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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Europa und Lugland

Gegenwärtig läßt sich die Unzulänglichkeit und Schwäche der englischen
Marine nicht länger bestreiten. Es ist dabei gar nicht nötig, sich dnrch die
äußerst ungünstige" Kritiken, wie sie Admiral Sir Thomas Symvnds von Zeit
zu Zeit in die Welt zu setzen pflegt, zu eiuer allzu nachteiligen Ansicht verleiten
zu lassen. Man nennt mit guter Berechtigung in England die alten Admiräle
und Generale, die über den schlechten Zustand der Flotte und Armee ihre
Klagelieder ertönen lassen, c>I"l oro-rlisrs, alte Krächzer. Aber in neuerer Zeit
beteilige" sich auch jüngere Offiziere um dieser Arbeit, und daß es mit der
englischen Seemacht lange nicht mehr so glänzend bestellt ist wie vor Zeiten,
hat Lord Veresford und mit ihm noch mancher andre, namentlich der Glad-
stoneaner Sir Charles Dilke, öffentlich besprochen, um die Regierung zu warnen.
Selbst der Admiralitätsbericht von 18'."0 sagt: "Im Jahre 1807 hatten wir
206 Schlachtschiffe gegen Europas 180, von denen nur 60 französische waren.
1894 werden wir nur 77 sogenannte "wirkliche Schlachtschiffe" haben, die eine
ungleiche Masse gegen Europas 25>8 und Frankreichs 60 bilden."

Doch wir wollen hier keine Zahlen über Schiffe, Tonnengehalt, Ge¬
schütze u.s.w. aufführen. Jedermann weiß, daß die britische Kriegsmarine,
wie die Handelsflotte, jeder einzelnen Flotte der übrigen Mächte überlegen ist.
Es handelt sich nur darum, wie viel England im "Ernstfalle" schlagfertig bei¬
sammen zu haben vermag. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß die englische
Flotte beständig auf zehn Stationen über alle Meere verteilt ist; von diesen
sind im Falle eines Krieges nnr wenige aufzulösen nud ihre Schiffe, schon
der Entfernung halber, nnr teilweise heranzuziehen. Außerdem verdienen noch
andre Umstände Beachtung. Erst seit 1887 hat England wirkliche Manöver
zur See, die eine" wirklichen Feind ainiehine" "ut nicht bloß taktische, sonder"
auch strategische Aufgaben zu lösen habe". Diese lieferten überraschende Er¬
gebnisse. Schon im Jahre 1887 wurde klar, daß auch ein der Zahl nach ge¬
ringerer Gegner, während die englische Flotte den Kanal beherrschte, imstande
war, die Themsemündnng zu foreire" und London zu bedrohen. Das fol¬
gende Jahr enttäuschte die in England allgemein geteilte Annahme, daß eine
überlegne englische Flotte imstande sei, die feindliche in ihre" Kriegshäfe" z"
blockire", sie am Auslaufen und an Landnngsversnchen i" England zu hindern
"ut selbst die See zu beherrschen, damit der Handel geschützt bleibe. Der
kürzlich mit der "Viktoria" verunglückte Admiral Trhon hatte als Kommandeur
eines der feindlichen Geschwader schließlich die Blockade durchbrochen und in
den Hafenstädten Edinburgh, Newcastle, Grimsbh u.s.w. die Kleinigkeit von
4'/-, Millionen Pfund Sterling als Kontribution erpreßt. Sei" Kollege hatte
ähnliches geleistet, ""d die blvckireilde" Geschwader hatte" nichts besseres thun
können, als schleunigst London z" decke". Erbittert darüber schrieb damals
ein englisches Marinefachblatt: "Die englische Flotte ist ihrer Aufgabe nicht
gewachsen. Das gilt ebenso für das Personal wie für das Material. Das Per-


Europa und Lugland

Gegenwärtig läßt sich die Unzulänglichkeit und Schwäche der englischen
Marine nicht länger bestreiten. Es ist dabei gar nicht nötig, sich dnrch die
äußerst ungünstige» Kritiken, wie sie Admiral Sir Thomas Symvnds von Zeit
zu Zeit in die Welt zu setzen pflegt, zu eiuer allzu nachteiligen Ansicht verleiten
zu lassen. Man nennt mit guter Berechtigung in England die alten Admiräle
und Generale, die über den schlechten Zustand der Flotte und Armee ihre
Klagelieder ertönen lassen, c>I«l oro-rlisrs, alte Krächzer. Aber in neuerer Zeit
beteilige» sich auch jüngere Offiziere um dieser Arbeit, und daß es mit der
englischen Seemacht lange nicht mehr so glänzend bestellt ist wie vor Zeiten,
hat Lord Veresford und mit ihm noch mancher andre, namentlich der Glad-
stoneaner Sir Charles Dilke, öffentlich besprochen, um die Regierung zu warnen.
Selbst der Admiralitätsbericht von 18'.»0 sagt: „Im Jahre 1807 hatten wir
206 Schlachtschiffe gegen Europas 180, von denen nur 60 französische waren.
1894 werden wir nur 77 sogenannte »wirkliche Schlachtschiffe« haben, die eine
ungleiche Masse gegen Europas 25>8 und Frankreichs 60 bilden."

Doch wir wollen hier keine Zahlen über Schiffe, Tonnengehalt, Ge¬
schütze u.s.w. aufführen. Jedermann weiß, daß die britische Kriegsmarine,
wie die Handelsflotte, jeder einzelnen Flotte der übrigen Mächte überlegen ist.
Es handelt sich nur darum, wie viel England im „Ernstfalle" schlagfertig bei¬
sammen zu haben vermag. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß die englische
Flotte beständig auf zehn Stationen über alle Meere verteilt ist; von diesen
sind im Falle eines Krieges nnr wenige aufzulösen nud ihre Schiffe, schon
der Entfernung halber, nnr teilweise heranzuziehen. Außerdem verdienen noch
andre Umstände Beachtung. Erst seit 1887 hat England wirkliche Manöver
zur See, die eine» wirklichen Feind ainiehine» »ut nicht bloß taktische, sonder»
auch strategische Aufgaben zu lösen habe». Diese lieferten überraschende Er¬
gebnisse. Schon im Jahre 1887 wurde klar, daß auch ein der Zahl nach ge¬
ringerer Gegner, während die englische Flotte den Kanal beherrschte, imstande
war, die Themsemündnng zu foreire» und London zu bedrohen. Das fol¬
gende Jahr enttäuschte die in England allgemein geteilte Annahme, daß eine
überlegne englische Flotte imstande sei, die feindliche in ihre» Kriegshäfe» z»
blockire», sie am Auslaufen und an Landnngsversnchen i» England zu hindern
»ut selbst die See zu beherrschen, damit der Handel geschützt bleibe. Der
kürzlich mit der „Viktoria" verunglückte Admiral Trhon hatte als Kommandeur
eines der feindlichen Geschwader schließlich die Blockade durchbrochen und in
den Hafenstädten Edinburgh, Newcastle, Grimsbh u.s.w. die Kleinigkeit von
4'/-, Millionen Pfund Sterling als Kontribution erpreßt. Sei» Kollege hatte
ähnliches geleistet, »»d die blvckireilde» Geschwader hatte» nichts besseres thun
können, als schleunigst London z» decke». Erbittert darüber schrieb damals
ein englisches Marinefachblatt: „Die englische Flotte ist ihrer Aufgabe nicht
gewachsen. Das gilt ebenso für das Personal wie für das Material. Das Per-


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[0159] Europa und Lugland Gegenwärtig läßt sich die Unzulänglichkeit und Schwäche der englischen Marine nicht länger bestreiten. Es ist dabei gar nicht nötig, sich dnrch die äußerst ungünstige» Kritiken, wie sie Admiral Sir Thomas Symvnds von Zeit zu Zeit in die Welt zu setzen pflegt, zu eiuer allzu nachteiligen Ansicht verleiten zu lassen. Man nennt mit guter Berechtigung in England die alten Admiräle und Generale, die über den schlechten Zustand der Flotte und Armee ihre Klagelieder ertönen lassen, c>I«l oro-rlisrs, alte Krächzer. Aber in neuerer Zeit beteilige» sich auch jüngere Offiziere um dieser Arbeit, und daß es mit der englischen Seemacht lange nicht mehr so glänzend bestellt ist wie vor Zeiten, hat Lord Veresford und mit ihm noch mancher andre, namentlich der Glad- stoneaner Sir Charles Dilke, öffentlich besprochen, um die Regierung zu warnen. Selbst der Admiralitätsbericht von 18'.»0 sagt: „Im Jahre 1807 hatten wir 206 Schlachtschiffe gegen Europas 180, von denen nur 60 französische waren. 1894 werden wir nur 77 sogenannte »wirkliche Schlachtschiffe« haben, die eine ungleiche Masse gegen Europas 25>8 und Frankreichs 60 bilden." Doch wir wollen hier keine Zahlen über Schiffe, Tonnengehalt, Ge¬ schütze u.s.w. aufführen. Jedermann weiß, daß die britische Kriegsmarine, wie die Handelsflotte, jeder einzelnen Flotte der übrigen Mächte überlegen ist. Es handelt sich nur darum, wie viel England im „Ernstfalle" schlagfertig bei¬ sammen zu haben vermag. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß die englische Flotte beständig auf zehn Stationen über alle Meere verteilt ist; von diesen sind im Falle eines Krieges nnr wenige aufzulösen nud ihre Schiffe, schon der Entfernung halber, nnr teilweise heranzuziehen. Außerdem verdienen noch andre Umstände Beachtung. Erst seit 1887 hat England wirkliche Manöver zur See, die eine» wirklichen Feind ainiehine» »ut nicht bloß taktische, sonder» auch strategische Aufgaben zu lösen habe». Diese lieferten überraschende Er¬ gebnisse. Schon im Jahre 1887 wurde klar, daß auch ein der Zahl nach ge¬ ringerer Gegner, während die englische Flotte den Kanal beherrschte, imstande war, die Themsemündnng zu foreire» und London zu bedrohen. Das fol¬ gende Jahr enttäuschte die in England allgemein geteilte Annahme, daß eine überlegne englische Flotte imstande sei, die feindliche in ihre» Kriegshäfe» z» blockire», sie am Auslaufen und an Landnngsversnchen i» England zu hindern »ut selbst die See zu beherrschen, damit der Handel geschützt bleibe. Der kürzlich mit der „Viktoria" verunglückte Admiral Trhon hatte als Kommandeur eines der feindlichen Geschwader schließlich die Blockade durchbrochen und in den Hafenstädten Edinburgh, Newcastle, Grimsbh u.s.w. die Kleinigkeit von 4'/-, Millionen Pfund Sterling als Kontribution erpreßt. Sei» Kollege hatte ähnliches geleistet, »»d die blvckireilde» Geschwader hatte» nichts besseres thun können, als schleunigst London z» decke». Erbittert darüber schrieb damals ein englisches Marinefachblatt: „Die englische Flotte ist ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Das gilt ebenso für das Personal wie für das Material. Das Per-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/159>, abgerufen am 24.07.2024.