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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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aber aus dem deutschen Nachwuchs in Amerika wird, das sehen wir am besten
in einer solchen Schule. Eine Stadt wie Kansns City hat eine ganze Anzahl
solcher Schulen, jede für etwa 250 bis 300 Kinder. Der Schulbesuch ist
obligatorisch und unentgeltlich in dem ganzen Gebiete der Vereinigten Staaten.
Selbst die Bücher werden vom Staate geliefert.

Man darf sich bei der Beurteilung der unfertigen Zustände der neuen
Welt, wo die Gegensätze so dicht beieinanderliegen, nicht verleiten lassen, das
Kind mit dem Bade auszuschütten und alles zu verwerfen. An manches darf
sich der gut erzogne, philologisch geschulte Deutsche eben nicht stoßen. Hier
giebt es die elegantesten Bänke neuester Bauart, aber auch die gemeinsten
Sprachfehler, die schönsten Landkarten, aber auch die gröbsten Schnitzer in
Ort und Zeit, und die hübschesten Lehrerinnen machen die ärgsten päda¬
gogischen Versehen: die Lehrerin schickt das Kind, dem sie vielleicht eben sür
eine Unart ein paar Klapse auf die Hand gegeben hat, über die Straße nach
Chokoladebonbons, wie um die Kleine zu versöhnen, obwohl diese recht gut
weiß, daß es streng verboten ist, während der Schulzeit auf die Straße zu
laufen.

Bei allem macht sich das Bestreben nach abgekürzten Verfahren geltend,
getreu dem Grundsätze: ^uns is nouv/. Trotzdem kann man nicht sagen,
daß daraus immer etwas verkehrtes entstehe. So bezweckt der Sprachunter¬
richt überall, nur lebende Sprachen so schnell als möglich leidlich (nicht schön)
sprechen zu lernen, um sich darin für den Anfang einigermaßen verständigen zu
können. Von den toten Sprachen werden nur die Wortwurzeln zum Ver¬
ständnis wissenschaftlicher Ausdrücke erklärt. Nicht die Sprachen, sondern
Rechnen und Naturlehre, wobei die Naturgesetze aus den physiologischen Bei¬
spielen des Anschauungsunterrichts genommen werden, erziehen zu logischem
Denken. Die sür den naturwissenschaftlichen Unterricht eingerichteten Schul-
süle waren ebenso reich an Bilderschmuck, Naturalien, Präparaten und Ge¬
rätschaften aller Art, wie die Süle für Geschichts- und Geographieunterricht.
Der Knabe durfte ruhig ut> mit dem Indikativ verbinden, wenn er nur
wußte, warum er das ausatmet, was die Pflanzen um ihn her einatmen,
und daß ihm kein Haar auf seinem Haupte gekrümmt werden kann ohne
natürliche Ursache. Die Belehrung über den menschlichen Körper und die
Schürfung der fünf Sinne beginnt in enehllopüdischem Unterricht schon früh
und gipfelt schließlich in der Kenntnis gewisser Gesetze, durch die all unser
Handeln bestimmt sein sollte von der Geburt bis zum Tode: der Naturgesetze.
Mit andrer Logik beschäftigt nun" sich nur so nebenher, um gewissen ver¬
alteten Schrullen doch auch Rechnung zu tragen. Man ist der Meinung,
das sei das kürzeste, denn wenn erst die altväterischen Gepflogenheiten
Europas überwunden sein würden, werde Logik und Naturgesetz doch das¬
selbe sein.


Grenzboten III 1893 77
Bilder aus dein Westen

aber aus dem deutschen Nachwuchs in Amerika wird, das sehen wir am besten
in einer solchen Schule. Eine Stadt wie Kansns City hat eine ganze Anzahl
solcher Schulen, jede für etwa 250 bis 300 Kinder. Der Schulbesuch ist
obligatorisch und unentgeltlich in dem ganzen Gebiete der Vereinigten Staaten.
Selbst die Bücher werden vom Staate geliefert.

Man darf sich bei der Beurteilung der unfertigen Zustände der neuen
Welt, wo die Gegensätze so dicht beieinanderliegen, nicht verleiten lassen, das
Kind mit dem Bade auszuschütten und alles zu verwerfen. An manches darf
sich der gut erzogne, philologisch geschulte Deutsche eben nicht stoßen. Hier
giebt es die elegantesten Bänke neuester Bauart, aber auch die gemeinsten
Sprachfehler, die schönsten Landkarten, aber auch die gröbsten Schnitzer in
Ort und Zeit, und die hübschesten Lehrerinnen machen die ärgsten päda¬
gogischen Versehen: die Lehrerin schickt das Kind, dem sie vielleicht eben sür
eine Unart ein paar Klapse auf die Hand gegeben hat, über die Straße nach
Chokoladebonbons, wie um die Kleine zu versöhnen, obwohl diese recht gut
weiß, daß es streng verboten ist, während der Schulzeit auf die Straße zu
laufen.

Bei allem macht sich das Bestreben nach abgekürzten Verfahren geltend,
getreu dem Grundsätze: ^uns is nouv/. Trotzdem kann man nicht sagen,
daß daraus immer etwas verkehrtes entstehe. So bezweckt der Sprachunter¬
richt überall, nur lebende Sprachen so schnell als möglich leidlich (nicht schön)
sprechen zu lernen, um sich darin für den Anfang einigermaßen verständigen zu
können. Von den toten Sprachen werden nur die Wortwurzeln zum Ver¬
ständnis wissenschaftlicher Ausdrücke erklärt. Nicht die Sprachen, sondern
Rechnen und Naturlehre, wobei die Naturgesetze aus den physiologischen Bei¬
spielen des Anschauungsunterrichts genommen werden, erziehen zu logischem
Denken. Die sür den naturwissenschaftlichen Unterricht eingerichteten Schul-
süle waren ebenso reich an Bilderschmuck, Naturalien, Präparaten und Ge¬
rätschaften aller Art, wie die Süle für Geschichts- und Geographieunterricht.
Der Knabe durfte ruhig ut> mit dem Indikativ verbinden, wenn er nur
wußte, warum er das ausatmet, was die Pflanzen um ihn her einatmen,
und daß ihm kein Haar auf seinem Haupte gekrümmt werden kann ohne
natürliche Ursache. Die Belehrung über den menschlichen Körper und die
Schürfung der fünf Sinne beginnt in enehllopüdischem Unterricht schon früh
und gipfelt schließlich in der Kenntnis gewisser Gesetze, durch die all unser
Handeln bestimmt sein sollte von der Geburt bis zum Tode: der Naturgesetze.
Mit andrer Logik beschäftigt nun« sich nur so nebenher, um gewissen ver¬
alteten Schrullen doch auch Rechnung zu tragen. Man ist der Meinung,
das sei das kürzeste, denn wenn erst die altväterischen Gepflogenheiten
Europas überwunden sein würden, werde Logik und Naturgesetz doch das¬
selbe sein.


Grenzboten III 1893 77
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[0617] Bilder aus dein Westen aber aus dem deutschen Nachwuchs in Amerika wird, das sehen wir am besten in einer solchen Schule. Eine Stadt wie Kansns City hat eine ganze Anzahl solcher Schulen, jede für etwa 250 bis 300 Kinder. Der Schulbesuch ist obligatorisch und unentgeltlich in dem ganzen Gebiete der Vereinigten Staaten. Selbst die Bücher werden vom Staate geliefert. Man darf sich bei der Beurteilung der unfertigen Zustände der neuen Welt, wo die Gegensätze so dicht beieinanderliegen, nicht verleiten lassen, das Kind mit dem Bade auszuschütten und alles zu verwerfen. An manches darf sich der gut erzogne, philologisch geschulte Deutsche eben nicht stoßen. Hier giebt es die elegantesten Bänke neuester Bauart, aber auch die gemeinsten Sprachfehler, die schönsten Landkarten, aber auch die gröbsten Schnitzer in Ort und Zeit, und die hübschesten Lehrerinnen machen die ärgsten päda¬ gogischen Versehen: die Lehrerin schickt das Kind, dem sie vielleicht eben sür eine Unart ein paar Klapse auf die Hand gegeben hat, über die Straße nach Chokoladebonbons, wie um die Kleine zu versöhnen, obwohl diese recht gut weiß, daß es streng verboten ist, während der Schulzeit auf die Straße zu laufen. Bei allem macht sich das Bestreben nach abgekürzten Verfahren geltend, getreu dem Grundsätze: ^uns is nouv/. Trotzdem kann man nicht sagen, daß daraus immer etwas verkehrtes entstehe. So bezweckt der Sprachunter¬ richt überall, nur lebende Sprachen so schnell als möglich leidlich (nicht schön) sprechen zu lernen, um sich darin für den Anfang einigermaßen verständigen zu können. Von den toten Sprachen werden nur die Wortwurzeln zum Ver¬ ständnis wissenschaftlicher Ausdrücke erklärt. Nicht die Sprachen, sondern Rechnen und Naturlehre, wobei die Naturgesetze aus den physiologischen Bei¬ spielen des Anschauungsunterrichts genommen werden, erziehen zu logischem Denken. Die sür den naturwissenschaftlichen Unterricht eingerichteten Schul- süle waren ebenso reich an Bilderschmuck, Naturalien, Präparaten und Ge¬ rätschaften aller Art, wie die Süle für Geschichts- und Geographieunterricht. Der Knabe durfte ruhig ut> mit dem Indikativ verbinden, wenn er nur wußte, warum er das ausatmet, was die Pflanzen um ihn her einatmen, und daß ihm kein Haar auf seinem Haupte gekrümmt werden kann ohne natürliche Ursache. Die Belehrung über den menschlichen Körper und die Schürfung der fünf Sinne beginnt in enehllopüdischem Unterricht schon früh und gipfelt schließlich in der Kenntnis gewisser Gesetze, durch die all unser Handeln bestimmt sein sollte von der Geburt bis zum Tode: der Naturgesetze. Mit andrer Logik beschäftigt nun« sich nur so nebenher, um gewissen ver¬ alteten Schrullen doch auch Rechnung zu tragen. Man ist der Meinung, das sei das kürzeste, denn wenn erst die altväterischen Gepflogenheiten Europas überwunden sein würden, werde Logik und Naturgesetz doch das¬ selbe sein. Grenzboten III 1893 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/617>, abgerufen am 27.11.2024.