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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Deutschland

Bewegung die Rückkehr zur "Natur" bezeichnete, so wollte das nicht gerade
viel sagen. Es ist schon öfter ausgeführt worden, daß Natur doch ein viel
zu allgemeiner, unklarer, schwankender Begriff sei, als daß mau das Wort
auf die Fahne einer litterarischen Partei schreiben könnte. Wer will in Zu¬
ständen, die das Produkt einer tausendjährigen Kulturentwicklung sind, noch das
Natürliche entdecken? Höchstens kann man an die moderne großstädtische
Kultur Maßstäbe anlegen, die einfachern Verhältnissen (wenn nicht von den
Wilden Rousseaus) entnommen oder aus geschichtliche" Studien abgeleitet
sind, und da vergleicht man doch immer Kultur mit Kultur. Unsre Jüngsten
haben einen etwas andern und bequemern Weg eingeschlagen, sie hielten nach
dem Vorgange Zolas unter dem Einfluß materialistischer Theorien das Na¬
türliche für eins mit dem Tierischen im Menschen und suchten vor allem die
Wirkung der Triebe darzustellen, alles Menschenwerk ans diese zurückzuführen.
Es ist nun nicht zu leugnen, daß die frühere Kunst das Menschentier im
gauzeu verleugnet hatte, daß Caliban für ihre Welt eigentlich kaum vorhanden
war: selbst feinere Psychologen behandelten ihre Helden oft als die reine Ver¬
nunft, und so war die realistische, die naturalistische Reaktion zunächst sicherlich
berechtigt. Das Stoffgebiet der Dichtung wurde also nach dieser Richtung
erweitert. Aber nun warf mau sich ausschließlich auf das neueroberte Gebiet,
und so entstand in der That, und zwar unter dem Vorgeben, man biete
wissenschaftliche Darstellungen, cloeumsnts IiuuiaiuL, etwas wie eine littmÄwrk
als pone se et<z saug-, die allen maßvollen, Reinheit und Reinlichkeit liebenden
Naturen Schrecken einflößen mußte. Wirkung durch den Stoff, je brutaler,
desto besser schien der leitende Grundsatz geworden zu sein, und was das
schlimmste war, neben den ehrlichen Leuten und verhältnismäßig gesunden
Naturen traten auch verlotterte Gesellen auf, die weiter nichts erstrebten, als
ein bestimmtes Publikum aufzuregen, und sich dabei uoch mit ihrer Frechheit
brüsteten. vvoaäsnczö, as sivolö! Nach und nach gewannen aber die
künstlerischen Tendenzen die Oberhand, und heute, kann man sagen, haben wir
Dichter und Schriftsteller, die peinliche Stoffe, wie sie das moderne Leben leider
genug bietet, auch in vornehmer Weise darstellen können. Ein erstrebens¬
wertes Ziel wird es nun sein, über die einseitige Bevorzugung der gro߬
städtischen und Fäulnismaterien hinauszukommen, neben der bot.6 liuiruüns
auch wieder einmal den lrouro sapiens ins Auge zu fassen, der doch einiges
geleistet hat auf dieser schönen Erde und es uuter Umständen zu einem leidlich
anständigen Wesen bringt. Und neben der Gegenwart soll auch der Ver¬
gangenheit ihr Recht gewahrt werden. Mögen das historische Drama, der
historische Roman (und fügen wir gleich hinzu: die Dorfgeschichte, das lyrische
Gedicht) tausendmal für tot erklärt werden, an und für sich sind sie es na¬
türlich nicht, es gilt nur, sie mit dem Geiste unsrer Zeit zu erfüllen. Namentlich
die Tragödie des alten "großen" Stils wird man auf die Dauer gar nicht


Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Deutschland

Bewegung die Rückkehr zur „Natur" bezeichnete, so wollte das nicht gerade
viel sagen. Es ist schon öfter ausgeführt worden, daß Natur doch ein viel
zu allgemeiner, unklarer, schwankender Begriff sei, als daß mau das Wort
auf die Fahne einer litterarischen Partei schreiben könnte. Wer will in Zu¬
ständen, die das Produkt einer tausendjährigen Kulturentwicklung sind, noch das
Natürliche entdecken? Höchstens kann man an die moderne großstädtische
Kultur Maßstäbe anlegen, die einfachern Verhältnissen (wenn nicht von den
Wilden Rousseaus) entnommen oder aus geschichtliche« Studien abgeleitet
sind, und da vergleicht man doch immer Kultur mit Kultur. Unsre Jüngsten
haben einen etwas andern und bequemern Weg eingeschlagen, sie hielten nach
dem Vorgange Zolas unter dem Einfluß materialistischer Theorien das Na¬
türliche für eins mit dem Tierischen im Menschen und suchten vor allem die
Wirkung der Triebe darzustellen, alles Menschenwerk ans diese zurückzuführen.
Es ist nun nicht zu leugnen, daß die frühere Kunst das Menschentier im
gauzeu verleugnet hatte, daß Caliban für ihre Welt eigentlich kaum vorhanden
war: selbst feinere Psychologen behandelten ihre Helden oft als die reine Ver¬
nunft, und so war die realistische, die naturalistische Reaktion zunächst sicherlich
berechtigt. Das Stoffgebiet der Dichtung wurde also nach dieser Richtung
erweitert. Aber nun warf mau sich ausschließlich auf das neueroberte Gebiet,
und so entstand in der That, und zwar unter dem Vorgeben, man biete
wissenschaftliche Darstellungen, cloeumsnts IiuuiaiuL, etwas wie eine littmÄwrk
als pone se et<z saug-, die allen maßvollen, Reinheit und Reinlichkeit liebenden
Naturen Schrecken einflößen mußte. Wirkung durch den Stoff, je brutaler,
desto besser schien der leitende Grundsatz geworden zu sein, und was das
schlimmste war, neben den ehrlichen Leuten und verhältnismäßig gesunden
Naturen traten auch verlotterte Gesellen auf, die weiter nichts erstrebten, als
ein bestimmtes Publikum aufzuregen, und sich dabei uoch mit ihrer Frechheit
brüsteten. vvoaäsnczö, as sivolö! Nach und nach gewannen aber die
künstlerischen Tendenzen die Oberhand, und heute, kann man sagen, haben wir
Dichter und Schriftsteller, die peinliche Stoffe, wie sie das moderne Leben leider
genug bietet, auch in vornehmer Weise darstellen können. Ein erstrebens¬
wertes Ziel wird es nun sein, über die einseitige Bevorzugung der gro߬
städtischen und Fäulnismaterien hinauszukommen, neben der bot.6 liuiruüns
auch wieder einmal den lrouro sapiens ins Auge zu fassen, der doch einiges
geleistet hat auf dieser schönen Erde und es uuter Umständen zu einem leidlich
anständigen Wesen bringt. Und neben der Gegenwart soll auch der Ver¬
gangenheit ihr Recht gewahrt werden. Mögen das historische Drama, der
historische Roman (und fügen wir gleich hinzu: die Dorfgeschichte, das lyrische
Gedicht) tausendmal für tot erklärt werden, an und für sich sind sie es na¬
türlich nicht, es gilt nur, sie mit dem Geiste unsrer Zeit zu erfüllen. Namentlich
die Tragödie des alten „großen" Stils wird man auf die Dauer gar nicht


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[0142] Die Ziele der gegenwärtigen Litteraturbewegung in Deutschland Bewegung die Rückkehr zur „Natur" bezeichnete, so wollte das nicht gerade viel sagen. Es ist schon öfter ausgeführt worden, daß Natur doch ein viel zu allgemeiner, unklarer, schwankender Begriff sei, als daß mau das Wort auf die Fahne einer litterarischen Partei schreiben könnte. Wer will in Zu¬ ständen, die das Produkt einer tausendjährigen Kulturentwicklung sind, noch das Natürliche entdecken? Höchstens kann man an die moderne großstädtische Kultur Maßstäbe anlegen, die einfachern Verhältnissen (wenn nicht von den Wilden Rousseaus) entnommen oder aus geschichtliche« Studien abgeleitet sind, und da vergleicht man doch immer Kultur mit Kultur. Unsre Jüngsten haben einen etwas andern und bequemern Weg eingeschlagen, sie hielten nach dem Vorgange Zolas unter dem Einfluß materialistischer Theorien das Na¬ türliche für eins mit dem Tierischen im Menschen und suchten vor allem die Wirkung der Triebe darzustellen, alles Menschenwerk ans diese zurückzuführen. Es ist nun nicht zu leugnen, daß die frühere Kunst das Menschentier im gauzeu verleugnet hatte, daß Caliban für ihre Welt eigentlich kaum vorhanden war: selbst feinere Psychologen behandelten ihre Helden oft als die reine Ver¬ nunft, und so war die realistische, die naturalistische Reaktion zunächst sicherlich berechtigt. Das Stoffgebiet der Dichtung wurde also nach dieser Richtung erweitert. Aber nun warf mau sich ausschließlich auf das neueroberte Gebiet, und so entstand in der That, und zwar unter dem Vorgeben, man biete wissenschaftliche Darstellungen, cloeumsnts IiuuiaiuL, etwas wie eine littmÄwrk als pone se et<z saug-, die allen maßvollen, Reinheit und Reinlichkeit liebenden Naturen Schrecken einflößen mußte. Wirkung durch den Stoff, je brutaler, desto besser schien der leitende Grundsatz geworden zu sein, und was das schlimmste war, neben den ehrlichen Leuten und verhältnismäßig gesunden Naturen traten auch verlotterte Gesellen auf, die weiter nichts erstrebten, als ein bestimmtes Publikum aufzuregen, und sich dabei uoch mit ihrer Frechheit brüsteten. vvoaäsnczö, as sivolö! Nach und nach gewannen aber die künstlerischen Tendenzen die Oberhand, und heute, kann man sagen, haben wir Dichter und Schriftsteller, die peinliche Stoffe, wie sie das moderne Leben leider genug bietet, auch in vornehmer Weise darstellen können. Ein erstrebens¬ wertes Ziel wird es nun sein, über die einseitige Bevorzugung der gro߬ städtischen und Fäulnismaterien hinauszukommen, neben der bot.6 liuiruüns auch wieder einmal den lrouro sapiens ins Auge zu fassen, der doch einiges geleistet hat auf dieser schönen Erde und es uuter Umständen zu einem leidlich anständigen Wesen bringt. Und neben der Gegenwart soll auch der Ver¬ gangenheit ihr Recht gewahrt werden. Mögen das historische Drama, der historische Roman (und fügen wir gleich hinzu: die Dorfgeschichte, das lyrische Gedicht) tausendmal für tot erklärt werden, an und für sich sind sie es na¬ türlich nicht, es gilt nur, sie mit dem Geiste unsrer Zeit zu erfüllen. Namentlich die Tragödie des alten „großen" Stils wird man auf die Dauer gar nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/142>, abgerufen am 22.07.2024.