Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Anmerkungen zur Judenfrage

s wäre thöricht, die Bedeutung der Judenfrage noch verkennen
zu wollen. Wenn eine Bewegung erst einen solchen Umfang
erreicht hat, so läßt sie sich nicht mehr mit schmückenden Bei¬
wörtern, wie inhuman oder kulturwidrig, abthun. Die Geschichte
der Sozialdemokratie sollte uns doch gelehrt haben, wie ge¬
fährlich es ist, die Triebkraft einer sozialen Bewegung deshalb zu unterschätzen,
weil die Leute, die am Steuer sitzen, manchmal nicht sehr schätzenswert sind. Die
Dvppelwcchl des Hanswursts Ahlwardt zeigt deutlich genug, wie sehr es an
der Zeit ist, daß mit den Quacksalbern und Charlatcmen aufgeräumt wird,
und daß an ihrer Stelle ernste Männer sich mit der Heilung der Gebrechen
unsrer Gesellschaft beschäftigen. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß das
noch nicht geschehen sei. Nur, scheint mir, hat man es zu oft übersehe", daß
die Lösung einer solchen Frage uicht uach einem akademischen Rezept durch¬
geführt werden kaun. Und wenn ich selbst hier einen bescheidnen Beitrag zu
ihrer Lösung zu liefern versuche, so möchte ich im voraus nachdrücklich be¬
tonen, daß ich doch nur über die Bedingungen, unter denen ich eine vollstän¬
dige Lösung erst für möglich halte, einige Anmerkungen zu machen be¬
absichtige.

Die Wege, die angeblich zur Lösung der Judenfrage führen sollen, gehen
nach zwei Richtungen aus einander. Die einen wollen den moralischen Übeln,
die hauptsächlich deu Juden anhaften und daher in erster Linie das Erwerbs¬
leben schädigen, in ganz allgemeiner Weise zu Leibe gehen, um nicht allein
die jüdischen, sondern auch die christlichen Schwindler zu treffen. Das ist
ohne Zweifel nicht allem zweckmäßig, sondern nachgerade notwendig geworden.
Nur darf man zweifeln, ob durch ein allgemeines schärferes Vorgehen gegen
deu Schwindelgeist die Judenfrage aus der Welt geschafft, vor allem ob da-


Grenzboten III 1893 73


Anmerkungen zur Judenfrage

s wäre thöricht, die Bedeutung der Judenfrage noch verkennen
zu wollen. Wenn eine Bewegung erst einen solchen Umfang
erreicht hat, so läßt sie sich nicht mehr mit schmückenden Bei¬
wörtern, wie inhuman oder kulturwidrig, abthun. Die Geschichte
der Sozialdemokratie sollte uns doch gelehrt haben, wie ge¬
fährlich es ist, die Triebkraft einer sozialen Bewegung deshalb zu unterschätzen,
weil die Leute, die am Steuer sitzen, manchmal nicht sehr schätzenswert sind. Die
Dvppelwcchl des Hanswursts Ahlwardt zeigt deutlich genug, wie sehr es an
der Zeit ist, daß mit den Quacksalbern und Charlatcmen aufgeräumt wird,
und daß an ihrer Stelle ernste Männer sich mit der Heilung der Gebrechen
unsrer Gesellschaft beschäftigen. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß das
noch nicht geschehen sei. Nur, scheint mir, hat man es zu oft übersehe«, daß
die Lösung einer solchen Frage uicht uach einem akademischen Rezept durch¬
geführt werden kaun. Und wenn ich selbst hier einen bescheidnen Beitrag zu
ihrer Lösung zu liefern versuche, so möchte ich im voraus nachdrücklich be¬
tonen, daß ich doch nur über die Bedingungen, unter denen ich eine vollstän¬
dige Lösung erst für möglich halte, einige Anmerkungen zu machen be¬
absichtige.

Die Wege, die angeblich zur Lösung der Judenfrage führen sollen, gehen
nach zwei Richtungen aus einander. Die einen wollen den moralischen Übeln,
die hauptsächlich deu Juden anhaften und daher in erster Linie das Erwerbs¬
leben schädigen, in ganz allgemeiner Weise zu Leibe gehen, um nicht allein
die jüdischen, sondern auch die christlichen Schwindler zu treffen. Das ist
ohne Zweifel nicht allem zweckmäßig, sondern nachgerade notwendig geworden.
Nur darf man zweifeln, ob durch ein allgemeines schärferes Vorgehen gegen
deu Schwindelgeist die Judenfrage aus der Welt geschafft, vor allem ob da-


Grenzboten III 1893 73
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0585" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215675"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341857_215089/figures/grenzboten_341857_215089_215675_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Anmerkungen zur Judenfrage</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2009"> s wäre thöricht, die Bedeutung der Judenfrage noch verkennen<lb/>
zu wollen. Wenn eine Bewegung erst einen solchen Umfang<lb/>
erreicht hat, so läßt sie sich nicht mehr mit schmückenden Bei¬<lb/>
wörtern, wie inhuman oder kulturwidrig, abthun. Die Geschichte<lb/>
der Sozialdemokratie sollte uns doch gelehrt haben, wie ge¬<lb/>
fährlich es ist, die Triebkraft einer sozialen Bewegung deshalb zu unterschätzen,<lb/>
weil die Leute, die am Steuer sitzen, manchmal nicht sehr schätzenswert sind. Die<lb/>
Dvppelwcchl des Hanswursts Ahlwardt zeigt deutlich genug, wie sehr es an<lb/>
der Zeit ist, daß mit den Quacksalbern und Charlatcmen aufgeräumt wird,<lb/>
und daß an ihrer Stelle ernste Männer sich mit der Heilung der Gebrechen<lb/>
unsrer Gesellschaft beschäftigen. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß das<lb/>
noch nicht geschehen sei. Nur, scheint mir, hat man es zu oft übersehe«, daß<lb/>
die Lösung einer solchen Frage uicht uach einem akademischen Rezept durch¬<lb/>
geführt werden kaun. Und wenn ich selbst hier einen bescheidnen Beitrag zu<lb/>
ihrer Lösung zu liefern versuche, so möchte ich im voraus nachdrücklich be¬<lb/>
tonen, daß ich doch nur über die Bedingungen, unter denen ich eine vollstän¬<lb/>
dige Lösung erst für möglich halte, einige Anmerkungen zu machen be¬<lb/>
absichtige.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2010" next="#ID_2011"> Die Wege, die angeblich zur Lösung der Judenfrage führen sollen, gehen<lb/>
nach zwei Richtungen aus einander. Die einen wollen den moralischen Übeln,<lb/>
die hauptsächlich deu Juden anhaften und daher in erster Linie das Erwerbs¬<lb/>
leben schädigen, in ganz allgemeiner Weise zu Leibe gehen, um nicht allein<lb/>
die jüdischen, sondern auch die christlichen Schwindler zu treffen. Das ist<lb/>
ohne Zweifel nicht allem zweckmäßig, sondern nachgerade notwendig geworden.<lb/>
Nur darf man zweifeln, ob durch ein allgemeines schärferes Vorgehen gegen<lb/>
deu Schwindelgeist die Judenfrage aus der Welt geschafft, vor allem ob da-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1893 73</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0585] [Abbildung] Anmerkungen zur Judenfrage s wäre thöricht, die Bedeutung der Judenfrage noch verkennen zu wollen. Wenn eine Bewegung erst einen solchen Umfang erreicht hat, so läßt sie sich nicht mehr mit schmückenden Bei¬ wörtern, wie inhuman oder kulturwidrig, abthun. Die Geschichte der Sozialdemokratie sollte uns doch gelehrt haben, wie ge¬ fährlich es ist, die Triebkraft einer sozialen Bewegung deshalb zu unterschätzen, weil die Leute, die am Steuer sitzen, manchmal nicht sehr schätzenswert sind. Die Dvppelwcchl des Hanswursts Ahlwardt zeigt deutlich genug, wie sehr es an der Zeit ist, daß mit den Quacksalbern und Charlatcmen aufgeräumt wird, und daß an ihrer Stelle ernste Männer sich mit der Heilung der Gebrechen unsrer Gesellschaft beschäftigen. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß das noch nicht geschehen sei. Nur, scheint mir, hat man es zu oft übersehe«, daß die Lösung einer solchen Frage uicht uach einem akademischen Rezept durch¬ geführt werden kaun. Und wenn ich selbst hier einen bescheidnen Beitrag zu ihrer Lösung zu liefern versuche, so möchte ich im voraus nachdrücklich be¬ tonen, daß ich doch nur über die Bedingungen, unter denen ich eine vollstän¬ dige Lösung erst für möglich halte, einige Anmerkungen zu machen be¬ absichtige. Die Wege, die angeblich zur Lösung der Judenfrage führen sollen, gehen nach zwei Richtungen aus einander. Die einen wollen den moralischen Übeln, die hauptsächlich deu Juden anhaften und daher in erster Linie das Erwerbs¬ leben schädigen, in ganz allgemeiner Weise zu Leibe gehen, um nicht allein die jüdischen, sondern auch die christlichen Schwindler zu treffen. Das ist ohne Zweifel nicht allem zweckmäßig, sondern nachgerade notwendig geworden. Nur darf man zweifeln, ob durch ein allgemeines schärferes Vorgehen gegen deu Schwindelgeist die Judenfrage aus der Welt geschafft, vor allem ob da- Grenzboten III 1893 73

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/585
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/585>, abgerufen am 27.11.2024.