daß ein französischer Einfall in England wirklich ausführbar
ist, jedenfalls leichter und erfolgversprechender als ein Nevancheangriff auf
Deutschland, und zwar würde er um so eher Aussicht auf Gelingen haben,
wenn Frankreich einen Zeitpunkt abpaßte, wo England durch überseeische Ver¬
wicklungen — etwa in Indien oder Ägypten — genötigt gewesen wäre, den
Hauptteil seines stehenden Heeres dahin abgehen zu lassen.

An diesem Punkte scheint es nötig, einen Blick auf die englische Land-
bewafsnung zu werfen. Ein Heerwesen, eine dem Volkstum angepaßte Heeres¬
ordnung hat England immer noch nicht. Es hat nur über ein stehendes Heer
zu verfügen, das sich aus augeworbnen Söldnern zusammensetzt. Daneben
bestehen einige zwar volkstümliche, aber völlig unkriegerische Einrichtungen,
die Miliz und die Vvluuteers. Wenn man, wie es viele Engländer thun,
alles zusammenrechnet, so könnte allerdings Großbritannien mit seinen gesamten
Kolonie» ungefähr 8000V0 Mann auf die Beine bringen, und das wäre, nach
europäischen Hecresverhältnissen bemessen, wenig genug, aber ein warmer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/164>, abgerufen am 24.07.2024.