Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die ätherische Volksmoral im Drama
6

ird nun gefragt, worin eigentlich der Unterschied zwischen der
althellenischer und der christlichen Volksmoral bestehe, so müssen
wir zunächst jene übernatürliche Tugend des wiedergebornen
Menschen, von der uns die Theologen in taufenden von Büchern
und Schriften so viel Schönes erzählen, von der man aber im
Leben so gar nichts spürt, beiseite lassen; sind wir doch schon froh, wenn es
die Leute, mit denen wir zu thun haben, an der gewöhnlichen Rechtschaffen-
heit nicht fehlen lassen, und hoch beglückt, wenn wir einen Edelsinn finden,
wie er auch so manchen Heiden geschmückt hat. Aber auch dem kann ich nicht
beistimmen, was Döllinger in dein mehrfach angeführten Werke über deu Unter¬
schied sagt: "Die Neigung der Menschen überhaupt, die sittliche Verantwort¬
lichkeit für ihre bösen Thaten von sich weg und ans eine außer ihnen befind¬
liche Macht zu schieben, war bei den Griechen nicht minder geschäftig als bei
andern Völkern; und so fehlt es denn nicht an Stellen, in denen die böse,
fluchwürdige That damit entschuldigt wird, daß der Trieb zur Begehung mit
unwiderstehlicher Gewalt vom Schicksal oder von den Göttern in die Seele
des Menschen gelegt worden sei." sind wir denn im Christentum auch nur
einen Schritt weiter gekommen? Sagt nicht Christas (Joh. 8) seineu Zuhörern,
sie hätten nicht Gott, sondern den Teufel zum Vater, dessen Gelüste in ihnen
lebten? Sagt er nicht (Joh. 17), er bitte nicht für die Welt, sondern nur für
die, die ihm der Vater gegeben habe, die zwar in der Welt lebten, aber nicht
von der Welt feien? Schreibt nicht Paulus (Rom. 9), Gott selbst habe den
Pharao verstockt, und Gott bereite die Gefäße des Zorns zur Verdammnis,
wie der Töpfer aus demselben Stoff nach Belieben Gefäße zur Ehre und Ge¬
fäße zur Unehre mache? Haben nicht die größten Theologen von Nngustinns
bis Calvin und Janscnius, auf solche Stellen gestützt, der schrecklichen Lehre
von der ewigen Vorherbestimmung der Mehrzahl aller Menschen zur ewigen
Verdammnis gehuldigt? Machen nicht die strengen Lutheraner der katholischen
Kirche noch heute deu Vorwurf, sie sei semipelagianisch, weil sie die Wahl¬
freiheit lehre, die Erlösung und Seligkeit von der freien Mitwirkung des
Menschen abhängig mache? Und ist diese katholische Lehre, so schön sie klingt,




Die ätherische Volksmoral im Drama
6

ird nun gefragt, worin eigentlich der Unterschied zwischen der
althellenischer und der christlichen Volksmoral bestehe, so müssen
wir zunächst jene übernatürliche Tugend des wiedergebornen
Menschen, von der uns die Theologen in taufenden von Büchern
und Schriften so viel Schönes erzählen, von der man aber im
Leben so gar nichts spürt, beiseite lassen; sind wir doch schon froh, wenn es
die Leute, mit denen wir zu thun haben, an der gewöhnlichen Rechtschaffen-
heit nicht fehlen lassen, und hoch beglückt, wenn wir einen Edelsinn finden,
wie er auch so manchen Heiden geschmückt hat. Aber auch dem kann ich nicht
beistimmen, was Döllinger in dein mehrfach angeführten Werke über deu Unter¬
schied sagt: „Die Neigung der Menschen überhaupt, die sittliche Verantwort¬
lichkeit für ihre bösen Thaten von sich weg und ans eine außer ihnen befind¬
liche Macht zu schieben, war bei den Griechen nicht minder geschäftig als bei
andern Völkern; und so fehlt es denn nicht an Stellen, in denen die böse,
fluchwürdige That damit entschuldigt wird, daß der Trieb zur Begehung mit
unwiderstehlicher Gewalt vom Schicksal oder von den Göttern in die Seele
des Menschen gelegt worden sei." sind wir denn im Christentum auch nur
einen Schritt weiter gekommen? Sagt nicht Christas (Joh. 8) seineu Zuhörern,
sie hätten nicht Gott, sondern den Teufel zum Vater, dessen Gelüste in ihnen
lebten? Sagt er nicht (Joh. 17), er bitte nicht für die Welt, sondern nur für
die, die ihm der Vater gegeben habe, die zwar in der Welt lebten, aber nicht
von der Welt feien? Schreibt nicht Paulus (Rom. 9), Gott selbst habe den
Pharao verstockt, und Gott bereite die Gefäße des Zorns zur Verdammnis,
wie der Töpfer aus demselben Stoff nach Belieben Gefäße zur Ehre und Ge¬
fäße zur Unehre mache? Haben nicht die größten Theologen von Nngustinns
bis Calvin und Janscnius, auf solche Stellen gestützt, der schrecklichen Lehre
von der ewigen Vorherbestimmung der Mehrzahl aller Menschen zur ewigen
Verdammnis gehuldigt? Machen nicht die strengen Lutheraner der katholischen
Kirche noch heute deu Vorwurf, sie sei semipelagianisch, weil sie die Wahl¬
freiheit lehre, die Erlösung und Seligkeit von der freien Mitwirkung des
Menschen abhängig mache? Und ist diese katholische Lehre, so schön sie klingt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0603" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215693"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341857_215089/figures/grenzboten_341857_215089_215693_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die ätherische Volksmoral im Drama<lb/>
6</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2049" next="#ID_2050"> ird nun gefragt, worin eigentlich der Unterschied zwischen der<lb/>
althellenischer und der christlichen Volksmoral bestehe, so müssen<lb/>
wir zunächst jene übernatürliche Tugend des wiedergebornen<lb/>
Menschen, von der uns die Theologen in taufenden von Büchern<lb/>
und Schriften so viel Schönes erzählen, von der man aber im<lb/>
Leben so gar nichts spürt, beiseite lassen; sind wir doch schon froh, wenn es<lb/>
die Leute, mit denen wir zu thun haben, an der gewöhnlichen Rechtschaffen-<lb/>
heit nicht fehlen lassen, und hoch beglückt, wenn wir einen Edelsinn finden,<lb/>
wie er auch so manchen Heiden geschmückt hat. Aber auch dem kann ich nicht<lb/>
beistimmen, was Döllinger in dein mehrfach angeführten Werke über deu Unter¬<lb/>
schied sagt: &#x201E;Die Neigung der Menschen überhaupt, die sittliche Verantwort¬<lb/>
lichkeit für ihre bösen Thaten von sich weg und ans eine außer ihnen befind¬<lb/>
liche Macht zu schieben, war bei den Griechen nicht minder geschäftig als bei<lb/>
andern Völkern; und so fehlt es denn nicht an Stellen, in denen die böse,<lb/>
fluchwürdige That damit entschuldigt wird, daß der Trieb zur Begehung mit<lb/>
unwiderstehlicher Gewalt vom Schicksal oder von den Göttern in die Seele<lb/>
des Menschen gelegt worden sei." sind wir denn im Christentum auch nur<lb/>
einen Schritt weiter gekommen? Sagt nicht Christas (Joh. 8) seineu Zuhörern,<lb/>
sie hätten nicht Gott, sondern den Teufel zum Vater, dessen Gelüste in ihnen<lb/>
lebten? Sagt er nicht (Joh. 17), er bitte nicht für die Welt, sondern nur für<lb/>
die, die ihm der Vater gegeben habe, die zwar in der Welt lebten, aber nicht<lb/>
von der Welt feien? Schreibt nicht Paulus (Rom. 9), Gott selbst habe den<lb/>
Pharao verstockt, und Gott bereite die Gefäße des Zorns zur Verdammnis,<lb/>
wie der Töpfer aus demselben Stoff nach Belieben Gefäße zur Ehre und Ge¬<lb/>
fäße zur Unehre mache? Haben nicht die größten Theologen von Nngustinns<lb/>
bis Calvin und Janscnius, auf solche Stellen gestützt, der schrecklichen Lehre<lb/>
von der ewigen Vorherbestimmung der Mehrzahl aller Menschen zur ewigen<lb/>
Verdammnis gehuldigt? Machen nicht die strengen Lutheraner der katholischen<lb/>
Kirche noch heute deu Vorwurf, sie sei semipelagianisch, weil sie die Wahl¬<lb/>
freiheit lehre, die Erlösung und Seligkeit von der freien Mitwirkung des<lb/>
Menschen abhängig mache? Und ist diese katholische Lehre, so schön sie klingt,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0603] [Abbildung] Die ätherische Volksmoral im Drama 6 ird nun gefragt, worin eigentlich der Unterschied zwischen der althellenischer und der christlichen Volksmoral bestehe, so müssen wir zunächst jene übernatürliche Tugend des wiedergebornen Menschen, von der uns die Theologen in taufenden von Büchern und Schriften so viel Schönes erzählen, von der man aber im Leben so gar nichts spürt, beiseite lassen; sind wir doch schon froh, wenn es die Leute, mit denen wir zu thun haben, an der gewöhnlichen Rechtschaffen- heit nicht fehlen lassen, und hoch beglückt, wenn wir einen Edelsinn finden, wie er auch so manchen Heiden geschmückt hat. Aber auch dem kann ich nicht beistimmen, was Döllinger in dein mehrfach angeführten Werke über deu Unter¬ schied sagt: „Die Neigung der Menschen überhaupt, die sittliche Verantwort¬ lichkeit für ihre bösen Thaten von sich weg und ans eine außer ihnen befind¬ liche Macht zu schieben, war bei den Griechen nicht minder geschäftig als bei andern Völkern; und so fehlt es denn nicht an Stellen, in denen die böse, fluchwürdige That damit entschuldigt wird, daß der Trieb zur Begehung mit unwiderstehlicher Gewalt vom Schicksal oder von den Göttern in die Seele des Menschen gelegt worden sei." sind wir denn im Christentum auch nur einen Schritt weiter gekommen? Sagt nicht Christas (Joh. 8) seineu Zuhörern, sie hätten nicht Gott, sondern den Teufel zum Vater, dessen Gelüste in ihnen lebten? Sagt er nicht (Joh. 17), er bitte nicht für die Welt, sondern nur für die, die ihm der Vater gegeben habe, die zwar in der Welt lebten, aber nicht von der Welt feien? Schreibt nicht Paulus (Rom. 9), Gott selbst habe den Pharao verstockt, und Gott bereite die Gefäße des Zorns zur Verdammnis, wie der Töpfer aus demselben Stoff nach Belieben Gefäße zur Ehre und Ge¬ fäße zur Unehre mache? Haben nicht die größten Theologen von Nngustinns bis Calvin und Janscnius, auf solche Stellen gestützt, der schrecklichen Lehre von der ewigen Vorherbestimmung der Mehrzahl aller Menschen zur ewigen Verdammnis gehuldigt? Machen nicht die strengen Lutheraner der katholischen Kirche noch heute deu Vorwurf, sie sei semipelagianisch, weil sie die Wahl¬ freiheit lehre, die Erlösung und Seligkeit von der freien Mitwirkung des Menschen abhängig mache? Und ist diese katholische Lehre, so schön sie klingt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/603
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/603>, abgerufen am 27.11.2024.