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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Stunden empfunden haben mögen, niemals haben übermannen, sich niemals
ihre Heiterkeit dadurch haben trüben lassen. Aber indem Gott den Hellenen
diese Gemütsart verlieh, hat er allen spätern Geschlechtern eine unschätzbare
Wohlthat erwiesen. Glücksgefühl und Güte siud unzertrennlich von einander.
Leid bessert den Menschen nur, wenn es rasch vorübergeht, dauerndes Leid
verschlechtert fast immer den Charakter, und tiefes Schuldbewußtsein ist das
schlimmste Leid. Wo es sich einfrißt, da macht es Heiden wie Christen zu
Fanatikern und zu Teufeln. Man stelle sich vor, auch die Hellenen wären
vom Schuldbewußtsein und von der Furcht vor dem strafenden Zorne der
Gottheit übermannt worden! Sie hätten dieser zürnenden Gottheit entweder
wie die Semiten Kinder verbrannt oder gleich den Azteken Erwachsene ge¬
opfert unter so grausamen Martern, wie sie in den häßlichen Fratzenbildern
dieses zum Glück für die Menschheit wenigstens als Nation ausgerotteten
Volkes dargestellt werden, oder sie hätten alle Menschen, die nicht an Zeus
glauben wollten, gefoltert, verstümmelt und dann lebendig verbrannt, oder sie
Hütten, anstatt ihre fröhlichen Dionhsosfeste zu feiern, allwöchentlich einmal
mit Heulen und Zähneklappen eine siebenstündige Schilderung der Höllenstrafen
angehört. Sie würden dann entweder gar keine Skulpturen und Gemälde
hinterlassen haben, oder scheußliche Fratzen und Darstellungen von Marter¬
szenen, die den Geist verdüstern und zu wilder Grausamkeit entflammen. Um
wie viel tausend Scheusale und um wie viel Millionen Verbrechen würden
diese "Kunstwerke" die Masse des Bösen auf der Erde vermehrt haben! Wie
viel haben dagegen die uns vom Hellenenvolk wirklich hinterlassenen Kunst¬
denkmäler dazu beigetragen, das Fieber wilder Grausamkeit, dem die euro¬
päische Christenheit vou Zeit zu Zeit verfüllt, zu heilen, uns wieder menschen¬
freundlich, heiter und gut zu machen! Es ist doch etwas Großes, daß sich
unter den vielen tausend uns trotz aller Zerstöruugsarbeit barbarischer Jahr¬
hunderte erhaltenen bildlichen Darstellungen der hellenischen Kunst bis in die
Römerzeit hinein so äußerst wenige sich finden, die Mordszenen darstellen,
und -- so viel ich weiß -- gar keine Marterszenen;") Fratzen aber nur zum
Zweck der Komik. Der Geist, der aus alleu diesen in ihrem Charakter über¬
einstimmenden Bildern spricht, kann kein andrer als ein freundlicher Geist
gewesen sein, und ein freundlicher Geist ist niemals ein schlechter Geist, ge¬
schweige denn ein böser. Glückliche, an Leib und Seele vollkommne Menschen
zu schauen, war die höchste Freude der Hellenen, und diese Stimmung der
Seele ist unvereinbar mit der bewußten Absicht, Menschenglück zu zerstören,
also mit dem "positiv Bösen." Dem Griechen genügte ein Blick auf die
Eumeniden, um sich vom Bösen schaudernd abzuwenden; den christlichen
Fanatiker bezaubert der Anblick des Teufels, sodaß er sich mit seiner Phan-



Bei der Schindung des Marsyas nur die Vorbereitungen dazu.
Die ätherische Volksmoral im Drama

Stunden empfunden haben mögen, niemals haben übermannen, sich niemals
ihre Heiterkeit dadurch haben trüben lassen. Aber indem Gott den Hellenen
diese Gemütsart verlieh, hat er allen spätern Geschlechtern eine unschätzbare
Wohlthat erwiesen. Glücksgefühl und Güte siud unzertrennlich von einander.
Leid bessert den Menschen nur, wenn es rasch vorübergeht, dauerndes Leid
verschlechtert fast immer den Charakter, und tiefes Schuldbewußtsein ist das
schlimmste Leid. Wo es sich einfrißt, da macht es Heiden wie Christen zu
Fanatikern und zu Teufeln. Man stelle sich vor, auch die Hellenen wären
vom Schuldbewußtsein und von der Furcht vor dem strafenden Zorne der
Gottheit übermannt worden! Sie hätten dieser zürnenden Gottheit entweder
wie die Semiten Kinder verbrannt oder gleich den Azteken Erwachsene ge¬
opfert unter so grausamen Martern, wie sie in den häßlichen Fratzenbildern
dieses zum Glück für die Menschheit wenigstens als Nation ausgerotteten
Volkes dargestellt werden, oder sie hätten alle Menschen, die nicht an Zeus
glauben wollten, gefoltert, verstümmelt und dann lebendig verbrannt, oder sie
Hütten, anstatt ihre fröhlichen Dionhsosfeste zu feiern, allwöchentlich einmal
mit Heulen und Zähneklappen eine siebenstündige Schilderung der Höllenstrafen
angehört. Sie würden dann entweder gar keine Skulpturen und Gemälde
hinterlassen haben, oder scheußliche Fratzen und Darstellungen von Marter¬
szenen, die den Geist verdüstern und zu wilder Grausamkeit entflammen. Um
wie viel tausend Scheusale und um wie viel Millionen Verbrechen würden
diese „Kunstwerke" die Masse des Bösen auf der Erde vermehrt haben! Wie
viel haben dagegen die uns vom Hellenenvolk wirklich hinterlassenen Kunst¬
denkmäler dazu beigetragen, das Fieber wilder Grausamkeit, dem die euro¬
päische Christenheit vou Zeit zu Zeit verfüllt, zu heilen, uns wieder menschen¬
freundlich, heiter und gut zu machen! Es ist doch etwas Großes, daß sich
unter den vielen tausend uns trotz aller Zerstöruugsarbeit barbarischer Jahr¬
hunderte erhaltenen bildlichen Darstellungen der hellenischen Kunst bis in die
Römerzeit hinein so äußerst wenige sich finden, die Mordszenen darstellen,
und — so viel ich weiß — gar keine Marterszenen;") Fratzen aber nur zum
Zweck der Komik. Der Geist, der aus alleu diesen in ihrem Charakter über¬
einstimmenden Bildern spricht, kann kein andrer als ein freundlicher Geist
gewesen sein, und ein freundlicher Geist ist niemals ein schlechter Geist, ge¬
schweige denn ein böser. Glückliche, an Leib und Seele vollkommne Menschen
zu schauen, war die höchste Freude der Hellenen, und diese Stimmung der
Seele ist unvereinbar mit der bewußten Absicht, Menschenglück zu zerstören,
also mit dem „positiv Bösen." Dem Griechen genügte ein Blick auf die
Eumeniden, um sich vom Bösen schaudernd abzuwenden; den christlichen
Fanatiker bezaubert der Anblick des Teufels, sodaß er sich mit seiner Phan-



Bei der Schindung des Marsyas nur die Vorbereitungen dazu.
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[0606] Die ätherische Volksmoral im Drama Stunden empfunden haben mögen, niemals haben übermannen, sich niemals ihre Heiterkeit dadurch haben trüben lassen. Aber indem Gott den Hellenen diese Gemütsart verlieh, hat er allen spätern Geschlechtern eine unschätzbare Wohlthat erwiesen. Glücksgefühl und Güte siud unzertrennlich von einander. Leid bessert den Menschen nur, wenn es rasch vorübergeht, dauerndes Leid verschlechtert fast immer den Charakter, und tiefes Schuldbewußtsein ist das schlimmste Leid. Wo es sich einfrißt, da macht es Heiden wie Christen zu Fanatikern und zu Teufeln. Man stelle sich vor, auch die Hellenen wären vom Schuldbewußtsein und von der Furcht vor dem strafenden Zorne der Gottheit übermannt worden! Sie hätten dieser zürnenden Gottheit entweder wie die Semiten Kinder verbrannt oder gleich den Azteken Erwachsene ge¬ opfert unter so grausamen Martern, wie sie in den häßlichen Fratzenbildern dieses zum Glück für die Menschheit wenigstens als Nation ausgerotteten Volkes dargestellt werden, oder sie hätten alle Menschen, die nicht an Zeus glauben wollten, gefoltert, verstümmelt und dann lebendig verbrannt, oder sie Hütten, anstatt ihre fröhlichen Dionhsosfeste zu feiern, allwöchentlich einmal mit Heulen und Zähneklappen eine siebenstündige Schilderung der Höllenstrafen angehört. Sie würden dann entweder gar keine Skulpturen und Gemälde hinterlassen haben, oder scheußliche Fratzen und Darstellungen von Marter¬ szenen, die den Geist verdüstern und zu wilder Grausamkeit entflammen. Um wie viel tausend Scheusale und um wie viel Millionen Verbrechen würden diese „Kunstwerke" die Masse des Bösen auf der Erde vermehrt haben! Wie viel haben dagegen die uns vom Hellenenvolk wirklich hinterlassenen Kunst¬ denkmäler dazu beigetragen, das Fieber wilder Grausamkeit, dem die euro¬ päische Christenheit vou Zeit zu Zeit verfüllt, zu heilen, uns wieder menschen¬ freundlich, heiter und gut zu machen! Es ist doch etwas Großes, daß sich unter den vielen tausend uns trotz aller Zerstöruugsarbeit barbarischer Jahr¬ hunderte erhaltenen bildlichen Darstellungen der hellenischen Kunst bis in die Römerzeit hinein so äußerst wenige sich finden, die Mordszenen darstellen, und — so viel ich weiß — gar keine Marterszenen;") Fratzen aber nur zum Zweck der Komik. Der Geist, der aus alleu diesen in ihrem Charakter über¬ einstimmenden Bildern spricht, kann kein andrer als ein freundlicher Geist gewesen sein, und ein freundlicher Geist ist niemals ein schlechter Geist, ge¬ schweige denn ein böser. Glückliche, an Leib und Seele vollkommne Menschen zu schauen, war die höchste Freude der Hellenen, und diese Stimmung der Seele ist unvereinbar mit der bewußten Absicht, Menschenglück zu zerstören, also mit dem „positiv Bösen." Dem Griechen genügte ein Blick auf die Eumeniden, um sich vom Bösen schaudernd abzuwenden; den christlichen Fanatiker bezaubert der Anblick des Teufels, sodaß er sich mit seiner Phan- Bei der Schindung des Marsyas nur die Vorbereitungen dazu.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/606>, abgerufen am 27.11.2024.