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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Sprache der gerichtlichen Lntscheidmigen

dann auch als das erscheinen, was sie in Wahrheit sind- als die Arbeiten
einzelner mehr oder minder begabter Reichsgerichtsmitglieder, während sie jetzt
dadurch, daß sie in die Urteile hineingeschrieben werden, als Aussprüche des
"Reichsgerichts" gelten und scheinbar eine Bedeutung annehmen, die ihnen
in Wahrheit gar nicht zukommt. Dem übertriebnen Präjudizienkultus, der sich
vielfach an die Aussprüche des Reichsgerichts knüpft, scheint auch der Ver¬
fasser nicht das Wort reden zu wolle".

Der Verfasser erwähnt noch, daß der üble Satzbau, den manche Urteile
aufweisen, nicht selten durch Einschiebsel des Vorsitzenden oder durch Abände¬
rungen entstehe, die auf Beschluß des Kollegiums vorgenommen werden. Dann
sollten aber die Vorsitzenden auch dafür sorgen, daß ein solches Einschiebsel
oder eine Abänderung nicht mechanisch eingereiht, sondern vielmehr ein ent¬
sprechender Umbau des ganzen Satzes vorgenommen werde. Überhaupt müßten
die Vorsitzenden dagegen wirken, daß nicht solche Stilungeheuer, wie sie mit¬
unter zu Tage treten, unter dem Namen des Gerichts in die Welt gingen.
Freilich haben auch manche Vorsitzende dafür keinen Sinn, oder sie scheuen
sich, mit den Mitgliedern sich in Kämpfe einzulassen. Dein: es giebt eine
Menge Richter, die sich persönlich verletzt fühlen, wenn man an ihrer Fassung
irgend etwas auszusetzen hat. Als ich einst in meinem Kollegium die Ansicht
vertrat, daß ein nach einem gefaßten Beschluß von dem Referenten entworfnes
Urteil nochmals in Beziehung auf seine Fassung der Prüfung des Kollegiums
zu unterwerfen sei, trat mir ein Mitglied mit den Worten entgegen: "Man
wird doch dem Referenten das Vertrauen schenken, daß er die Gründe eines
Urteils richtig abzusetzen versteht."

Am Schlüsse der Schrift sagt der Verfasser selbst, daß er sich von seinen
Bestrebungen nicht viel Erfolg verspreche. Auch ich glaube, daß die Schrift,
so lesenswert sie auch ist, in der Hauptsache kaum einen größern Erfolg haben
wird, als des heiligen Antonius Fischpredigt.

Noch einiges über die Einzelheiten der Schrift. Der Verfasser verteidigt
die Bezeichnung eines vor Gericht gclndnen als "Beklagten" (im Gegensatz zu
"Verklagter"), weil in der ältern Rechtssprache beklagen so viel bedeutet habe,
wie verklagen. Es mag sein, daß er damit Recht hat. Aber ist es deshalb
auch heute noch ein angemessener Ausdruck? Man kann geschichtlich berech¬
tigte Ausdrücke in der Rechtssprache beibehalten und selbst wieder einführen,
wenn sie nicht zu dem modernen Begriffe des Wortes in Widerspruch treten.
So hat das seit dem Jahre 1872 wieder eingeführte Wort "Auflassung" keinen
Anstoß erregt und sich schnell eingebürgert. Hut aber ein Wort in der be¬
stehenden Sprache einen andern Sinn angenommen, dann sollte anch die
Juristensprache den veralteten Ausdruck, der nicht mehr verstanden wird, auf¬
geben. So ist es mit dem Worte "Beklagter"; im gewöhnlichen Leben ver¬
steht man unter "beklagen" hente nur noch soviel wie bedauern, bemitleiden.


Die Sprache der gerichtlichen Lntscheidmigen

dann auch als das erscheinen, was sie in Wahrheit sind- als die Arbeiten
einzelner mehr oder minder begabter Reichsgerichtsmitglieder, während sie jetzt
dadurch, daß sie in die Urteile hineingeschrieben werden, als Aussprüche des
„Reichsgerichts" gelten und scheinbar eine Bedeutung annehmen, die ihnen
in Wahrheit gar nicht zukommt. Dem übertriebnen Präjudizienkultus, der sich
vielfach an die Aussprüche des Reichsgerichts knüpft, scheint auch der Ver¬
fasser nicht das Wort reden zu wolle».

Der Verfasser erwähnt noch, daß der üble Satzbau, den manche Urteile
aufweisen, nicht selten durch Einschiebsel des Vorsitzenden oder durch Abände¬
rungen entstehe, die auf Beschluß des Kollegiums vorgenommen werden. Dann
sollten aber die Vorsitzenden auch dafür sorgen, daß ein solches Einschiebsel
oder eine Abänderung nicht mechanisch eingereiht, sondern vielmehr ein ent¬
sprechender Umbau des ganzen Satzes vorgenommen werde. Überhaupt müßten
die Vorsitzenden dagegen wirken, daß nicht solche Stilungeheuer, wie sie mit¬
unter zu Tage treten, unter dem Namen des Gerichts in die Welt gingen.
Freilich haben auch manche Vorsitzende dafür keinen Sinn, oder sie scheuen
sich, mit den Mitgliedern sich in Kämpfe einzulassen. Dein: es giebt eine
Menge Richter, die sich persönlich verletzt fühlen, wenn man an ihrer Fassung
irgend etwas auszusetzen hat. Als ich einst in meinem Kollegium die Ansicht
vertrat, daß ein nach einem gefaßten Beschluß von dem Referenten entworfnes
Urteil nochmals in Beziehung auf seine Fassung der Prüfung des Kollegiums
zu unterwerfen sei, trat mir ein Mitglied mit den Worten entgegen: „Man
wird doch dem Referenten das Vertrauen schenken, daß er die Gründe eines
Urteils richtig abzusetzen versteht."

Am Schlüsse der Schrift sagt der Verfasser selbst, daß er sich von seinen
Bestrebungen nicht viel Erfolg verspreche. Auch ich glaube, daß die Schrift,
so lesenswert sie auch ist, in der Hauptsache kaum einen größern Erfolg haben
wird, als des heiligen Antonius Fischpredigt.

Noch einiges über die Einzelheiten der Schrift. Der Verfasser verteidigt
die Bezeichnung eines vor Gericht gclndnen als „Beklagten" (im Gegensatz zu
„Verklagter"), weil in der ältern Rechtssprache beklagen so viel bedeutet habe,
wie verklagen. Es mag sein, daß er damit Recht hat. Aber ist es deshalb
auch heute noch ein angemessener Ausdruck? Man kann geschichtlich berech¬
tigte Ausdrücke in der Rechtssprache beibehalten und selbst wieder einführen,
wenn sie nicht zu dem modernen Begriffe des Wortes in Widerspruch treten.
So hat das seit dem Jahre 1872 wieder eingeführte Wort „Auflassung" keinen
Anstoß erregt und sich schnell eingebürgert. Hut aber ein Wort in der be¬
stehenden Sprache einen andern Sinn angenommen, dann sollte anch die
Juristensprache den veralteten Ausdruck, der nicht mehr verstanden wird, auf¬
geben. So ist es mit dem Worte „Beklagter"; im gewöhnlichen Leben ver¬
steht man unter „beklagen" hente nur noch soviel wie bedauern, bemitleiden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/130>, abgerufen am 04.07.2024.