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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Patriarchalische Beziehungen in der Großindustrie

dazu schätzbares Material. Der dort angewandten eigentümlichen Methode be¬
gegnen wir auch in diesem abschließenden zweiten Teile, der länger auf sich
hat warten lassen, als den Freunden des Buches erwünscht war. Dieser Band
ist inhaltlich darum bedeutender, weil er sich mit den erwachsenen Arbeitern
und der ihnen gewidmeten Fürsorge beschäftigt; sein Umfang übertrifft den
des ersten Teils um das Doppelte. In dem einleitenden Briefe an einen
Arbeitgeber giebt der Verfasser über seine Auffassung der sozialen Frage Aus¬
kunft, indem er hervorragenden Sozialpolitiken! das Wort läßt, ihnen die
Ansichten und Erfolge bewährter Männer der Praxis gegenüberstellt und uns
so gewissermaßen das Material an die Hand giebt, seine Ansichten auf ihre
Nichtigkeit hiu zu prüfen.

Der Verfasser sieht die Veranlassung zu den sozialen Mißständen
allerdings in der Entwicklung, die unsre Großindustrie genommen hat,
und er hält es für notwendig, auf Mittel und Wege zu sinnen, wie diese
Auswüchse beseitigt werden können, ohne die Großiudnstrie zu schädigen oder
gar lahm zu legen. Am meisten beklagt er das Schwinden persönlicher Be¬
ziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, dessen Folge völlige Ent¬
fremdung, ja stellenweise die Unfähigkeit ist, einander zu verstehen. In dieser
Entfremdung sieht er die Hauptursache der Unzufriedenheit; daß sie aber diesen
Umfang angenommen hat, kann mir durch beiderseitiges Verschulden erklärt
werden. Mag es schwer und nicht jedem gegeben sein, eine große Anzahl
von Menschen liebevoll zu übersehen und mit ihnen Beziehungen zu pflegen,
so rechtfertigt das doch nicht, so wie es manche thun, in den Arbeitern nur
eine Ergänzung der durch sie überwachten Maschinen zu sehen und sie durch
eine kalte, sozusagen unpersönliche Art der Behandlung zu verletzen. Aber
ebensowenig läßt sich die Gleichgiltigkeit vieler Arbeiter gegen das Gedeihen
des Ganzen, dem sie ihren Unterhalt verdanken, rechtfertigen und das völlige
Verkennen der Thatsache, daß ein Fabrikbetrieb doch noch etwas mehr bedeutet
als ein Mittel zur Gewinnung materieller Werte. Beiden Teilen ist in der
Mehrheit das Bewußtsein dessen abhanden gekommen, was der modernen Ein¬
richtung der Fabrik seine sittliche Daseinsberechtigung giebt, daß nämlich -- um
mit Göhre zu reden -- die modernsten und großartigsten Bildungen mensch¬
licher Gebens- und Arbeitsgemeinschaft zugleich bestimmt sind, allen darin
beschäftigten, hoch und niedrig, durch ihre Arbeitsbeteiiigung und Arbeits¬
leistung gleich günstige Gelegenheit zur freudigen Bethätigung ihrer geistigen
Fähigkeiten und einer harmonischen Ausbildung auch ihrer sittlichen Persönlichkeit
zu bieten. Es kann keine großen sozialen Organisationen geben ohne sittliche
Gemeinschaft der beteiligten. Doch bis wir zu diesem Ziele gelangen, "handelt
es sich um einen Kompromiß zwischen Herrschaftsverhältnissen und dem Ideal
der Gleichheit, um konventionelle Formen des Verkehrs, des Vertragsabschlusses,
der Disziplin, die das erwachende berechtigte Selbstbewußtsein der untern


Patriarchalische Beziehungen in der Großindustrie

dazu schätzbares Material. Der dort angewandten eigentümlichen Methode be¬
gegnen wir auch in diesem abschließenden zweiten Teile, der länger auf sich
hat warten lassen, als den Freunden des Buches erwünscht war. Dieser Band
ist inhaltlich darum bedeutender, weil er sich mit den erwachsenen Arbeitern
und der ihnen gewidmeten Fürsorge beschäftigt; sein Umfang übertrifft den
des ersten Teils um das Doppelte. In dem einleitenden Briefe an einen
Arbeitgeber giebt der Verfasser über seine Auffassung der sozialen Frage Aus¬
kunft, indem er hervorragenden Sozialpolitiken! das Wort läßt, ihnen die
Ansichten und Erfolge bewährter Männer der Praxis gegenüberstellt und uns
so gewissermaßen das Material an die Hand giebt, seine Ansichten auf ihre
Nichtigkeit hiu zu prüfen.

Der Verfasser sieht die Veranlassung zu den sozialen Mißständen
allerdings in der Entwicklung, die unsre Großindustrie genommen hat,
und er hält es für notwendig, auf Mittel und Wege zu sinnen, wie diese
Auswüchse beseitigt werden können, ohne die Großiudnstrie zu schädigen oder
gar lahm zu legen. Am meisten beklagt er das Schwinden persönlicher Be¬
ziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, dessen Folge völlige Ent¬
fremdung, ja stellenweise die Unfähigkeit ist, einander zu verstehen. In dieser
Entfremdung sieht er die Hauptursache der Unzufriedenheit; daß sie aber diesen
Umfang angenommen hat, kann mir durch beiderseitiges Verschulden erklärt
werden. Mag es schwer und nicht jedem gegeben sein, eine große Anzahl
von Menschen liebevoll zu übersehen und mit ihnen Beziehungen zu pflegen,
so rechtfertigt das doch nicht, so wie es manche thun, in den Arbeitern nur
eine Ergänzung der durch sie überwachten Maschinen zu sehen und sie durch
eine kalte, sozusagen unpersönliche Art der Behandlung zu verletzen. Aber
ebensowenig läßt sich die Gleichgiltigkeit vieler Arbeiter gegen das Gedeihen
des Ganzen, dem sie ihren Unterhalt verdanken, rechtfertigen und das völlige
Verkennen der Thatsache, daß ein Fabrikbetrieb doch noch etwas mehr bedeutet
als ein Mittel zur Gewinnung materieller Werte. Beiden Teilen ist in der
Mehrheit das Bewußtsein dessen abhanden gekommen, was der modernen Ein¬
richtung der Fabrik seine sittliche Daseinsberechtigung giebt, daß nämlich — um
mit Göhre zu reden — die modernsten und großartigsten Bildungen mensch¬
licher Gebens- und Arbeitsgemeinschaft zugleich bestimmt sind, allen darin
beschäftigten, hoch und niedrig, durch ihre Arbeitsbeteiiigung und Arbeits¬
leistung gleich günstige Gelegenheit zur freudigen Bethätigung ihrer geistigen
Fähigkeiten und einer harmonischen Ausbildung auch ihrer sittlichen Persönlichkeit
zu bieten. Es kann keine großen sozialen Organisationen geben ohne sittliche
Gemeinschaft der beteiligten. Doch bis wir zu diesem Ziele gelangen, „handelt
es sich um einen Kompromiß zwischen Herrschaftsverhältnissen und dem Ideal
der Gleichheit, um konventionelle Formen des Verkehrs, des Vertragsabschlusses,
der Disziplin, die das erwachende berechtigte Selbstbewußtsein der untern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/58>, abgerufen am 23.11.2024.