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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Anmerkungen zur Judenfrage

die Antisemiten mit Gewalt den Fehler noch einmal gemacht wissen, indem sie
die Regierung zu bewegen suchen, die bösen Juden durch ein Zwangsgesetz in
Märtyrer zu verwandeln. Denn etwas andres würde man durch ein solches
Gesetz nicht erreichen, als daß man die Juden widerstandsfähiger machte.
Daß sich die Juden nach ihrer völligen Gleichstellung mit den andern Staats¬
bürgern einer zügellosen Jagd nach Erwerb und Genuß hingegeben haben, ist
die Krisis in der natürlichen Entwicklung, die man nicht unterdrücken kann,
sondern die man überwinden muß. Das will der Antisemitismus uicht ein¬
sehen, wie er sich denn allgemein durch einen starken Mangel an geschichtlichem
Blick auszeichnet. Man betrachte nur die Art, wie Dühring in seinem Buch
über die Juden den Spinoza aus allem Zusammenhang herausreißt und nun
in einer Weise charakterisirt, die man genau so gut auf mindestens ein Dutzend
Philosophen jener Zeit anwenden könnte, wenn man sie in den Augen der
Gegenwart mehr als billig herabsetzen wollte. So geberdet sich auch der rein
verneinende Antisemitismus, als Hütte es nie Juden gegeben, die unter ganz
andern Verhältnissen lebten als ihre modernen Rassen- oder Glaubensgenossen,
wie man sie nun bezeichnen will. Die geschichtliche Entwicklung der Juden¬
frage ist aber völlig klar zu übersehen. Der Aufklärung des achtzehnten Jahr¬
hunderts war es unleidlich, daß ein und derselbe Staat seine Bürger mit
zweierlei Maß messen wollte, und es wäre geradezu verwunderlich, wenn ein
so Heller Kopf wie Lessing diesen zeitgemäßen Gedanken nicht besonders klar
ausgesprochen und besonders scharf verfochten hätte. Ihn aber gar darum
schmähen, heißt ihm vorwerfen, daß er nicht hinter seiner Zeit zurückgeblieben
ist. Gerechter scheint es mir zu sein, wenn man vielmehr der Zeit den Vor-
wurf machte, sie habe ihre Aufgaben nicht erkannt. Hätte der König, der
jeden nach seiner Fayon wollte selig werden lassen, der auch gegen die Jesuiten
keine Ausnahmegesetze duldete, den Juden volle bürgerliche Freiheit gewährt,
wir hätten vielleicht jetzt keine Judenfrage mehr. Wenigstens möchte es dem
aufgeklärten Despotismus leichter gewesen sein, die Juden von Ausschreitungen
zurückzuhalten, als dem modernen Verfassungsstaat. Ist die Judenfrage heute
eigentlich schon ein Anachronismus, so kommt noch hinzu, daß die Staaten in
der Zwischenzeit in ihrer innern Entwicklung fortgeschritten sind von bloß
Polnischer Gemeinschaft zur einheitlichen Volksgemeinschaft, sodaß es der
modernen "Aufklärung," d. h. den treibenden Kräften unsrer Zeit unleidlich
erscheint, daß in einunddemselben Staate verschiedne Nationalitüten leben sollen.
Diesen Fortschritt der Entwicklung haben aber die Juden nicht wohl mitmachen
können, da sie ja während der ganzen Zeit unter Ausnahmegesetzen gestanden
haben und sich unmöglich schon für reines Volkstum begeistern konnten, wäh¬
rend sie noch kein reines Bürgertum genossen. Indes, das Drängen der
Volker nach nationaler Einheit über die politische hinaus ist eine Thatsache,
mit der sich auch die Juden abzufinden haben. Hier weiß nun der Antisemi-


Anmerkungen zur Judenfrage

die Antisemiten mit Gewalt den Fehler noch einmal gemacht wissen, indem sie
die Regierung zu bewegen suchen, die bösen Juden durch ein Zwangsgesetz in
Märtyrer zu verwandeln. Denn etwas andres würde man durch ein solches
Gesetz nicht erreichen, als daß man die Juden widerstandsfähiger machte.
Daß sich die Juden nach ihrer völligen Gleichstellung mit den andern Staats¬
bürgern einer zügellosen Jagd nach Erwerb und Genuß hingegeben haben, ist
die Krisis in der natürlichen Entwicklung, die man nicht unterdrücken kann,
sondern die man überwinden muß. Das will der Antisemitismus uicht ein¬
sehen, wie er sich denn allgemein durch einen starken Mangel an geschichtlichem
Blick auszeichnet. Man betrachte nur die Art, wie Dühring in seinem Buch
über die Juden den Spinoza aus allem Zusammenhang herausreißt und nun
in einer Weise charakterisirt, die man genau so gut auf mindestens ein Dutzend
Philosophen jener Zeit anwenden könnte, wenn man sie in den Augen der
Gegenwart mehr als billig herabsetzen wollte. So geberdet sich auch der rein
verneinende Antisemitismus, als Hütte es nie Juden gegeben, die unter ganz
andern Verhältnissen lebten als ihre modernen Rassen- oder Glaubensgenossen,
wie man sie nun bezeichnen will. Die geschichtliche Entwicklung der Juden¬
frage ist aber völlig klar zu übersehen. Der Aufklärung des achtzehnten Jahr¬
hunderts war es unleidlich, daß ein und derselbe Staat seine Bürger mit
zweierlei Maß messen wollte, und es wäre geradezu verwunderlich, wenn ein
so Heller Kopf wie Lessing diesen zeitgemäßen Gedanken nicht besonders klar
ausgesprochen und besonders scharf verfochten hätte. Ihn aber gar darum
schmähen, heißt ihm vorwerfen, daß er nicht hinter seiner Zeit zurückgeblieben
ist. Gerechter scheint es mir zu sein, wenn man vielmehr der Zeit den Vor-
wurf machte, sie habe ihre Aufgaben nicht erkannt. Hätte der König, der
jeden nach seiner Fayon wollte selig werden lassen, der auch gegen die Jesuiten
keine Ausnahmegesetze duldete, den Juden volle bürgerliche Freiheit gewährt,
wir hätten vielleicht jetzt keine Judenfrage mehr. Wenigstens möchte es dem
aufgeklärten Despotismus leichter gewesen sein, die Juden von Ausschreitungen
zurückzuhalten, als dem modernen Verfassungsstaat. Ist die Judenfrage heute
eigentlich schon ein Anachronismus, so kommt noch hinzu, daß die Staaten in
der Zwischenzeit in ihrer innern Entwicklung fortgeschritten sind von bloß
Polnischer Gemeinschaft zur einheitlichen Volksgemeinschaft, sodaß es der
modernen „Aufklärung," d. h. den treibenden Kräften unsrer Zeit unleidlich
erscheint, daß in einunddemselben Staate verschiedne Nationalitüten leben sollen.
Diesen Fortschritt der Entwicklung haben aber die Juden nicht wohl mitmachen
können, da sie ja während der ganzen Zeit unter Ausnahmegesetzen gestanden
haben und sich unmöglich schon für reines Volkstum begeistern konnten, wäh¬
rend sie noch kein reines Bürgertum genossen. Indes, das Drängen der
Volker nach nationaler Einheit über die politische hinaus ist eine Thatsache,
mit der sich auch die Juden abzufinden haben. Hier weiß nun der Antisemi-


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[0587] Anmerkungen zur Judenfrage die Antisemiten mit Gewalt den Fehler noch einmal gemacht wissen, indem sie die Regierung zu bewegen suchen, die bösen Juden durch ein Zwangsgesetz in Märtyrer zu verwandeln. Denn etwas andres würde man durch ein solches Gesetz nicht erreichen, als daß man die Juden widerstandsfähiger machte. Daß sich die Juden nach ihrer völligen Gleichstellung mit den andern Staats¬ bürgern einer zügellosen Jagd nach Erwerb und Genuß hingegeben haben, ist die Krisis in der natürlichen Entwicklung, die man nicht unterdrücken kann, sondern die man überwinden muß. Das will der Antisemitismus uicht ein¬ sehen, wie er sich denn allgemein durch einen starken Mangel an geschichtlichem Blick auszeichnet. Man betrachte nur die Art, wie Dühring in seinem Buch über die Juden den Spinoza aus allem Zusammenhang herausreißt und nun in einer Weise charakterisirt, die man genau so gut auf mindestens ein Dutzend Philosophen jener Zeit anwenden könnte, wenn man sie in den Augen der Gegenwart mehr als billig herabsetzen wollte. So geberdet sich auch der rein verneinende Antisemitismus, als Hütte es nie Juden gegeben, die unter ganz andern Verhältnissen lebten als ihre modernen Rassen- oder Glaubensgenossen, wie man sie nun bezeichnen will. Die geschichtliche Entwicklung der Juden¬ frage ist aber völlig klar zu übersehen. Der Aufklärung des achtzehnten Jahr¬ hunderts war es unleidlich, daß ein und derselbe Staat seine Bürger mit zweierlei Maß messen wollte, und es wäre geradezu verwunderlich, wenn ein so Heller Kopf wie Lessing diesen zeitgemäßen Gedanken nicht besonders klar ausgesprochen und besonders scharf verfochten hätte. Ihn aber gar darum schmähen, heißt ihm vorwerfen, daß er nicht hinter seiner Zeit zurückgeblieben ist. Gerechter scheint es mir zu sein, wenn man vielmehr der Zeit den Vor- wurf machte, sie habe ihre Aufgaben nicht erkannt. Hätte der König, der jeden nach seiner Fayon wollte selig werden lassen, der auch gegen die Jesuiten keine Ausnahmegesetze duldete, den Juden volle bürgerliche Freiheit gewährt, wir hätten vielleicht jetzt keine Judenfrage mehr. Wenigstens möchte es dem aufgeklärten Despotismus leichter gewesen sein, die Juden von Ausschreitungen zurückzuhalten, als dem modernen Verfassungsstaat. Ist die Judenfrage heute eigentlich schon ein Anachronismus, so kommt noch hinzu, daß die Staaten in der Zwischenzeit in ihrer innern Entwicklung fortgeschritten sind von bloß Polnischer Gemeinschaft zur einheitlichen Volksgemeinschaft, sodaß es der modernen „Aufklärung," d. h. den treibenden Kräften unsrer Zeit unleidlich erscheint, daß in einunddemselben Staate verschiedne Nationalitüten leben sollen. Diesen Fortschritt der Entwicklung haben aber die Juden nicht wohl mitmachen können, da sie ja während der ganzen Zeit unter Ausnahmegesetzen gestanden haben und sich unmöglich schon für reines Volkstum begeistern konnten, wäh¬ rend sie noch kein reines Bürgertum genossen. Indes, das Drängen der Volker nach nationaler Einheit über die politische hinaus ist eine Thatsache, mit der sich auch die Juden abzufinden haben. Hier weiß nun der Antisemi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/587>, abgerufen am 28.07.2024.